Formen, was uns formt
Selbstbestimmung mit digitaler Medienkompetenz
Gerrit Fröhlich, Universität Trier
Kurz & Bündig
Digitale Selbstvermessung wird häufig unter das Label Selbstoptimierung gefasst und in aller Regel als Ausdruck von Selbstzwang oder eines „unternehmerischen Selbst“ kritisiert. Diese Lesart ist nicht falsch, sollte aber ergänzt werden. Sich im Spiegel digitaler Medien zu erkennen und auf dieser Basis an sich zu arbeiten, bietet auch Möglichkeiten der Widerständigkeit gegenüber externen Normen, gegen Vereinnahmung und Instrumentalisierung. Der Schlüssel hierzu liegt unter anderem in digitaler Medienkompetenz, die es ein Stück weit ermöglicht, zu formen, was uns formt.
Sich in digitalen Spiegeln zu betrachten und verändern zu wollen hat keinen guten Ruf. Selftracking ist jedoch – wie alle Formen der Arbeit an sich selbst (auch Selbsttechnologien genannt) – immer ambivalent. Es ist durchaus zu kritisieren, weist aber ebenfalls Potenziale auf, von der Individuen profitieren können – und zwar nicht im instrumentellen Sinn. Unter Rückgriff auf die Philosophen Foucault und Menke lässt sich zeigen, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit die Nutzer einigermaßen selbstbestimmt mit den neuen Technologien experimentieren können.
Digitale Selbstvermessung ist ein Bündel von Medienformaten zur wissentlichen Erfassung, Speicherung, Verarbeitung und/oder Weitergabe von Daten rund um Körper, Verhalten und/oder das Umfeld – häufig im Zusammenhang mit angestrebter Veränderung. Hierzu zählen Schrittzähler, Waagen mit Internetanschluss, Schlafsensoren und vieles mehr. Dabei gibt es neben den „Wald-und-Wiesen“-Nutzern, die Schritte, Menstruationszyklen oder das Einhalten einer Diät protokollieren, sich selbst aber nicht als Selbstvermesser bezeichnen würden, auch die Quantified-Self-Gruppierung, deren Mitglieder ihr Verhalten als Selftracking reflektieren und sich über Erkenntnisse und Methoden austauschen. In diesen Tagen ist mit „Fragen zu Corpus Delicti“ von Juli Zeh ein Nachtrag zu ihrer Dystopie erschienen, in dem es heißt: „‚Quantified Self‘ erscheint mir wie ein zugespitztes Symbol für eine gesamtgesell-schaftliche Mentalität: den Selbstoptimierungswahn.“ [1] In einem Artikel formulierte sie vor einigen Jahren noch drastischer: „Auch wenn jeder Selbstvermesser diesen Gedanken empört von sich weisen würde: Es gab in Deutschland schon einmal eine Bewegung, die meinte, den Wert eines Menschen am Kopfumfang ablesen zu können.“ [2] Kritik an Selftracking ist eher die Regel als die Ausnahme. Es herrscht das Bild einer blinden Übernahme von Körper- oder Produktivitätsnormen vor.
Nach einer journalistisch neutralen bis wohlwollenden Rezeption zu Beginn, als Selbstvermessung noch als harmlose Spielerei wahrgenommen wurde, wurde das Framing mit Verbreitung der Technologien zusehends negativer. Ebenso kritisch wie in der medialen Darstellung ist der Ton in den Sozialwissenschaften. Für Selke war das Phänomen früh Ausdruck einer „immer weiter gesteigerten Effizienz- und Konkurrenzorientierung in krisengebeutelten Gesellschaften“ und er konstatierte „grundlegende Entmenschlichungstendenzen“ [3]. Andere subsumieren Selbstvermessung bis heute von vornherein unter dem Begriff der Selbstoptimierung oder des „unternehmerischen Selbst“ [4].
Zunächst ist Selftracking ein digitales Update dessen, was Michel Foucault „Selbsttechnologien“ genannt und bis in die Antike zurückverfolgt hat. Darunter sind „gewußte und gewollte Praktiken zu verstehen, mit denen sich die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen“ [5].
Mit anderen Worten: eine Verschränkung von Selbsterkenntnis und Selbstsorge mit dem Ziel, an sich zu arbeiten. Beispiele dafür sind Meditation, Sport, Diätetik sowie allerlei Selbstprüfungen. Digitale Selbstvermessung lässt sich insbesondere in die Reihe der „medienbasierten Selbsttechnologien“ [6] stellen, tritt also neben Tagebuchführung oder Vorher-Nachher-Fotos.
Ambivalenzen der Selbsttechnologien
Selbsttechnologien – ob digital oder analog – sind von Grund auf ambivalent: Sie liegen in einem Spannungsfeld aus Ermächtigung (weil sie zu mehr befähigen) und Unterwerfung (weil sie Normen in sich tragen), und sind eingebettet in zwei Modelle, die Foucault „Gouvernementalität“ und „Ästhetik der Existenz“ nannte.
Mit Gouvernementalität ist Führung durch Freiheit gemeint: Individuelle Handlungsmacht ist hier paradoxerweise notwendige Voraussetzung für eine Regierbarkeit, die an freien Subjekten ansetzt, deren Verhalten in der Summe dann gewünschte Folgen hat. Deshalb soll man der Norm nicht nur genügen, sondern es aus eigenen Stücken tun und seine Fähigkeiten weit genug ausbauen, um ihr entsprechen zu können. Man soll wollen, was man soll. Es ist eine Freiheit, die durch einen engen Korridor führt und ein Funktionieren in einem vorgegebenen Kontext erlaubt. Mit Blick durch diese Brille wird „Empowerment“ zu einem Schlagwort, das die Selbstführung gerade so weit anregen will, dass sie sich unter externe Ziele subsumieren lässt. Selbsttechnologien werden hier deshalb kritisch betrachtet, da sie als Symptom subtiler Zwänge erscheinen. Es überrascht nicht, dass in der Selbstvermessung gerne die medientechnische Entsprechung dieses Weltbildes in Reinform gesehen wird.
Foucault interessierte sich jedoch ebenso für „die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden“ [7]. Fündig wurde er in der antiken Idee der „Ästhetik der Existenz“, die sich verstehen lässt als „Wissen davon, wie man sein eigenes Leben regieren sollte, um ihm die Gestalt zu geben, die die schönstmögliche sein würde“ [8]. Diese Ethik basiert auf Selbstpraktiken, welche „die Gestalt einer Selbstkunst [annehmen], die von einer moralischen Gesetzgebung relativ unabhängig ist“ (ebd.). Ganz so wie die Gouvernementalität setzt sie bei der individuellen Selbstführung an, nutzt diese jedoch in einem anderen Kontext, um „zu einem reinen Genuß seiner selbst” [9] zu gelangen. Hierin sah Foucault nicht zuletzt eine Chance für Widerständigkeit gegen äußere Zwänge.
Was aber unterscheidet die disziplinierenden Selbsttechnologien von den subversiven? Hier hilft Menkes Differenzierung des Begriffs der Übung, der ebenfalls eine doppelte Stelle im Werk Foucaults besetzt [10]. Auch hier tritt diese Ambivalenz auf, insofern Übungen einerseits zu mehr Fähigkeiten führen, andererseits auch Mikropolitiken der Macht darstellen. Der Knackpunkt liegt in einer Differenz zwischen Freiheit und Autonomie: Disziplinierende Übungen zeichnen sich zwar durch einen Gewinn von Fähigkeiten aus, um von außen vorgegebene Normen einhalten zu können – womit die enge Freiheit einhergeht, ökonomischen Erfolg zu erlangen oder einen normierten, „schönen“ Körper zu erhalten. In ihren ästhetisch-existentiellen Formen bedeutet Übung aber gleichzeitig Zuwachs an Autonomie: Die erworbenen Fähigkeiten ermöglichen hier die Entscheidung, eine Norm überhaupt anzuerkennen oder nicht. Ausschlaggebend ist, „daß sich ihr Gelingen nicht als das Erreichen und daher ihr Vollzug nicht als die Verwirklichung eines gesetzten Ziels verstehen läßt. Das Gelingen ästhetischer Tätigkeiten verlangt die Überschreitung jedes vorweg gesetzten Ziels: Sie gelingen gerade, wenn sie zu etwas anderem führen, als was an ihrem Anfang festgelegt wurde.“ [11] Auch hier findet eine Unterwerfung unter Normen statt, allerdings sind es selbstgewählte und beständig in Frage gestellte.

Zweierlei Selbstvermessung
Ebenso lässt sich von zweierlei Selbstvermessung sprechen. Ihre Selbstführung verbessern wollen beide Typen: der gouvernementale Typ nutzt Technologie, um die Strandfigur schneller zu erreichen oder die Krankenkassen zu entlasten, der ästhetisch-existentielle Typ, um eigene Normen zu setzen oder sie gar infrage zu stellen. Diese Formen der Selbstvermessung „gelingen gerade, wenn sie zu etwas anderem führen, als was an ihrem Anfang festgelegt wurde.“ [11] Das ist zu beobachten, wenn beispielsweise nicht nur die für die tägliche Produktivität notwendige Schlafdauer bestimmt werden soll (das wäre gouvernemental), sondern beim Schlafprotokoll vielleicht gar nicht mehr Produktivität das Ziel ist, sondern ein neues, selbstgewähltes, das ohne direkten Nutzen für eine allgemeine Ordnung wäre – beispielsweise angenehme Träume. So birgt Selbstvermessung ebenso das Potential, sich gegen die Norm zu wenden und dem Streben nach dem produktiven Tag oder dem wohlgeformten Körper alternative Lebensentwürfe entgegenzuhalten. Wenn Gary Wolf die Philosophie der Selbstvermesser mit den Worten beschreibt: „Efficiency implies rapid progress toward a known goal. For many self-trackers, the goal is unknown“, dann liest sich das wie eine Paraphrase der „ästhetische[n] Freiheit zu Veränderungen und Prozessen, die keiner teleologischen Ordnung gehorchen.“ [13]
Dabei lässt sich argumentieren, dass den Möglichkeiten der Technikgestaltung bei der Erfüllung dieses Ideals eine entscheidende Rollezukommt. So gibt es den Fall einer promovierten Ingenieurin [14], die an Parkinson leidet, eine App zur Messung der Tippgeschwindigkeit sowie Fehlerhäufigkeit nutzt und die Ergebnisse mit verschiedenen Medikationen korreliert. Sie setzt ihre wissenschaftlich-technischen Fähigkeiten ein, quantifiziert einen für sie zentralen Lebensbereich und bespricht Ergebnis sowie Methoden auf QS-Treffen. Ihr Ziel ist eine Lebensqualität, bei der weder Fitness noch Entlastung der Kassen im Zentrum stehen. Daneben existieren auch andere Varianten digitaler Selbstvermessung: Spielerei, Subversion, Nonsens, aber auch Mischformen von Schrift, Zahl und Bild. Im Rahmen einer öffentlichen Collage hat beispielsweise Danielle Roberts über Jahre hinweg Werte wie ihr Stress- und Energielevel, ihre Stimmung sowie verschiedene Visualisierungen dieser Daten mit Fotografien oder Haikus kombiniert [15]. Der Einsatz ihrer Programmierkenntnisse folgt weniger den Imperativen der Selbstoptimierung als vielmehr ästhetischen Leitlinien, denen Etikette wie unternehmerischem Selbst, Zahlenhörigkeit oder Gesundheitsdiktatur nicht gerecht werden.
Die Kritiker haben nicht unrecht: Viele Apps regen dazu an, sich an Normalitätsgraden wie dem BMI zu orientieren und führen höchstens zur „Freiheit“, schlanker oder produktiver zu werden, den eingeschriebenen Normen also zu genügen und sie stillschweigend zu akzeptieren. Selbstvermessung kann jedoch auch genau jene „algorithmic authority“ unterlaufen, die scheinbar ihre Verhältnisse prägt. Diese Gratwanderung wird durch Autonomie bei der Zielsetzung und Kompetenz bei der Umsetzung bestimmt. Viel hängt von der Reflexionsfähigkeit über die Prämissen und Gestalter der Programme, die vermittelten Werte, ihre Gebrauchskontexte sowie Zugriffs- und Gestaltungschancen ab. Autonomie kann nur dort möglich sein, wo Individuen „aus der Sorge um das Gute des eigenen Lebens in den disziplinär produzierten Bestand an Möglichkeiten und Fähigkeiten eingreifen, die das Subjekt bestimmen. Darin sind sie ‚experimentell’; sie erproben andere – andere als die, zu denen wir diszipliniert und normalisiert wurden – Möglichkeiten und Fähigkeiten der Selbstführung im Hinblick nicht auf die gute, gar bessere Ausführung sozialer Praktiken, sondern die Führung eines guten Lebens.“ [16] Die Bedingung der Möglichkeit, Selftracking in diesem Sinne zu betreiben, besteht in der digitalen Souveränität, die vorgegebenen Strukturen nicht nur passiv nutzen, sondern sie darüber hinaus aktiv gestalten, verändern, unterlaufen oder ablehnen zu können. Nur wer seine digitalen Spiegel selbst formen kann und sich in spielerischer Distanz zu diesen Spiegeln verhalten darf, hat zumindest die Chance, sich von Idealbildern zu befreien und Technik auf eine Weise zu nutzen, für die Selbstoptimierung nicht mehr der passende Begriff ist.