Baustein KI
Generative Engineering & Design
Detlef Gerhard, Timo Köring und Matthias Neges, Ruhr-Universität Bochum
(Titelbild: © Adobe Firefly)
Kurz und Bündig
Modellbasiertes Systems Engineering (MBSE) ist unerlässlich, um die zunehmende Komplexität in der Produktentwicklung zu bewältigen. MBSE ersetzt herkömmliche, dokumentbasierte Ansätze und ermöglicht eine klare, strukturierte Handhabung umfangreicher Produktinformationen. Künstliche Intelligenz (KI) beeinflusst diesen Prozess zunehmend, indem sie durch automatisierte Datenanalysen und Mustererkennung die Effizienz steigert und innovative Lösungen fördert. Gemeinsam bieten MBSE und KI eine leistungsstarke Basis für das moderne Engineering.
Künstliche Intelligenz (KI) besitzt das Potenzial, die Produktentwicklung durch Automatisierung und Optimierung zu revolutionieren. KI ermöglicht die effiziente Analyse komplexer Daten, die Mustererkennung und unterstützt damit Entscheidungsprozesse. Generative Engineering & Design (GE&D) ermöglicht die automatisierte, KI-gestützte Erstellung und Optimierung von Designvarianten basierend auf definierten Randbedingungen und eröffnet kreative Lösungswege. Der Beitrag liefert einen Überblick, wie KI, insbesondere GE&D, den Produktentwicklungsprozess in verschiedenen Anwendungsfeldern unterstützt.
Der modellbasierte Ansatz zur Produktentwicklung (englisch Model Based Systems Engineering – MBSE) gewinnt bei vielen Industrieunternehmen immer mehr an Bedeutung, um die Herausforderungen im Produktentwicklungsprozess zu bewältigen. Das Ziel von MBSE ist insbesondere, die dokumentzentrierten Vorgehensweisen in den Unternehmen verbunden mit informellen Prozessen des Informationsaustauschs zu ersetzen. Modelle erlauben einen formalisierten Prozess und reduzieren den Aufwand, Informationen für Folgeprozesse oder den Austausch von Informationen zwischen Kooperationspartnern zu nutzen. Das zentrale Konzept des modellbasierten Engineerings in der virtuellen Produktentwicklung besteht darin, ein 3D-CAD Produktmodell und andere damit verbundene Teilmodelle aufzubauen, um alle detaillierten Produktinformationen zu bereitzustellen, die für nachgelagerte Prozesse und Abläufe erforderlich sind.
Die Anwendung verschiedener Verfahren der Künstlichen Intelligenz (KI) wie maschinelles Lernen (ML) oder natürliche Sprachverarbeitung (NLP) markiert einen neuen Meilenstein für MBSE-Methoden und -Werkzeuge, weil KI spezifische, transformative Vorteile in den digitalen technischen Arbeitsabläufen eröffnet. KI ermöglicht beispielsweise die Automatisierung von Routineaufgaben, verbesserte Entscheidungsunterstützung auf Basis großer Datenmengen und bietet neue Ansätze für die Integration unterschiedlicher Modelle und verbessert die Interoperabilität verschiedener IT-Werkzeuge.
Einsatz von KI in der Produktentwicklung
Die Anwendungsgebiete von KI in der Produktentwicklung sind vielfältig und erstrecken sich von der frühen Phase der Konzeption über die Entwicklung und Konstruktion, die Verifikation und Validierung bis hin zur Produktion. Mittels NLP können Anforderungen aus Dokumenten automatisch extrahiert, analysiert und auf Konsistenz, Vollständigkeit und Korrektheit geprüft werden.
Beispielsweise kann eine Spezifikation analysiert und widersprüchliche Anforderungen oder fehlende Informationen identifiziert werden, wodurch Inkonsistenzen frühzeitig erkannt und behoben werden. ML-Modelle können Anforderungen basierend auf vordefinierten Kriterien (zum Beispiel Funktionalität, Leistung, Sicherheit) klassifizieren. Dies erleichtert die Organisation und Verwaltung von Anforderungen. Prädiktive ML-Modelle können verwen-
det werden, um vorherzusagen, wie sich Änderungen an Anforderungen auf das System auswirken können. Dies hilft bei der Entscheidungsfindung und der Risikobewertung.
Ein generatives Modell kann auf Basis von funktionalen Anforderungen eine erste Version der Systemarchitektur erstellen, die dann seitens der Produktentwicklung weiter ausgearbeitet und verfeinert wird. ML kann im Gegenzug verwendet werden, um Anomalien in der Systemarchitektur zu erkennen, die auf potenzielle Fehler oder ineffiziente Designs hinweisen. Ebenso können Daten aus früheren Projekten effizient und umfangreich analysiert werden, um Entwürfe, Materialien und Lösungsprinzipien einer Konstruktion zu optimieren, was zu Kosteneinsparungen und besseren Ergebnissen führt.
Ideenfindung und Konzeptentwicklung
Die Ideenfindung und Konzeptentwicklung in der Produktentwicklung nutzt NLP und ML, um Markttrends und Kundenpräferenzen zu identifizieren. NLP analysiert beispielsweise Kundenrezensionen oder Rückmeldungen über soziale Medien und Marktberichte, um relevante Trends und Präferenzen herauszufiltern. ML hingegen ermöglicht die Vorhersage von Marktentwicklungen und die Identifikation von Innovationspotenzialen durch die Analyse historischer Daten und Mustererkennung.
Bei kreativen Aufgaben und Prozessen unterstützt generative KI mit großen Sprachmodellen (Large Language Models – LLM) dabei, neue Perspektiven und unkonventionelle Ansätze zu erarbeiten. Basierend auf spezifischen Eingabedaten und Anforderungen können eine Vielzahl von Konzepten und Entwürfen generiert werden, die innovative und kreative Lösungen bieten, die sonst möglicherweise nicht in Betracht gezogen würden. Generative Adversarial Networks (GANs) werden verwendet, um kreative Designvorschläge zu machen, während Transformer-Modelle wie GPT-4 textbasierte Konzeptideen und Produktbeschreibungen erstellen können, die als Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung dienen.
Der Einsatz tiefer neuronaler Netzwerke (Deep Learning) ermöglicht die Analyse komplexer Probleme und die Bereitstellung neuer Lösungsansätze durch Mustererkennung in großen Datensätzen. Ein spezifisches Beispiel ist die Ähnlichkeitssuche in computer-aided-design-Modellen (CAD), bei der KI genutzt wird, um ähnliche Konstruktionen in umfangreichen CAD-Modell-Datenbanken zu identifizieren. Dies macht die Neukonstruktion oder Anpassung bestehender Teile überflüssig, wodurch Entwicklungszeiten und -kosten erheblich gesenkt werden können. Die Wiederverwendung erprobter Komponenten führt zu einer höheren Gesamtqualität und Zuverlässigkeit des Endprodukts, da bereits getestete Teile eine bekannte Leistungshistorie aufweisen. Ein weiteres Anwendungsgebiet ist die Analyse von Daten aus dem Feldeinsatz von Produkten mittels KI-gestützter Methoden, um Muster, Korrelationen und Unregelmäßigkeiten in Daten erkennen. Diese Daten ermöglichen Auswertungen für die Qualitätssicherung und kontinuierliche Verbesserung der Produkte, was dem Konzept des „Closed-Loop-Engineering“ also einem geschlossenen Informationskreislauf entspricht.
Entwicklung und Konstruktion
Die Integration von KI-Technologien in die Konstruktion, Gestaltung und Ausarbeitung ermöglicht eine effizientere und auch qualitativ verbesserte Produktentwicklung. Das Konzept des „Generative Engineering & Design“ (GE&D) stellt eine tiefgreifende Transformation im Konstruktionsprozess dar, insbesondere im Hinblick auf die geometrische Gestaltung von Bauteilen und Komponenten.
GE&D-Software nutzt fortschrittliche ML-Techniken und die faktisch unbegrenzten Cloud-Computings Kapazitäten. Der Fokus liegt auf der generativen Erstellung geometrischer Formen für Bauteile. Beim GE&D werden innovative und realisierbare Entwürfe automatisch auf Basis von Konstruktionsanforderungen sowie Randbedingungen wie Lasten, Materialbeschränkungen, Fertigungsprozessen und ökonomischen sowie ökologischen Zielsetzungen generiert. Anstatt explizit Geometrien zu erstellen, definieren Produktentwickler:innen Randbedingungen, Ziele und Vorgaben, die als Grundlage für die Lösungsgenerierung dienen, und wählen am Ende des generativen Prozesses die am besten passende Lösung aus.
Evolutionäre und genetische Algorithmen berechnen beim GE&D iterative Designverbesserungen, während neuronale Netzwerke und Deep Learning Technologien Muster in Daten analysieren, um die Leistungsfähigkeit von Lösungen zu bewerten. GE&D findet breite Anwendungsbereiche, insbesondere in der additiven Fertigung, im Leichtbau und in spezialisierten Anwendungen wie der Medizintechnik und der Fluidmechanik. Hier ermöglicht GE&D die automatisierte Erzeugung maßgeschneiderter Implantate und spezialisierter Systeme wie Filter und Wärmetauscher. Es eignet sich ideal für die Erstellung optimierter Gitterstrukturen und die Verteilung von Mikrostrukturen in Leichtbauteilen.
Im Gegensatz zur Topologieoptimierung, die bestehende Bauteile optimiert, nutzt GE&D generative Ansätze ohne vorgegebene Ausgangsgeometrie. Es integriert regelbasiertes, parametrisches CAD und kombiniert verschiedene Leistungskriterien wie Steifigkeit, Festigkeit und Kostenbeschränkungen, um umfassende Optimierungen vorzunehmen.
Um den gestiegenen Anforderungen an die Rechenleistung zur Generierung zahlreicher Designvarianten gerecht zu werden, ist die Verlagerung von KI-Modellen zur Simulation in die Cloud eine naheliegende Maßnahme. Dies ermöglicht den Zugriff auf nahezu unbegrenzte Rechenressourcen und die Durchführung komplexer Berechnungen in kürzester Zeit. Allerdings bringt dieser Ansatz auch Herausforderungen mit sich. Die zugrunde liegenden KI-Modelle befinden sich extern und sind oft geschlossen und intransparent. Diese Intransparenz kann Bedenken hinsichtlich der Nachvollziehbarkeit und Kontrolle über die verwendeten Algorithmen aufwerfen.
Durch Variation der Eingangsparameter oder auch automatisch initiierte Parameterstudien können nicht nur geometrische Variationen des Designs erzeugt werden, sondern auch im Anschluss durchgeführte Simulationen direkt in Berechnungsergebnisse überführt werden. Dies birgt enormes Potenzial zur synthetischen Datengenerierung für die Trainingsdatensätze der KI.
In diesem Zusammenhang lassen sich zunehmend Ersatzmodelle für Simulationen (Surrogate-Models) aufbauen, die zur Vorhersage des Verhaltens eines vorab trainierten KI-Modells genutzt werden können, ohne den Weg der Simulation gehen zu müssen. Infolgedessen lassen sich die Auswirkungen geometrischer Änderungen direkt auswerten, und die letzte Simulation dient lediglich als abschließende Validierung.
Simulation, Verifikation und Validierung
Im Bereich der Simulation tragen KI-Technologien maßgeblich zur Verbesserung der Effizienz und Genauigkeit bei, besonders bei komplexen Systemen. Tiefe Neuronale Netzwerke nutzen historische Simulationsdaten, um Modelle zu erstellen, die schnelle Vorhersagen und Analysen ermöglichen. Typische Anwendungsbereiche, bei denen herkömmliche Simulationen sehr rechenintensiv und zeitaufwendig sind, sind Crash-Tests, Verformungsanalysen sowie Strömungsdynamik. Simulations-Surrogate Models approximieren komplexe Simulationen und ermöglichen schnellere Evaluierungen.
Das Zusammenwirken von KI-Verfahren und Simulationstechnologien führt damit zu einer beschleunigten und verbesserten Produktentwicklung. Maschinelles Lernen verkürzt die Simulationszeiten erheblich. Dadurch können Produktentwickler:innen in kürzerer Zeit mehr Designiterationen durchlaufen, was die Optimierung von Produkten beschleunigt. Bayes‘sche Netze sind ein weiteres wichtiges Werkzeug, das probabilistische Modelle nutzt, um Unsicherheiten in Simulationen zu berücksichtigen und die Genauigkeit der Vorhersagen zu verbessern. Sie werden insbesondere dann verwendet, wenn verschiedene Bedingungen und deren Auswirkungen bewertet werden müssen, beispielsweise bei der Zuverlässigkeitsanalyse von Maschinenkomponenten.
ML-Algorithmen werden eingesetzt, um die Testplanung und -durchführung zu automatisieren. Sie können Testpläne und Testfälle automatisch basierend auf historischen Testdaten und spezifischen Anforderungen generieren. Dies beschleunigt den Testprozess und erhöht die Genauigkeit der Ergebnisse, da die Algorithmen zu einer kontinuierlichen Verbesserung der Datengrundlage führen.
Zusammenfassung und Ausblick
KI-Technologien bieten neue Möglichkeiten zur Datenverarbeitung, Mustererkennung und Entscheidungsfindung, welche die Effizienz und Automatisierung in verschiedenen Phasen der Produktentwicklung und Konstruktion substanziell verbessern und sogar komplett neue MBSE-Prozesse ermöglichen. Der Einsatz von KI-Verfahren erlaubt es, komplexe Datenlagen mit vergleichsweise wenig Zeitaufwand zu analysieren und damit weitaus schneller Entscheidungsgrundlagen in verschiedenen Engineering-Prozessen zu schaffen.
KI ist aber nicht nur ein Werkzeug zur Effizienzsteigerung im Digital Engineering, sondern auch ein Treiber für innovative Lösungen und hat einen deutlichen Einfluss auf die grundsätzliche Art und Weise, wie Produkte entworfen, entwickelt und auf den Markt gebracht werden. Derzeit findet ein Übergang von traditionellen, oft iterativen Entwicklungsprozessen hin zu einem agilen und zielorientierten Vorgehensmodell der Produktentwicklung statt. Leistungsziele, die als kritische Erfolgsfaktoren für ein Produkt identifiziert wurden, werden zum Ausgangspunkt des Produktentwicklungsprozesses gesetzt. Durch den Einsatz von Optimierungstechniken werden Werte für treibende Entwurfs- und Auslegungsparameter bestimmt, die zu einer Lösung führen, welche die Leistungsziele bestmöglich erfüllt und dabei alle relevanten Randbedingungen und Vorgaben berücksichtigt.