„IT-Architekturen sind kein Selbstzweck“
August-Wilhelm Scheer im Gespräch mit Irmhild Plaetrich, IM+io
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Kurz und Bündig
Hyperautomation liegt bei innovativen Unternehmen im Trend. Erfolgreich sind jedoch nur jene, die die neue Komplexität der Systeme beherrschen, erklärt Prof. Scheer im Interview mit IM+io. Es geht um Systeme, die aus vielen Komponenten bestehen, die untereinander stark verknüpft sind. Wichtig ist, den Überblick über die Strukturen zu behalten. Es kommt immer mehr auf Methoden und Konzepte an, auf Architekturen. Fachverantwortliche müssen wissen, wie sie ihre Anforderungen und Prozesse beschreiben können. So können Komplexität beherrscht und zugleich die Möglichkeiten, die die IT bietet, richtig genutzt werden.
Viele Unternehmen, die mehr Flexibilität und Agilität in ihrem Business anstreben, hat der Trend zur Hyperautomation erreicht. Dabei geht es nicht allein um eine neue Technologie, sondern um den orchestrierten Einsatz bestehender Technologien, Tools und Plattformen zur Steigerung von Effizienz und Innovation. Ökonomisch erfolgreich und Treiber von Innovation kann Hyperautomation aber nur dann sein, wenn diese als strategischer und ganzheitlicher Ansatz betrachtet wird. Dazu wird ein Konzept benötigt, das Ziele und Organisationsstruktur eines Unternehmens einbezieht. Darüber haben wir mit Prof. Dr. August-Wilhelm Scheer, Gründer und Alleingesellschafter der Scheer Unternehmen gesprochen, der in seinem Buch „Composable Enterprise“ ein solches Konzept detailliert entwickelt hat.
IM+io: In einer Zeit des steigenden Wettbewerbs- und Innovationsdrucks wird die effiziente und agile Prozessgestaltung und -automatisierung zur wichtigen Kernaufgaben eines Unternehmens. Dabei wird die IT-Architektur zum erfolgskritischen Faktor. Sehen Sie im Konzept des Composable Enterprise die IT-Architektur der Zukunft?
AWS: IT-Architekturen sind kein Selbstzweck, sie sollen Unternehmen in ihren Zielen unterstützen. Ein Composable Enterprise verfügt über eine flexible Architektur, die das Unternehmen in die Lage versetzt, auf Veränderungen agil und innovationsfreudig zu reagieren. Das geht nur mit einer entsprechenden IT-Architektur, die plattformbasiert ist. Der Weg geht weg von monolithischen Architekturen mit langen und schwerfälligen Zyklen der Anpassung, hin zu Architekturen, die dazu dienen, dass man Informationssysteme schnell erweitern sowie Komponenten für Business Activities austauschen kann. Nur so können Businessmodelle flexibel verändert werden. All dies schafft die Voraussetzung für die benötigte Innovationskraft von Unternehmen.
IM+io: In vielen Unternehmen krankt es aber an der praktischen Umsetzung. Welche entscheidenden Schritte müssen Unternehmen gehen, um sich zum Composable Enterprise umzubauen?
AWS: Es geht um die Umstellung auf Plattformarchitekturen. Diese stellen die notwendigen Werkzeuge bereit, mit denen man Anwendungen schnell und flexibel entwickeln kann. Dabei geht es zum einen darum, Prozesse zu beschreiben, also eine Design Funktion. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Integrationsfähigkeit. Ziel ist es ja, unterschiedliche Komponenten von unterschiedlichen Herstellern und auch eigenentwickelte Komponenten zu durchgängigen Prozessen zu montieren. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen dabei auch die Fachabteilungen. Entwicklungen wie Low-Code und No-Code, verbunden mit den Möglichkeiten der KI, machen die Beteiligung dieser Fachabteilungen sehr viel einfacher. Wir sehen hier also einen starken Trend weg von monolithischen Systemen.
IM+io: Um die Jahrtausendwende wurden monolithische ERP Systeme gefeiert, weil sie alle Anwendungen aus einem Guss lieferten und das Arbeiten mit fragmentierten Lösungen überflüssig machten. Jetzt sprechen wir darüber, erneut den Fokus auf einzelne Anwendungen und Komponenten zu legen. Warum ist das dennoch aus Ihrer Sicht der richtige Weg?
AWS: Es gibt keine optimale Organisation. Organisationsstrukturen folgen gewissen Prinzipien. Diese Prinzipien haben Vor- und Nachteile. Die monolithischen Systeme haben einen Trend zur Zentralisierung und folgen damit dem Ziel, die Ressourcen eines Unternehmens möglichst hoch auszulasten. Wenn man etwas zentral organisiert, braucht man IT-Systeme für alle Organisationseinheiten nur einmal einzusetzen.
Man ist dann aber häufig weit weg vom Kunden, vom Partner oder Lieferanten. Es ist nicht möglich, individuell auf bestimmte Eigenschaften von Prozessen, Ländern oder Kundengruppen einzugehen. Will man hier eine größere Flexibilität erreichen, muss man mehr dezentralisieren, die Prozesse in den Vordergrund stellen und mehrere unterschiedliche IT-Systeme verwenden. Beide Organisationsansätze, also einerseits Ressourcen gut auszunutzen und andererseits Prozesse kundenfreundlich zu gestalten, sind sinnvoll. Deshalb gilt es, einen Kompromiss zu finden.
IM+io: Heißt das, dass ERP Systeme auch in Zukunft ihre Berechtigung haben werden?
AWS: ERP Systeme werden nicht verschwinden, weil sie solche Prozesse unterstützen, bei denen Unternehmen sich nicht wirklich differenzieren können. Dazu gehören Standardformate wie die Finanzbuchführung oder Materialwirtschaft. Aber jenseits solcher Standards gibt es viele Möglichkeiten sich zu differenzieren, um näher an den Markterfordernissen zu sein.
Wichtig ist dies vor allem bei Prozessen, die über die Unternehmensgrenzen hinaus gehen, wie z.B. bei der Beziehung zu Kunden, Partnern und Mitarbeitern. Hier gibt es viele Ansatzpunkte: Wie kann ich meine Internetshops flexibel anbinden, wie kann ich IoT flexibel in meine Systemwelt integrieren, oder wie kann ich zu Lieferanten innovative, plattformbasierte Prozesse aufbauen, wie kann ich Fachkräfte gewinnen und halten? In anspruchsvollen Märkten helfen hier standardisierte Abläufe nicht weiter. Ich brauche die Möglichkeit der Individualisierung. Der Vorzug des Composable Enterprise ist dabei, dass die Systeme in kleinere Einheiten zerlegt werden, die dann flexibel ausgetauscht, erweitert oder ersetzt werden und dann zu Prozessen zusammenmontiert werden können.
Bei der Frage monolithisch versus Individualisierung geht es am Ende um eine genaue Betrachtung der Faktoren, die für eine Individualsoftware sprechen und jener, die geeignet sind für standardisierte, ressourcensparende Systeme. Bei dem Ansatz des Composable Enterprise kommt dem Thema Integration eine ganz besondere Bedeutung zu. Dank Plattformarchitekturen können zum Beispiel Individuallösungen bruchlos in die gesamten IT-Architektur integriert werden
IM+io: Sie haben bereits erwähnt, dass Sie die Verantwortlichen informiert haben. Wie reagieren denn die Entwickler:innen beziehungsweise die Unternehmen, wenn sie mit diesen gefährlichen Lücken in ihren Systemen konfrontiert werden?
CE: Wir haben eigentlich eine Schwachstelle in einer allgemein verwendeten Technologie gefunden, haben also kein spezifisches Unternehmen gehackt oder Ähnliches. Aber unsere Beispiele, die wir veröffentlicht haben, hatten natürlich einen Bezug zu bestimmten Diensten und Unternehmen und enthielten auch eine Code-Basis, mit der man es selbst ausprobieren konnte. Als wir die Unternehmen, zum Beispiel OpenAI und Microsoft, informiert haben, haben wir sehr schnell Termine bekommen und lange Gespräche mit verantwortlichen Personen geführt. Alle waren sehr interessiert an unseren Erkenntnissen und auch daran zu erfahren, ob wir weitere Gefahren aufgedeckt, aber noch nicht veröffentlicht haben. Auf der anderen Seite waren wir sehr interessiert daran herauszufinden, ob das jeweilige Unternehmen Gegenmaßnahmen hat, die wir nicht kennen. Es war ein bisschen wie ein Katz-und-Maus-Spiel, aber wir wurden ernst genommen.
Es ist aber auch klar, dass diese Unternehmen mit einem milliardenschweren Business mit Sprachmodellen nicht aufgrund der Bedenken von ein paar Leuten aus Saarbrücken den Laden abschließen. Die müssen natürlich eine Balance finden zwischen: „Es muss etwas getan werden“, und: „Wir verwerfen unseren Business Case.“
Wir wurden gebeten unsere Entdeckungen erst einmal nicht zu veröffentlichen, um ihnen Zeit zu geben die Lücken zu beheben. Das branchenübliche ‚repsonsible disclosure‘ ist uns wichtig, daran halten wir uns natürlich. Alles andere würde gegen meine Prinzipien und Arbeitsethik gehen. Als nach sechs Wochen eine Lösung gefunden war, durften wir dann auch öffentlich darüber sprechen.
IM+io: Wie gehen die großen Player im ERP Geschäft wie die SAP mit diesem hybriden Ansatz um?
AWS: Auch SAP hat mit der Business Technology Platform (BTP) einen Schritt in diese Richtung gemacht. Das macht aus verschiedenen Gründen Sinn. Das Unternehmen hat in den vergangenen Jahren verschiedene Systeme dazugekauft, die jetzt mit dem ERP System verbunden werden müssen. Dazu braucht man Integrationswerkzeuge.
Ein anderer Aspekt ist, dass sich durch den Trend in die Cloud zwar eine gewisse Standardisierung ergibt, dennoch ist kein Unternehmen wie das andere. Wenn Unternehmen etwas ergänzen, verändern oder neue Anwendungen integrieren wollen, brauchen sie dazu die passenden Werkzeuge. Der Hersteller will aber nicht mehr, dass der Kunde diese Änderungen in die Codeline einbringt, und oft wäre das auch gar nicht möglich. Als Antwort darauf werden entsprechende Werkzeuge über die Plattform angeboten.
IM+io: Werden in der Konsequenz die ERP Hersteller den Plattform Markt bestimmen?
AWS: Ganz sicher nicht. Außerhalb der SAP Welt gibt es für den Kunden vielfältige Möglichkeiten, jenseits des Standards. Kunden wollen oft eine eigene Plattformarchitektur haben. So eine Plattformarchitektur haben wir entwickelt mit der Scheer PAS. Dort entwickeln wir für eine ganze Reihe von Unternehmen sehr spezifische Lösungen genau dort, wo diese ihre einzigartigen Wettbewerbsvorteile sehen.
IM+io: Das entspricht schon fast der Storyline verschiedener Filme, in denen die Künstliche Intelligenz zur Bedrohung für die Menschheit wird und die Kontrolle übernimmt. Wie wahrscheinlich ist ein solches Szenario aus Ihrer Sicht?
CE: In diesen Filmen wird eigentlich immer unterstellt, dass ein System böse ist. Wir sind aber grundsätzlich der Meinung, dass die KI nicht ihre Zielfunktion ändern wird. Das heißt sie wird wahrscheinlich effizienter werden, wird Dinge anders machen, aber sie wird vermutlich bestrebt sein, den Status Quo beizubehalten und nicht etwas fundamental kaputt zu machen. Aber wahrscheinlich wird die KI auch hin und wieder aus Versehen etwas Falsches tun, weil sie unbeabsichtigt gelernt hat etwas Böses zu tun.
IM+io: Unternehmen scheitern heutzutage weniger an technologischen Restriktionen, sondern eher daran, die eigenen Ziele klar zu definieren und in der Folge sinnvolle Prozesse zu gestalten. Bei all diesen Entwicklungen und neuen Möglichkeiten stellt sich am Ende die Frage nach der Beherrschbarkeit der entstehenden Komplexität…
AWS: Es gibt in der Tat widersprüchliche Tendenzen. Einerseits wird die IT immer einfacher, auf der anderen Seite sind die Systeme, die dann entstehen, sehr komplex. Es handelt sich um Systeme, die aus sehr vielen Komponenten bestehen, die untereinander sehr stark verknüpft sind. Daher muss man den Überblick über solche Strukturen behalten. Deswegen kommt es immer mehr auf Methoden und Konzepte an, die man als Architekturen bezeichnet.
Enterprise Architecture ist als Konzept nicht neu, erhält aber eine ganz neue Relevanz. Gefragt ist die fachliche Kompetenz – also die des Logistikers, des Vertriebsverantwortlichen, der Finanzverantwortlichen. Diese müssen sich in Architekturen auskennen und müssen wissen, wie sie ihre Anforderungen und Prozesse beschreiben können. Das sind die notwendigen Fähigkeiten, um ein Unternehmen so aufzustellen, dass es die Komplexität beherrscht und zugleich die Möglichkeiten, die die IT bietet, auch richtig ausnutzt. Organisatorische Fähigkeiten und Management Fähigkeiten erhalten deshalb eine übergeordnete Bedeutung.
Unternehmen müssen nämlich aufpassen, dass sie sich nicht in Fallstricken verfangen. Der Blick darf nicht nur auf die technischen Möglichkeiten wie Cloud und KI gerichtet sein. Manches Unternehmen meint, wenn es ein bestehendes System in die Cloud überträgt, dass daraus bereits ein wirtschaftlicher Nutzen entsteht. Der ergibt sich aber nur dann, wenn man auch die Prozesse verbessert. Man muss aufpassen, dass man keine Scheinerfolge erzielt und sich auf die technologische Innovation allein verlässt.
Deshalb muss der Fokus auf den Herausforderungen eines Unternehmens liegen. Es müssen die richtigen Fragen gestellt werden: Wie kann ich agil bleiben? Wie fördere ich Innovationsfreude, wie verbessere ich meine Kundenähe? Das sind keine technischen Begriffe, das sind Ansprüche die ich als Unternehmer heute an meine Organisation und die Denkwelt des Managements richten muss. Und dafür muss man natürlich dann die entsprechen IT-Architektur verfügbar machen – also mit Plattformarchitekturen.
Mein einfacher Rat ist also, sich nicht durch technische Entwicklungen blenden zu lassen, sondern die Ziele des Unternehmens, das Business Modell, in den Vordergrund zu stellen und danach die Informationssysteme auszurichten!