„Die Blockchain könnte für mehr Gerechtigkeit in der Musikindustrie sorgen“
Im Gespräch mit Florian von Hoyer, Enterprise Coach im digitalen Musik-Business
Kurz und bündig
Die Musikindustrie erlebt dank des Streaming-Formats eine Renaissance. Dringend benötigte Transparenz und eine schnellere und gerechtere Verteilung der Einnahmen könnten mit Hilfe von Blockchain- Technologie erreicht werden. Eine globale, dezentrale und reichhaltige Datenbank mit verifizierbaren Transaktionen sollte zu einem großen Ziel für den gesamten Sektor werden. Auch für den direkten Austausch zwischen Musikschaffenden und Publikum eröffnet Blockchain-Technologie faszinierende Möglichkeiten.
Künstler-Tantiemen für das Abspielen von Musiktiteln durch Radio- oder TV-Sender werden über Verwertungsgesellschaften abgewickelt. Die Abrechnung dieser Rechte wird aber seit Jahren als sehr undurchsichtig und lückenhaft kritisiert. Moderne Blockchain-Technologie könnte dem Problem ein Ende setzen. Auch im Bereich der Direktvermarktung zwischen Künstlern und Publikum und im Live- Musik-Geschäft entstehen an vielen Orten interessante Initiativen. Wir erfahren vom Musik-Experten Florian von Hoyer, welche Chancen und Risiken Digitalisierung und Kryptographie für die Musikindustrie mitbringen.
IM+io: Herr von Hoyer, wie funktionierte das Zusammenspiel von Radio oder TV und der Musikindustrie vor der Digitalisierung?
FVH: TV und Radio waren über lange Zeit in erster Linie Plattformen für die Vermarktung von Künstlern und deren „Singles“. Die Investitionen in die Produktion der Studioaufnahmen, ebenso wie die Kosten für Videoclips, TV-Auftritte oder „Vereinbarungen“ mit den Radiosendern, wurden in der Regel komplett von den Plattenfirmen getragen. Sie hielten die Verwertungsrechte und waren mit der Kommerzialisierung, Verbreitung und Verwertung der Tonaufnahmen betraut. Die Kapitalrendite kam zum größten Teil durch den Verkauf von physischen Tonträgern zustande. Und die Verwertung in Radio oder Musik-TV wurde kollektiv durch Organisationen wie die Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten (GVL) und die Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte (GEMA) abgewickelt. Solange die Aufnahmen oft genug im Radio gespielt wurden, waren die Labels zufrieden. Ebenso wie die Künstler, die sich viel mehr um die Präsenz im Radio und auf Videokanälen sorgten, als um die ihnen zustehenden Rechte und Einnahmen. Die Tonträgerindustrie war in diesem Bereich also komplett anders aufgestellt als die mit ihr verwandte Filmindustrie, die für das Ausstrahlen ihrer Produktionen ganz selbstverständlich Tantiemen verlangte und direkt mit den Sendern aushandelte.
IM+io: Was hat sich durch das Aufkommen von Streaming-Diensten wie Deezer, Apple Music, oder Spotify geändert?
FVH: Das On-demand-Streaming, bei dem man sich grundsätzlich jede einzelne Aufnahme gezielt aussuchen kann, macht dem traditionellen Radiohören den Platz als wichtigste Form des Musikkonsums zweifellos streitig. Was für den Smartphone-Nutzer wie die einfache Auswahl zwischen Radio-App oder Streaming- App aussieht, sind in Wirklichkeit zwei völlig unterschiedliche Systeme: Radios und Musik- TV senden eine enge Auswahl der Produktionen, die ihnen von Musikfirmen und Promo- Agenturen in verschiedensten Formaten angeboten werden – teilweise sogar, bevor diese überhaupt in industrierelevanten Datenbanken zu finden sind. Die Streaming-Apps, wie zum Beispiel Spotify oder Apple Music, basieren hingegen auf einem Vertriebssystem, bei dem bereits zu Beginn des Prozesses ein reichhaltiger Datensatz für jede einzelne Aufnahme aufgesetzt werden muss, damit diese überhaupt erst für eine Veröffentlichung in Frage kommt. Der Unterschied in der Tiefe der Daten ist also schon ab dem Moment der ersten Veröffentlichung immens. Um ihn auszugleichen und die öffentlich gespielten Stücke nachträglich mit allen relevanten Metadaten zu bereichern, müssen Hilfsmechanismen eingesetzt werden. Ein solcher ist die Anwendung von Diensten, die alles öffentlich Gesendete und Gespielte aufnehmen und die daraus entstehenden „Audio-Fingerprints“ mit den Aufnahmen in den Datenbanken abgleichen. So erklärt sich auch der Unterschied bei der Abrechnung für die Nutzung der Aufnahmen: Technologieunternehmen wie Apple, Amazon, Google, Deezer oder Spotify liefern tägliche Nutzungsdaten und monatliche Abrechnungen, während die Verwertungsgesellschaften davon träumen, akkurate Quartalsabrechnungen zu liefern. Das steigert den Druck auf die Verwertungsgesellschaften zusätzlich und verlangt nach neuen Lösungen.
IM+io: Und hier könnte die Blockchain-Technologie weiterhelfen?
FVH: Genau, sie könnte für mehr Gerechtigkeit in der Musikindustrie sorgen. Die Verwertungs- und Leistungschutzrechte sind national geregelt und ein Großteil der Staaten der „westlichen“ Welt hat eigene Gesellschaften wie die GEMA oder GVL geschaffen, um die entsprechenden Einnahmen einzusammeln und gerecht weiterzuverteilen. Für eine Angleichung der Datentiefe an die Streaming- Dienste sind also sehr viele Datenbanken mit präzisen, kompletten und wahrheitsgetreuen Daten zu füttern und zu synchronisieren. Als dezentral aufgebaute Datenbank mit verifizierbaren Transaktionen ist die Blockchain ideal für diese Aufgabe geeignet und könnte langfristig als universelle Datenquelle für die Musikindustrie dienen.
IM+io: Werden durch die Blockchain auch neue Geschäftsmodelle in der Musikindustrie entstehen?
FVH: Initiativen, die daran arbeiten, neue Markplätze für die Direktvermarktung von Künstlern zu schaffen, und dabei auf Blockchain und Kryptowährungen setzen, sprießen derzeit an vielen Stellen aus dem Boden. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis die eine oder andere davon genug Momentum aufbauen kann, um das bestehende System entscheidend zu beeinflussen. Stellvertretend können wir hier Viberate und ujomusic nennen. Ersteres ist eine dezentrale, auf einer Blockchain basierende Datenbank für Live-Musik, die eine spannende Alternative für Booker, Veranstalter und Musiker bietet [5]. Zweiteres ist eine offene Blockchain- Plattform, die mithilfe von Smart Contracts eine Bezahlung von Musikschaffenden in Kryptowährungen ermöglicht [6].
IM+io: Wie könnten diese neuen Ansätze den Markt verändern? Wer sind die Gewinner?
FVH: Die Gewinner werden grundsätzlich alle Mitarbeiter der Wertschaffungskette rund um einen Künstler und seine Werke sein – mit Ausnahme derer, die sich bisher unrechtmäßig bereichert haben. Das gilt sowohl für einen Teil der veralteten Tonträgerindustrie, als auch für die Hacker-„Genies“, die es vorziehen, den Künstlern die Cents aus der Tasche zu programmieren, als kollektiv an der Entwicklung eines gerechteren Ökosystems zu arbeiten. Ich bin versucht zu sagen, zu den Gewinnern gehören alle Musiker, Autoren und Komponisten, aus allen möglichen Ländern und Genres – inklusive derer, die durch kleine Boutique-Labels vertreten werden oder komplett unabhängig agieren. Für letztere bleibt es aber trotzdem schwer. Damit sie an die Töpfe kommen, müssen sie gespielt werden, und dagegen stemmen sich oft die großen Player – sowohl auf der Label- Seite, als auch bei den Streaming-Diensten und den marktbestimmenden Radio- und Fernsehsendern. Zum Glück für die gesamte Musikindustrie haben sich in den letzten Jahren aber Organisationen gebildet, die die Gesamtentwicklung des Marktes positiv beeinflussen. Allen voran die digitale globale Rechteagentur Merlin, die sich weltweit für die unabhängigen Labels und Musikfirmen einsetzt und erreicht hat, dass die Chancen heute zumindest theoretisch gerechter verteilt sind [6]. Durch die Möglichkeiten der direkten Transaktion zwischen Künstlern und Fans entstehen zudem zweifellos große Chancen für die Vermarktung unabhängiger Künstler. Gleichzeitig birgt die zunehmende Digitalisierung aber auch die Gefahr, dass am Ende wieder die gleichen Gatekeeper – diesmal in Form von Logarithmen – entscheiden, was dem Publikum zu gefallen hat. An dieser Stelle drohen kulturelle Konsequenzen und Herausforderungen, wie die zunehmende Bequemlichkeit und Gleichschaltung.
IM+io: Und was wird mit den großen Musiklabels passieren?
FVH: Um den wachsenden Ansprüchen der besser informierten Künstler zu genügen, müssten die großen Produktionsfirmen auf jeden Fall mehr in die Transparenz investieren. Die Neuen, die Jüngeren, die den schnellen Instant-Ruhm suchen und denen die Prinzipien und eine nachhaltig geplante Karriere weniger wichtig sind, können natürlich weiter massiv mit überdimensionierten Vorschüssen geblendet und eingekauft werden, statt die Mittel in kostspielige transparente Technologie zu investieren. Der Kampf um kurzfristige Marktanteile ist in den Führungsgremien der großen Drei generell wichtiger als das Wirtschaften mit Weitblick und der Aufbau eines gut funktionierenden Ökosystems. Auf der anderen Seite eröffnen sich neue Chancen für kleinere Firmen, die die Zeichen der Zeit verstehen. Sie können Geschäftsmodelle rund um Dienstleistungen konzipieren, die sich ganz spezifisch um die langfristigen Bedürfnisse all der Kreativen kümmern, die sich entscheiden, die Entwicklung ihrer Karriere selbst in die Hand zu nehmen.