Digitales Lernen ist anders als wir denken
Warum die digitale Zukunft nicht im Wissen, sondern im Können und Wollen liegt
Dirk Werth, Chefredakteur IM+io
Wenn ich mir anschaue, womit meine Kollegen und Kolleginnen heutzutage lernen, stoße ich sehr häufig auf YouTube. Egal ob Programmierer, Heimwerkerin oder Hobbysportler, YouTube ist die erste Anlaufstelle, wenn es darum geht, schnell etwas zu lernen. Interessanterweise geht es dabei gar nicht um das Medium selbst, das die gebundenen Bücher ablöst. Vielmehr kann man beobachten, dass der Trend vom klassischen wissensorientierten Lernen hin zum aktionsorientierten Lernen geht. Denn die Videoplattform vermittelt weniger Wissen, dafür mehr Handlungsanweisungen zur Problemlösung.
Überspitzt formuliert: Heutzutage geht es im (zukunftsgerichteten und digitalen) Bildungswesen nicht mehr um die Vermittlung von Wissen. Dabei meine ich natürlich nicht das Basiswissen, über das wir alle (hoffentlich) verfügen, sondern ich beziehe mich auf das Spezial- beziehungsweise Fachwissen. Warum? Weil digitale Technologien – denken Sie an ChatGPT und Co. – inzwischen ausgezeichnet in der Lage sind, Fachwissen bedarfs-, situations- und kontextgerecht bereitzustellen.
Aber: Wissen ist nicht Können! Selbst, wenn ich genau verstanden habe, wie ein spezielles Flugzeug funktioniert und sogar Sinn und Zweck jedes einzelnen Schalters auswendig kenne, so kann ich das Flugzeug trotzdem nicht fliegen. Viele sprechen aktuell von „Kompetenzorientierung“ oder „Skillfokussierung“. Nennen Sie es, wie Sie wollen, im Kern geht es um den Umstand, dass Menschen in der Lage sind, reale Probleme effektiv und effizient zu lösen – praktisch, nicht theoretisch.
Spannend wird die Sache, wenn man sich fragt, wie man vorgelagert Menschen dazu bringt, zu lernen – oder besser noch: lernen zu wollen. Denn, dass Lernmotivation einer der entscheidendsten Faktoren für den Lernerfolg ist, ist mittlerweile unstrittig. Aber wie kann man Motivation systematisch herbeiführen?
Ich glaube, dass Neugier den Schlüssel zur Lernmotivation darstellt. Neugierige Menschen wollen die Dinge verstehen, ihnen auf den Grund gehen. Neugier zu erzeugen ist ein zentraler Ansatz des “Inquiry-based Learnings”, bei dem die Lernenden aktiv in den Lernprozess einbezogen werden. Sie lernen, ein Problem selbstständig zu identifizieren, zu hinterfragen und auf verschiedensten Wegen Lösungen dafür zu entwickeln. Dabei fördert diese Art des Lernens nicht nur die fachlichen Kompetenzen, sondern auch Soft Skills wie Teamarbeit, Kommunikationsfähigkeit und Selbstmanagement.
Es geht darum, den Lernenden zu zeigen, dass Lernen nicht nur eine Pflicht ist, sondern dass es auch persönlich bereichernd sein kann. Dadurch erzeugt man eine natürliche Motivation zum Lernen.
Einige Wenige versuchen, das konsequent zu Ende zu denken. So praktiziert die international sehr erfolgreiche Programmierschule “42”, die ursprünglich aus einer französischen Privatinitiative entstandt einen innovativen Gegenentwurf zu unserem klassischen Verständnis einer Qualifikationseinrichtung und zeigt, dass Lernen auch anders funktionieren kann. Hier lernen die Studierenden selbstgesteuert und in Projekten, ohne Vorlesungen; das Modell betont die Bedeutung von Neugier, Eigeninitiative und Selbststeuerung im Lernprozess.
Stellen Sie sich vor, ich erzähle ihnen von einer modernen Bildungseinrichtung, in der es kein Lehrpersonal oder Professorinnen und Professoren gibt, die jedoch trotzdem hocheffektiv und bedarfsgerecht funktioniert – übrigens auch ziemlich kostengünstig. Würden Sie mir glauben?
Ich wünsche Ihnen viele Aha-Effekte beim Googeln und hoffe zutiefst, ihre Neugier geweckt zu haben, mehr über das neue Lernen erfahren zu wollen. Denn dann sind auch Sie Teil der Transformation des Lernens.