Blurred Lines
Die Grenzen zwischen objektiver Wissenschaft und
politischem Aktivismus
Im Gespräch mit Oliver Luksic, Mitglied des Bundestages
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Kurz und Bündig
Es ist wichtig, dass sich Wissenschaftler in die politischen Debatten einbringen. Welche politischen Entscheidungen dann im nächsten Schritt aus den gewonnenen Erkenntnissen abgeleitet werden, muss aber im Verantwortungsbereich der Politik liegen. Die Transparenz und Trennung der Verantwortlichkeiten zwischen Wissensgenerierung und politischen Entscheidungen ist enorm wichtig, auch für die Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen, sagt Oliver Luksic als erfahrener Politiker in Land und Bund.
Nach den Erfahrungen der letzten Jahre besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass bei globalen Krisen politische Entscheidungen stärker evidenzbasiert sein müssen, Fachkompetenz also zwingend notwendig ist. Ist die Politik bereit und in der Lage, sich stärker an wissenschaftlichen Erkenntnissen zu orientieren, und wo liegt dabei das Konfliktpotenzial? Darüber sprachen wir mit Oliver Luksic, Mitglied des Bundestages und Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Digitales und Verkehr.
Vor der Corona-Pandemie hatte die Wissenschaft eher eine beratende Rolle, plötzlich fand sie sich in der Arena der politischen Entscheidung wieder. Ist das eher problematisch oder ein wünschenswerter Paradigmenwechsel?
OL: Die Wissenschaft sollte eine eher beratende Rolle einnehmen. Fundierte Handlungsempfehlungen von Wissenschaftlern geben der Politik Perspektiven und helfen bei der Entscheidungsfindung. Es wird jedoch auch zukünftig eine Trennung zwischen Politik und Wissenschaft geben.
Die Wissenschaft bietet uns zur Erforschung und Lösung vieler Herausforderungen hervorragende Methoden. Problematisch wird es, wenn die Politik bei einer prekären Datenlage unter Zeitdruck schnelle Antworten finden muss, vor allem dann, wenn mehrere Ebenen beteiligt sind und es gesellschaftliche Zielkonflikte gibt, die es auszutarieren gilt.
Zudem besteht immer das Risiko, dass auch bei wissenschaftlichen Erkenntnissen Rosinenpickerei und Ergebnisverzerrung stattfinden. Wir erleben zum Beispiel in der deutschen Energiepolitik manch irrationalen Ansatz, auch die Ablehnung einiger Technologien ist nicht wissenschaftlich begründbar. Wir Freien Demokraten haben den Anspruch, die Breite wissenschaftlicher Erkenntnisse in unserem Handeln so weit wie möglich zu berücksichtigen.
In Krisenzeiten wächst das Informationsbedürfnis, und wissenschaftliche Expertise gewinnt an Einfluss auch im öffentlichen Diskurs. Was genau kann wissenschaftliche Politikberatung leisten?
OL: Wissenschaftliche Politikberatung kann und soll Handlungsoptionen unterbreiten, die auf empirischen Ergebnissen neuester Forschung basieren. Diese Erkenntnisse helfen der Politik, in gleichzeitiger Abwägung von vielfältigen Faktoren und sich verändernden Rahmenbedingungen die bestmögliche Entscheidung für alle Bürger zu treffen.
Gleichzeitig kommt wissenschaftliche Beratung nur dann zur Geltung, wenn Erkenntnisse angemessen eingeordnet werden können und die richtigen Schlussfolgerungen gezogen werden. In manchen Bereichen verschwimmen die Grenzen zwischen objektiver Wissenschaft und politischem Aktivismus. Die Aufgabe der Politik ist es daher auch, sich breit zu informieren und Informationen zu kontextualisieren.
Heute haben die Menschen mehr Zugang denn je zu Informationen. Es ist notwendig, die Fähigkeit zu vermitteln, souverän wissenschaftliche Erkenntnisse von Falschinformationen zu unterscheiden. Für mich ist daher Bildung ein Kernanliegen. Sie ist die Grundlage einer offenen Gesellschaft. Es gibt keinen Mangel an Information, die Kunst ist eher die Einordnung.
Die Corona-Krise hat uns gelehrt, dass bei globalen Krisen politische Entscheidungen viel stärker evidenzbasiert sein müssen, Fachkompetenz zwingend notwendig ist und sich die Politik weniger an Stimmungslagen oder Meinungsumfragen, sondern an wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren muss. Wird diese Erkenntnis nun nachhaltig greifen, auch etwa bei der Bewältigung der Klimakrise? Sie sind seit 2017 kontinuierlich Mitglied des Bundestages – haben unsere Abgeordneten bisher zu wenig auf die Klimawissenschaftler gehört?
OL: Wurde denn in Sachen Corona immer und überall evidenzbasiert entschieden? Auch international gab und gibt es unterschiedliche Ansätze. Es gibt nicht auf jede Frage „die eine“ Antwort der Wissenschaft, die alle multiplen Herausforderungen gleichzeitig löst.
Die gewaltigen Herausforderungen an Wirtschaft und Gesellschaft, welche die klimatischen Veränderungen mit sich bringen, fordern evidenzbasierte Entscheidungen, aber auch einen breiten Diskurs.
Gleichzeitig sind die verschiedenen Ziele, Aufgaben und Interessen im Sinne der ganzheitlichen politischen Verantwortung abzuwägen. Politische Entscheidungen sollten nie nur unter einen Aspekt untergeordnet werden. Deutschland ist sicher weltweit in vielen Fragen an der Spitze in Sachen Nachhaltigkeit und Transformation. In Sachen Klimakrise zeigt das Beispiel der Kernkraft, dass diese von der EU und vielen Ländern als „grün“ eingestuft wird, Deutschland diese jedoch kritisch sieht. Über den wissenschaftlichen Diskurs kann und muss man streiten.
Fachkompetenz zu allen Fragestellungen und wissenschaftliche Erkenntnisse sind entscheidende Grundlagen, um abgewogene politische Entscheidungen zu fällen. Insoweit gibt es auch vielfältige wissenschaftliche Beratungsgremien und Stellungnahmen. Wissenschaftliche Erkenntnisse ergeben aber nicht zwangsweise die eine politische Lösung.
Wie dominant darf am Ende die Rolle der Wissenschaft sein? Nach Artikel 20 Abs. 2 des Grundgesetzes geht alle Staatsgewalt vom Volk aus. Da weder wissenschaftliche Institutionen noch ihre Protagonisten demokratisch legitimiert sind, können ihre Einwirkungen auf politische Entscheidungen ab einem gewissen Punkt in Spannung zu diesem Artikel geraten. Inwieweit darf sich die Wissenschaft in politische Debatten einmischen, tragen doch die gewählten Volksvertreter die endgültige Verantwortung?
OL: In Deutschland und Europa dürfen und sollen sich alle im Rahmen unserer demokratischen Grundordnung in die politische Debatte einmischen. Dazu gehören selbstverständlich auch Wissenschaftler. Wichtig ist nur, dass klar ist, wer sich in welcher Rolle einbringt.
Welche politischen Entscheidungen dann im nächsten Schritt aus den gewonnenen Erkenntnissen abgeleitet werden – DAS liegt dann im Verantwortungsbereich der Politik. Die Transparenz und Trennung der Verantwortlichkeiten zwischen Wissensgenerierung und politischen Entscheidungen ist enorm wichtig, auch für die Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen. Dafür ist es auch wichtig, dass Forschungsergebnisse veröffentlicht werden. Das kann in einem klassischen Forschungsbericht erfolgen oder in einer Fachzeitschrift. Denkbar sind aber auch Medienarbeit oder Social-Media- Aktivitäten für die breite Öffentlichkeit. Hierdurch entsteht oft eine produktive Diskussion, das bringt Wissenschaft und Gesellschaft gleichermaßen voran. Denn die Wissenschaft kann durch die Verbreitung und Diskussion ihrer Erkenntnisse auch in den Dialog mit den Bürgern treten. So können sich auch Eindrücke aufgrund neuer Erkenntnisse ändern, denen das Volk in einer Demokratie an der Wahlurne Ausdruck verleiht.
In den USA ist dem Präsidenten ein „science advisor“ zugeordnet, der wissenschaftliche Erkenntnisse aufbereitet und darauf basierende Handlungsempfehlungen gibt. Halten Sie es für sinnvoll, diese Art der wissenschaftlichen Politikberatung - jenseits von Institutionen wie der Leopoldina oder achatech - auch bei uns zu institutionalisieren?
OL: Die genannten Institutionen stellen ja eine gewisse Institutionalisierung dar. Solche Institutionen sind in Deutschland sehr aktiv an der politischen Debatte beteiligt. Ihr Effekt auf die Politik ist letztendlich neben ihrer Kompetenz und Objektivität auch von ihrer Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung abhängig. Einige Ministerien, wie auch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr, unterhalten außerdem wissenschaftliche Beiräte. Der wissenschaftliche Beirat im Bundesministerium für Digitales und Verkehr etwa besteht aus bis zu 18 Verkehrsexperten mit eigenen Lehrstühlen, die ehrenamtlich und unabhängig wichtige Themen der Verkehrspolitik frei auswählen und sich interdisziplinär mit diesen wissenschaftlich befassen. Der Beirat spricht Empfehlungen aus, welche für die politische Entscheidungsfindung wertvoll sind.
Der souveräne Umgang mit Informationen und medialen Einflüssen ist von grundlegender Bedeutung für Gesellschaft und Demokratie.
Sie sind als Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium zugleich der Koordinator der Bundesregierung für Güterverkehr und Logistik. Zu diesen Themen gibt es umfangreiche Forschungsprojekte. Wie wissenschaftsoffen ist man in Ihrem Haus, und sind auch Sie selbst, wenn es um Entscheidungsfindungen geht?
OL: Ich bin offen für neue Entwicklungen im Bereich Güterverkehr und Logistik und halte Forschungsvorhaben in diesem Bereich für ganz wesentlich, um Gütertransport intelligenter und nachhaltiger zu gestalten. In allen Fachbereichen laufen hierzu Forschungsvorhaben. Beispielsweise fördern wir das Vorhaben „Silicon Economy“ des Fraunhofer Instituts für Materialfluss und Logistik in Dortmund, bei dem unter Einsatz von künstlicher Intelligenz logistische Prozesse umfassend verbessert werden sollen. Es werden Hardund Softwaregrundlagen entwickelt, die als Open Source allen Unternehmen zur Verfügung gestellt werden. Das geht bis hin zur Entwicklung von Robotern oder autonomen Fahrzeugen, die zukünftig auf Betriebsgeländen oder auf der letzten Meile eingesetzt werden könnten. Die Veröffentlichung als Open Source stellt sicher, dass alle Unternehmen teilhaben können an Fortschritten, auch mittelständische Unternehmen, die keine eigenen Entwicklungsabteilungen haben. Gerade im internationalen Wettbewerb ist Innovationsfähigkeit ein entscheidender Standortfaktor.
Ein weiteres gutes Beispiel ist unser Forschungsprojekt zum digitalen Testfeld Air Cargo. Hier fördern wir die Digitalisierung und Automatisierung von Prozessen in der Luftfracht und sorgen für besseren Datenaustausch. In diesem Projekt haben sich unter der Konsortialführung des Fraunhofer Instituts insgesamt neun Unternehmen vereint, darunter alle großen Luftfrachtstandorte Deutschlands. Mit diesem Projekt machen wir, genauso wie bereits mit der „Silicon Economy“, einen weiteren Schritt weg vom Denken in Unternehmensgrenzen hin zu einer offenen Gemeinschaft mit weltweit kompatiblen Systemen. Die Lösungen werden Open Source zur Verfügung gestellt, denn nur im grenzüberschreitenden Einsatz können sich die Potenziale entfalten. So werden beispielsweise Anwendungen entwickelt, die Datenaustausch und Datennutzung zwischen beteiligten Partnern deutlich vereinfachen und die Digitalisierung von Frachtbegleitdokumenten zum Ziel haben. Ein wichtiges Thema, das Zeit, Geld und Mühe spart.
Aus Ihrer persönlichen Erfahrung: Aus welchen grundlegenden Gegebenheiten können wissenschaftliche Erkenntnisse mit politischer Umsetzbarkeit kollidieren, und wie geht man damit um?
OL: Politiker befinden sich in einem ständigen Spannungsfeld – es gilt, Interessen auszutarieren. Politiker streben danach, sowohl wissenschaftlichen Erkenntnissen als auch demokratischer Legitimation gerecht zu werden.
Neben der Rechtsstaatlichkeit, die in allem politischen Handeln respektiert werden muss, muss auch der Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse gelingen. Das schaffen wir in einer offenen Gesellschaft vor allem durch Bildung und Innovationen. Wir brauchen Lösungen, die von den Menschen angenommen beziehungsweise nachgefragt werden und entlang ihrer Bedürfnisse entstehen. Den passenden ordnungspolitischen Rahmen setzt die Politik. In einer immer komplexer werdenden Welt gibt es den Wunsch nach Eindeutigkeit. Politik und Gesellschaft müssen aber lernen, mit Mehrdeutigkeiten und Widersprüchen umzugehen.