Neustart Corona
Warum die Pandemie für den wirklichen Beginn des digitalen Zeitalters steht
Dirk Werth, Chefredakteur IM+io
In ihrer Neujahrsansprache 2020 fordert die Bundeskanzlerin vehement, dass ein digitaler Ruck durch Deutschland gehen muss. Angela Merkel erklärt die Absicht der Regierung, alle Büroarbeitsplätze in Deutschland flächendeckend zu digitalisieren. Auch alle Hochschulen müssen ihre Bildungsangebote vollständig in digitales Lernen überführen– Präsenzvorlesungen werden bundesweit untersagt. Die Bundeskanzlerin schließt mit den Worten, dass dies alles in den nächsten vier Monaten umgesetzt werden muss.
Ich kann den Aufschrei im Land förmlich hören. Weltfremd, unrealistisch, schlichtweg unmöglich sind vermutlich noch die nettesten Beschreibungen, die man zu dieser Ansprache lesen kann. Tatsächlich hat diese Rede – wie Sie wissen – nie stattgefunden. Der darin angekündigte Digitalisierungsschub jedoch schon. Und das in einem Tempo, mit einer Stringenz und so großflächig, dass einem immer noch die tiefe Verwunderung auf die Stirn geschrieben steht. Lassen Sie mich klarstellen: Die Corona-Pandemie ist ein schreckliches Ereignis, das sicher zu den schwärzesten Kapitel der jüngeren Geschichte zählen wird. Allein die zahlreichen menschlichen Schicksale und das tiefe Leiden der Betroffenen sind nur schwer in Worte zu fassen. Auch die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie sind zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht absehbar, eine weltweite Rezession scheint sicher. Aber so schrecklich diese Zeit auch ist, zur Wahrheit gehört auch, dass wir sie akzeptieren müssen – denn den Ausbruch können wir nicht mehr rückgängig machen. Vielmehr ist es geboten, nach vorne zu blicken und aus der Situation Chancen abzuleiten und diese zu ergreifen.
In der letzten Woche habe ich mit einem CIO gesprochen, der mir berichtet hat, was Corona für sein Unternehmen und seine Tätigkeit bedeutet: Plötzlich kann er Projekte in nur drei Wochen umsetzen, – inklusive aller Freigabeprozesse und Datenschutzanalysen – die er in der Vor-Corona-Zeit noch nicht mal zur Diskussion auf die Tagesordnung gesetzt hätte. Und wir alle merken plötzlich: Es geht eben doch! Für uns Deutsche ein völlig ungewohntes Gefühl. Zugegeben, es kratzt und holpert noch an allen Ecken und Enden, sei es im digitalen Homeoffice, an der digitalen Front der Hochschullehre oder an einer der unzähligen anderen Ad-Hoc-Umsetzungen der digitalen Transformation. Gleichwohl, ich bin davon überzeugt, in den letzten Wochen ist mehr digitaler Mehrwert entstanden als im gesamten Jahr 2019 – vermutlich sogar noch länger.
Es ist dieses „es geht eben doch!“, das meine Hoffnung nährt. Sicher, es wird Bereiche geben, in denen wir wieder in die Vor-CoronaZeit zurückfallen werden – ich fürchte, dazu gehören auch die Schulen. Aber in einer Vielzahl von Bereichen haben die Beteiligten digitales Blut geleckt. Es ging eben doch, also lassen Sie uns das ausbauen und die Fehler beseitigen. Im Rückblick werden wir in den Geschichtsbüchern das Frühjahr 2020 als den Zeitpunkt lesen, zu dem die digitale Gesellschaft ihren Anfang genommen hat, den wirklichen Beginn der konsequenten und tiefgreifenden Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Das zumindest ist beruhigend, finde ich.