Auf breite Erfahrung im Komplexitätsmanagement konnte Hartmut Mehdorn zurückblicken, als er 2013 die Aufgabe übernahm, das Mega-Projekt Berliner Flughafen (BER) neu aufzustellen, um es nach vielen Rückschlägen zum Erfolg zu führen. Wir haben ihn nach seiner Sicht der Dinge gefragt – als denjenigen, der die Deutsche Bahn vom Staats- zum Wirtschaftsunternehmen umbaute, der für Air Berlin einen harten Sanierungs- und Effizienzkurs steuerte und der nun, im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlichen Notwendigkeiten, politischen Anforderungen und öffentlicher Wahrnehmung, versucht, den BER aus der Krise zu führen.
Herr Mehdorn, Sie haben im sich Verlauf ihrer Managertätigkeit in Großprojekten immer in komplexen Systemen bewegt, die naturgemäß mit hohen Risiken behaftet sind. Der bekannte deutsche Systemtheoretiker Niklas Luhman hat diese Situation einmal so beschrieben: „Man fliegt bei geschlossener Wolkendecke und muss sich auf seine Instrumente verlassen.“ Welche Instrumente haben versagt, wenn ein Projekt an seiner Komplexität zu scheitern droht?
Um bei Ihrem Vergleich mit dem Fliegen zu bleiben: Ehe man sich auf deren Funktionieren verlassen kann, muss man erst einmal die richtigen Instrumente auswählen und installieren. Die Weichen in Richtung Erfolg oder Misserfolg werden lange vor dem ersten Spatenstich gestellt. Da muss Klarheit herrschen, wie das Team aufgebaut werden soll, das es managen soll. Großprojekte haben eine enorme Komplexität und verändern sich im Laufe ihrer Realisierung. Die vom Team benötigten Fähigkeiten sind am Ende andere als zu Beginn. Anfangs geht es um Grundsatzfragen, um Architektur und Genehmigungsfragen – dann am Ende um Ausstattung, technische Systeme und um die Inbetriebnahme. Dafür muss das Führungsklavier gestimmt und der Pianist trainiert werden. Da darf nichts dem Zufall überlassen werden. Man muss auch wissen, dass man zu verschiedenen Zeiten verschiedene Menschen und Fähigkeiten für die Realisierung braucht, denn Alleskönner gibt es nicht, deshalb sollte man auch im Team leitende Mitarbeiter entsprechend dem Projektfortschritt auf Zeit einstellen.
Den Prototyp des Großprojektes gibt es nicht. Großprojekte sind individuell. Es macht einen Unterschied, ob man eine neue Airbus-Fabrik, einen Bahnhof, eine ICE-Strecke, eine Stromtrasse oder einen Flughafen baut. Entscheidend ist auch, wer das Projekt finanziert und dann auch bei der Realisierung mitredet: Bund, Länder, Kommunen, Banken oder private Investoren. Auch die Haltung von Genehmigungsbehörden kann eine wichtige Rolle spielen. Corporate Governance hat einen großen Einfluss.
Unabdingbar ist jedoch, dass ganz am Anfang die Akzeptanz in der Bevölkerung oder Nachbarschaft geklärt wird, dass deutlich gemacht wird, welchen Nutzen das Projekt für die Gesellschaft hat. Es muss Klarheit über das Ziel, das Budget und das Timing herrschen. Auch das Umfeld, in dem alles passieren wird, muss genau analysiert werden. Nach meiner Erfahrung entscheiden die ersten fünf Prozent auf der Zeitschiene nach dem Projektstart bereits über den Erfolg am Ende. Es ist wie beim Zuknöpfen einer Strickjacke: Wer den ersten Knopf ins falsche Loch steckt, muss am Ende die ganze Jacke wieder aufknöpfen.
Viele Großunternehmen reagieren auf Komplexität mit der Entwicklung komplexer Systeme und Strukturen. In der Folge stellen sie mehr Leute ein, um die Komplexität zu handhaben. Hier ergibt sich dann fast zwingend ein Dilemma mit Blick auf menschliches Verhalten. Wenn Größe zu begründeter Komplexität führt, kann eine Reaktion mit komplexen Systemen oder Strukturen möglicherweise angemessen sein. Auf der anderen Seite hängt aber die Funktionsfähigkeit einer Organisation nicht zuletzt davon ab, dass für die vielen Menschen, die in dieser Organisation etwas bewirken sollen, die Organisation selbst verständlich ist. Lässt sich dieses Dilemma auflösen, oder ist doch die Forderung mancher Unternehmensberater „keep it simple!“ der Königsweg?
Für Großprojekte gibt es keine gewachsenen Strukturen oder Patentformeln. Sie beginnen bei Null, sie haben keine festen Regeln, kein Karrieresystem und keine Blaupausen. Die Projektsteuerung ist das A und O für den Erfolg. Die Baustelle BER ist ein Musterbeispiel dafür, wie es nicht laufen sollte. Da hat man sich eine Aufgabe zugetraut, von deren Komplexität man keine Ahnung hatte. Der Versuch, einen Generalunternehmer zum Festpreis zu beauftragen, ist gescheitert. Da hat man das Projekt selbst in die Hand genommen, das war riskant. Dann haben zu viele Ingenieurbüros zu egoistisch nebeneinander und nicht miteinander gearbeitet. Einige davon haben schließlich auch noch eine schlechte Rolle gespielt. Das Management für ein Großprojekt muss variabel aufgestellt sein und dem Baufortschritt angepasst werden. Um mal ein Beispiel zu nennen: Betongießer braucht man auch nur für den Rohbau und nicht für den Innenausbau. Deshalb machen Teilzeit-Verträge durchaus Sinn. Die von Ihnen zitierte Forderung von Unternehmensberatern nach Einfachheit ist eine schöne Idee. Sie wird aber auch von Unternehmensberatern ad absurdum geführt. Denn Geld verdienen können die doch nur mit der Lösung komplexer Aufgaben. Beim BER waren es eher zu viele gute Ratschläge.
Die Funktionsfähigkeit einer Organisation hängt nicht nur von einem straffen Reporting-System ab, sondern auch von der Qualität der internen und der externen Kommunikation. Dafür ist der Chef des Unternehmens verantwortlich. Er trägt die Verantwortung dafür, dass jeder versteht, was auf der Baustelle geschieht: die Mitarbeiter ebenso wie die Bürger. Gerade bei öffentlich-rechtlichen Projekten kommt es auch intern schnell zu Verwerfungen, wenn man extern nicht auf einer klaren Schiene kommuniziert. Dann wird von den parlamentarischen und politischen Aufsichtsgremien, die über die Presse unter dem Druck der öffentlichen Meinung stehen, automatisch mehr externe Kontrolle gefordert. Dann werden Ausschüsse eingesetzt und ständig neue Gutachter beauftragt. Das Projektmanagement ist schließlich mehr mit deren Anfragen beschäftigt als mit der Baustelle selbst. Beim BER habe ich leider so eine schwierige Situation vorgefunden. Am Ende versucht dann jeder nur noch Schuld oder Unschuld festzustellen. Auch menschliches Fehlverhalten ist vorprogrammiert, wenn der Zug nicht schon vor der Abfahrt mit einem guten Fahrplan aufs richtige Gleis gesetzt wird.
In einem Interview zur Sanierung des Luftfahrtunternehmens Air Berlin haben Sie einmal mit Blick auf die notwendigen Analysen gesagt „Wir schauen unter jeden Stein“. Das war und ist wohl auch beim Projekt BER notwendig. Unter den Steinen finden Sie sicher auch Erkenntnisse, die Indikatoren für größere und damit krisenverdächtige Probleme sind. Zum einen müssen solche Probleme offensiv kommuniziert werden, um sie angehen zu können. Auf der anderen Seite stehen Sie im ständigen Spannungsfeld zwischen unternehmerischer Verantwortung, dem berechtigten Interesse der Politik und der Wahrnehmung der Bevölkerung. Wie lassen sich dabei entstehende Konflikte auflösen?
Es gibt Konflikte, die praktisch unauflösbar sind, bei denen ein Minimum an Konsens manchmal schon das Optimum darstellt. Das nachträgliche „unter den Stein schauen“ ist ja keine Unternehmensphilosophie, sondern oft nur eine Reparaturarbeit. Wenn man von vornherein ein klares Konzept hat, braucht man hinterher auch weniger Analysen. Air Berlin und die Flughafen Berlin Brandenburg GmbH waren nur hinsichtlich ihrer fehlenden industriellen Strukturen vergleichbar. Air Berlin war ein mittelständisches Unternehmen, das durch seinen Erfolg am Markt zu schnell gewachsen ist und das dann konsolidiert werden musste. Da musste man – und muss man heute auch – jeden Stein umdrehen, um Effizienz und Geld darunter zu finden.
Bei der Flughafengesellschaft habe ich keine Management-Struktur vorgefunden. Ein Großprojekt, das im märkischen Sand stecken geblieben war. Nach der Absage der Eröffnung gab es eine Art Schockstarre, die uns mindestens ein Jahr Zeit gekostet hat. Die Ursachen dafür lagen nicht nur im Missmanagement, sondern auch an den Rahmenbedingungen für das Projekt BER. Wo Politik gemacht wird, gibt es eben auch unterschiedliche Ansichten. Deren Tolerierung gehört zu den Grundvoraussetzungen für eine Demokratie. Das Problem ist nur, dass die Mehrheit, die über ein Großprojekt entschieden hat, von Wahl zu Wahl wechseln kann. Und damit auch die Prioritäten. Beim BER haben wir noch zusätzlich das Handicap, dass dafür gleich drei Regierungen und drei Parlamente zuständig sind und dass es auch innerhalb der Parteien und Koalitionen sehr unterschiedliche Meinungen und Befindlichkeiten gibt. Im Land Berlin regieren, wie im Bund, SPD und CDU; in Brandenburg SPD und Linke. Dort ist die CDU also in der Opposition und vertritt einen ganz anderen Standpunkt als ihre Berliner Schwesterpartei. Aber auch in den SPD-Landesverbänden von Berlin und Brandenburg gibt es unterschiedliche Interessen. Und irgendwo steht immer eine Wahl vor der Tür, deretwegen die Politiker, die um die Wiederwahl kämpfen, ihre Wähler nicht mit der Ankündigung von Belastungen erschrecken wollen. Doch damit muss das Management leben. Demokratie ist bekanntlich eine komplizierte Regierungsform. Wir lieben sie, wissen aber auch, dass sie Geld und Zeit kostet.
Den Druck durch die Politik auf das Management kann man nur reduzieren, wenn man den Druck der Öffentlichkeit auf die Politik verringert. Das hat etwas mit unserem Presseumfeld und mit einer ehrlichen und schonungslosen Kommunikation zu tun. Vor allem die Kosten des Projektes dürfen nicht verschleiert oder klein geredet werden. Falsche Angaben werden später zum Bumerang oder können am Ende sogar zum Scheitern des Projektes führen. Wer nicht rückhaltlos informiert, produziert die „Wutbürger“, die sich am Ende auch über rechtsstaatliche Normen hinwegsetzen. Wenn das Management und die Politik nicht von Anfang an den Dialog mit den Bürgern und einen Konsens suchen, muss das Projekt später darunter leiden.
Deutschland hat den (guten) Ruf eines Ingenieurlandes. Viele unserer Nachbarländer beneiden uns um die deutsche Fähigkeit zu organisieren, zu koordinieren und umzusetzen. Die unendliche Geschichte der Elbphilharmonie in Hamburg und vielfältige Hiobsbotschaften vom BER stehen stellvertretend für andere Großprojekte, bei denen die ursprüngliche Planung versagt und die Kosten aus dem Ruder gelaufen sind; unser positives Image als Ingenieurland gerät da schnell ins Wanken. Sind Großprojekte grundsätzlich zu komplex, um sie zu handhaben, oder machen wir von vorne herein den Fehler, mit falschen Erwartungen an die Möglichkeiten des Managements dieser Komplexität heranzugehen? Was ist Ihr persönlicher Rat an Investoren, Planer und Manager?
Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass Deutschlands Ingenieure jedes Großprojekt zustande bringen – sie tun das ja auf der ganzen Welt sehr erfolgreich. Auch können deutsche Großprojekte heute gar nicht mehr alleine von deutschen Ingenieurbüros geplant werden, denn von einer bestimmten Auftragssumme an ist eine europaweite Ausschreibung vorgeschrieben. Die kann dann auch ein italienischer oder spanischer Anbieter gewinnen – womöglich auch deshalb, weil er preisgünstiger ist. Das muss aber noch lange nicht heißen, dass er weniger Ideen hat und dass er schlechter arbeitet. Die Frage ist nur, wie vertraut er mit den Tücken des deutschen Baurechtes ist. Es wäre wohl besser gewesen, erst einmal ein einheitliches europäisches Baurecht zu schaffen, ehe man die europaweite Ausschreibung zur Pflicht gemacht hat. Auch damit müssen wir leben. Und weil kein Großprojekt mit dem anderen vergleichbar ist, können Sie von mir auch kein allgemeingültiges Erfolgsrezept erwarten. Jedes ist für sich ein Prototyp und folgt seinen individuellen Umfeldbedingungen. Da kann ich nur auf das verweisen, was ich eingangs schon gesagt habe: große Sorgfalt und Vorbereitung vor dem Baubeginn. Und denen, die es realisieren sollen, viel Glück wünschen.
Hartmut Mehdorn, Irmhild Plaetrich