Die Pandemie als Stresstest
Digitale Infrastruktur am Standort Deutschland
Ein Kommentar von August-Wilhelm Scheer, Scheer Holding
Kurz & Bündig
Die vergangen eineinhalb Jahre der Pandemie zeigen wie durch ein Brennglas, wie weit Deutschland entfernt davon ist, technologische Möglichkeiten in der Breite sinnvoll zu implementieren. Dies gilt sowohl für Unternehmen als auch die öffentliche Verwaltung oder den Bereich des digitalen Lernens. Zielführende europäische Initiativen und Lernkurven aus der Pandemie sollten jetzt für die Gestaltung der digitalen Zukunft genutzt werden, meint Prof. August-Wilhelm Scheer.
Von Kopfschütteln bis Fassungslosigkeit und Zorn reichten die Reaktionen auf den 2016 veröffentlichten Bericht des Bundesrechnungshofes zur IT-Beschaffung der Bundesregierung: Das Bundesinnenministerium habe langfristig zwei Rechenzentren angemietet, die weitgehend ungenutzt blieben, darüber hinaus sei für das Ministerium teure Netzin-frastruktur eingekauft worden, die zum Teil jahrelang „originalverpackt“ herumstand. Die Ausführungen der Rechnungsprüfer richteten sich gegen das Management des Projektes „Netze des Bundes“, mit dem die Bundesregierung ihre IT-Infrastruktur vereinheitlichen und absichern wollte. Im Mittelpunkt der Kritik stand, es fehle der Verwaltung einerseits der Überblick über die bestehenden Rechenzentren, andererseits habe man IT-Geräte im Wert von 27 Millionen Euro beschafft, die weitgehend ungenutzt in den Behörden stünden.
2017 konnte dann neue Hoffnung auf die professionelle Weiterentwicklung der digitalen Infrastruktur aufkeimen, als die Spitzen der EU-Gremien in Rom den ersten „digitalen Tag“ veranstalteten. Regierungsmitglieder Deutschlands, Frankreichs, Italiens, Luxemburgs, der Niederlande, Portugals und Spaniens verpflichteten sich dazu, Europa im Hochleistungsrechnen an die Weltspitze zu bringen. Mit der Initiative, die den Projekten Airbus in den 1990ern und Galileo in den 2000er-Jahren nicht nachstehen sollte, planten sie, die Rechner- und Dateninfrastrukturen der nächsten Generation aufzubauen, eine Supercomputer-Infrastruktur mit einer vollen Exascale-Leistung sollte bis 2023 erreicht werden. So könnten dann riesige Datenvolumen verarbeitet und Tausende von Milliarden von Rechenoperationen pro Sekunde durchgeführt werden. Zudem veröffentlichte die Kommission einen neuen europäischen Plan, nach dem die Mitgliedsstaaten einen gemeinsamen Ansatz verfolgen sollten, um ihre öffentlichen Dienste online zugänglich zu machen und Bürokratie abzubauen.
Wie sieht die Situation heute, im Jahr 2021, aus? Am 7. Juni dieses Jahres ging tatsächlich der europäisch geförderte Supercomputer MeluXina in Luxemburg in Betrieb, weitere sollen folgen, das macht Mut. Auch erste Teilschritte beim GAIA-X Projekt zum Aufbau einer wettbewerbsfähigen und vertrauenswürdigen Dateninfrastruktur für Europa, die auf einer sicheren europäischen Cloud basiert, stimmen optimistisch.
Der Stand der Digitalisierung in der öffentlichen Verwaltung ist zumindest in Deutschland noch besorgniserregend, wenn nicht beschämend. Das Handling der Corona Pandemie, etwa durch die Gesundheitsämter, hat eklatante Defizite in der digitalen Infrastruktur mehr als deutlich aufgezeigt. Das gute alte Faxgerät erlebte eine Renaissance bei der Datenübermittlung. Über Monate war der Datenaustausch über die Grenzen eines Landkreises hinweg nicht möglich, weil ganz unterschiedliche Software zum Einsatz kam, mangelnde Schnittstellen machten eine Vernetzung unmöglich. Fehlende digitale Infrastruktur mit Blick auf Hard- und Software brachte auch den Schulbetrieb aus dem Tritt, Remote-Unterricht verlangte Improvisation, weil keine durchdachten Konzeptionen für digitales Lernen vorlagen. Obwohl z. B. am Markt Softwarelösungen für unterschiedliche Schultypen – wie etwa von der imc AG angeboten – längst verfügbar ist, wurde seitens der Länder auf schnell zusammengeschusterte und absturzgefährdete Lernplattformen gesetzt.
Überhaupt zeigen uns die vergangenen eineinhalb Jahre der Pandemie wie durch ein Brennglas, dass wir noch weit entfernt davon sind, die technologischen Möglichkeiten in der Breite sinnvoll zu implementieren und einzusetzen. Auch in Unternehmen traten Versäumnisse bei der Digitalisierung in Deutschland hervor. Unternehmen, die auf mobiles Arbeiten mit entsprechenden Geräten und Tools nicht vorbereitet waren, mussten improvisieren, um die Arbeitsfähigkeit ihrer Organisation zu erhalten. In der Konsequenz sind viele unzureichend gesicherte Privatrechner derzeit das Einfallstor Nummer eins für Cyber-Kriminelle. Daneben erleichtern offene Ports an Routern im Homeoffice ungeschützte Zugänge zum Firmenintranet, kurzfristig eingerichtete Ersatz-Server und frei zugängliche Videokonferenztools Kriminellen ihre Arbeit. Als weiteres Hindernis beim Remote-Arbeiten zeigt sich der schleppende Breitbandausbau. Das große Stadt-Land-Gefälle in der Telekommunikationsqualität macht sich beim Arbeiten im Homeoffice besonders bemerkbar. Spätestens jetzt sollten wir erkannt haben, dass der Ausbau von schnellen Netzinfrastrukturen mit Hochdruck weiter vorangetrieben werden muss.
Die aufgezeigten Defizite stellen zugleich eine Bedrohung für die Gestaltung der Zukunft dar: Alle demokratischen Parteien haben ehrgeizige Pläne zur Bekämpfung des Klimawandels in ihre Programme aufgenommen. Wie aber soll Strom aus verschiedenen erneuerbaren Energieträgern flächendeckend und sicher Industrie und Endverbraucher versorgen, wenn die digitale Vernetzung fehlt? Ebenso verlangen neue, ökologisch verträgliche Mobilitätskonzepte unabdingbar eine leistungsfähige digitale Infrastruktur, um nur zwei Beispiele zu nennen. Auch Dynamik und Wachstum unserer Wirtschaft hängen zwingend von einer ehrgeizigen Digitalisierungsstrategie ab, die z. B. flächendeckend den 5G Standard verfügbar macht.
Die Coronapandemie wurde zum ungeplanten Stresstest für unsere digitale Infrastruktur. Die Ergebnisse müssen wir jetzt nutzen, um Defizite systematisch und breit zu analysieren und mit innovativen Konzepten voranzuschreiten. Es geht weniger darum, neue Technologien zu erfinden, sondern um die Nutzung verfügbarer Lösungen und Anwendungen für zukunftsweisende Einsatzszenarien. „Made in Germany“ muss auch zur Marke für digitale Planungs- und Umsetzungskompetenz werden!
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