Hilfe, meine Vermessung ist nicht das, was ich bin
Vergleichbarkeit und Ununterscheidbarkeit als Zielbild einer quantifizierten Welt
Dirk Werth, Chefredakteur IM+io
Heute war kein guter Tag: Nur 6.000 Schritte geschafft, keine 4 Stunden produktive Arbeitszeit und dann auch noch 4.522 Kilokalorien zu mir genommen. Also insgesamt ein 43% Tag. Unzufriedenheit macht sich breit. Schnell noch den Index des Kollegen checken: 68%. Die Unzufriedenheit wird noch größer. Was ist denn der Benchmark in der Bestenliste? 123%! Nun ja, damit habe ich meinen Unzufriedenheitsindex für heute definitiv maximiert.
Digitalisierung hat im wahrsten Sinne des Wortes einen Effekt: die Welt wird nummerisiert. Zum einen bekommt alles und jedes eine eindeutige Identifikationsnummer. Zum anderen bilden wir jedes erdenkliche Phänomen in Zahlen ab: wir kodieren Gegenstände, Sachverhalte und selbst imaginäre Konzepte in (Mess-) Werten. Denn am Ende des Tages bedeutet Digitalisierung eben im Kern die Quantifizierung der Welt.
Aber eine Digitalisierung des Analogen hat weitreichende Konsequenzen. Wir können bereits beobachten, dass alles digital codifiziert wird – ja, sogar Menschen und/oder deren Persönlichkeiten. Worin genau besteht aber der Unterschied zwischen der Persönlichkeit und dem digitalen Profil eines Menschen? Auch wenn Ihnen jetzt tausende Aspekte einfallen mögen – betrachtet man die Frage von der Ergebnisseite, wird die Antwort schon schwierig: Wenn ich auf Basis des digitalen Profils die Entscheidungen eines Menschen zuverlässig vorhersagen kann, dann ist das Ergebnis in beiden Fällen das gleiche. Ob gekaufter Artikel, Fernsehprogramm oder Partnerwahl, entscheidet dies mein Wille oder mein vermessenes Ich? Bereits Alan Turing formulierte in seinem berühmten Test die Ununterscheidbarkeit von Mensch und Maschine als zentrales Kriterium. Auch auf die Welt der Wirtschaft kann man dies übertragen: Das gilt sowohl für den heute gängigen Ansatz des „Digital Twin“, also der digitalen Repräsentation eines technischen Objektes, bspw. einer Maschine, als auch für ganze Unternehmen, die sowohl intern als auch extern in digitalen Softwaresystemen ab- und nachgebildet werden. Wenn es denn gelingt, im jeweiligen Fall das Handlungsergebnis digital vorauszusagen und damit eben genau oben formulierte Ununterscheidbarkeit auf der Ergebnisebene herzustellen, ja dann stellen sich drei entscheidende Fragen:
Erstens: Wo liegt denn dann genau der Unterschied zwischen analog und digital?
Zweitens, vorausgesetzt beide sind auch beidseitig verkoppelt: Welche Seite ist dann die führende und welche die geführte?
Und Drittens: Wo genau liegt die individuelle Differenzierung, wenn jeder das Ergebnis vorhersagen kann?
Abschließen möchte ich mit einer Beobachtung, die so gar nicht in unsere aktuelle Weltsicht passen mag: Die Welt verhält sich unerwartet! Sei es die Veränderung der welt- und innenpolitischen Lage in den Vereinigten Staaten, sei es der plötzliche Stillstand der Globalisierung oder die kurzfristige Einführung von digitaler Remote-Only-Lehre in deutschen Hochschulen. Meine Erfahrung hat gezeigt: Wenn man glaubt, ein komplexes System im Detail verstanden zu haben, genau dann beginnt es, sich unerwartet und unvorhersagbar zu verhalten. Dem Flügelschlag des Schmetterlings in Südamerika sei Dank.
In diesem Sinn, bleiben Sie gesund und lassen Sie uns gespannt in die Zukunft blicken, die vieles sein mag, aber am allerwenigsten erwartbar.