Präventiv gesund!
Digitale Belastungsmessung für den Handwerker von morgen
Deepak Nagaraj, Christoph Al-Taie, Dirk Werth, August-Wilhelm Scheer Institut
Kurz & Bündig
Erkrankungen des Bewegungsapparates stellen eine Hauptursache für Fehlzeiten am Arbeitsplatz dar. Spezifische Erkrankungen des Bewegungsapparates können sich auf verschiedene Körperregionen und berufliche Tätigkeiten beziehen. Das Risiko für den Bewegungsapparat hängt in hohem Maße von der Körperhaltung des Arbeitnehmers ab, die konventionell nicht in Echtzeit überwacht werden kann. Ergonomische Risikobeurteilungen können durch den Einsatz modernster tragbarer Sensorsysteme und entsprechender Techniken der künstlichen Intelligenz effizienter und zuverlässiger durchgeführt werden. Eine Integration eines solchen Präventivsystems in den Betrieb des Unternehmens macht den Arbeitsplatz sicherer, erhöht die Produktivität und senkt die Kosten.
Aufgrund der vielen physisch wie psychisch belastenden Aufgaben im Baugewerbe ist dort die Rate der Arbeitsunfälle oder Burn-outs enorm angestiegen. Gleichzeitig ergreifen nur etwa die Hälfte aller Unternehmen Präventionsmaßnahmen [1]. Dabei könnten hier beachtliche Einsparpotenziale durch entsprechende Maßnahmen realisiert werden. Methoden der Digitalisierung und Künstlichen Intelligenz in Verbindung mit Expertenwissen aus der medizinischen Rehabilitation bieten vielversprechende neue Möglichkeiten die im Folgenden illustriert werden.
Wenn es um die Wartung von Maschinen geht, dann gehört prädiktive Wartung schon beinahe zum Standardrepertoire. Anders sieht das bei den Mitarbeitenden eines Unternehmens aus. Dabei sollten nicht nur ökonomische, sondern auch humanistische Überlegungen zu dem Schluss führen, dass eine optimale psychische und physische Verfassung der Angestellten geboten ist. Genauso, wie eine vorbeugende Wartung eine Maschine in ihrem effizientesten Zustand hält, sollte dies auch mit der wertvollen Ressource „Mitarbeiter“ geschehen. Dies geschieht für Maschinen mittels Sensoren, die für eine Echtzeitüberwachung von kritischen Parametern sorgen und statistischen Methoden, die Schlussfolgerungen und Empfehlungen aufgrund der aggregierten Werte der Parameter erlauben [2].
Die Vorstellung, dass diese Prinzipien auch auf ein präventives Gesundheitssystem für Menschen angewendet werden können, ist spannend. Natürlich sind Menschen selbstbestimmt, weshalb man sie nicht steuern, sondern ihnen lediglich Empfehlungen an die Hand geben kann. So können einem Arbeiter, dessen physische Arbeitsbelastung mittels Echtzeit-Sensorik überwacht und mit Verfahren des Machine Learing ausgewertet wird, über Wearables-Empfehlungen zur Veränderung seiner momentanen Haltung oder am Ende des Arbeitstages Vorschläge zu passenden Ausgleichsübungen gegeben werden.
Was sich quantifizieren lässt, kann auch verwaltet werden, oder aus einer eher medizinischen Warte aus gesehen: ohne Anamnese keine Behandlung. Um allerdings die verschiedenen, variierenden Belastungen über den gesamten Arbeitstag beobachten und analysieren zu können ,bedarf es neuer Technologie. Moderne Sensorik übernimmt die Beobachtung der Körperhaltungen, Deep-Learning-Algorithmen bewerten die Haltungen nach dem Grad und der Art ihrer belastenden Auswirkung auf den Körper. Mehrere Empfehlungssysteme schlagen schließlich die geeignetste Reaktion auf die ermittelten Belastungen vor. Diese Erkenntnisse können auch für die Prozessplanung genutzt werden, die im Hinblick auf die Gesundheit der einzelnen Arbeitnehmer optimiert wird. So werden die Mitarbeiter ihren individuellen Belastungsgrenzen nach für die für sie passendsten Tätigkeiten eingeplant, was neben einer potenziellen Verringerung von arbeitsbedingten Krankheitstagen auch zu einer darüber hinaus gesteigerten Effizienz führen kann.
Auswirkungen von körperlichen Belastungen
Der Krankenstand im Handwerk erfährt in den letzten Jahren einen ansteigenden Trend und lag im Jahr 2018 bei 5,3%, ein Beschäftigter war durchschnittlich an 19,5 Tagen krankgeschrieben [3]. Muskel- und Skeletterkrankungen haben mit 40,1% den dominierenden Anteil an allen Krankheitstagen im Bau- und Ausbaugewerbe [3]. Hierbei ist insbesondere bei den Muskel- und Skeletterkrankungen ein starker Anstieg der Fälle mit steigendem Alter der Handwerker zu beobachten. Aufgrund des demografischen Wandels ist davon auszugehen, dass der Trend steigender Krankenstände in den kommenden Jahren weiter anhalten wird und sich wahrscheinlich sogar verstärken wird. Arbeitsunfälle sind für weitere 6% aller AU-Fälle im Handwerk verantwortlich [4]. Die Produktionsausfallkosten bedingt durch Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems schätzt die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin auf 18,5, den Ausfall an der Bruttowertschöpfung auf 31,7 Milliarden Euro [5]. Für das übermäßig häufige Auftreten von Muskel- und Skeletterkrankungen im Handwerk sind übermäßige körperliche Belastung und fehlerhafte Körperhaltung verantwortlich.
Fehlerhafte Körperhaltungen und damit einhergehende Muskel- und Skeletterkrankungen sind eine Herausforderung für Arbeitnehmer, die hauptsächlich am Computer arbeiten. So addieren sich im Dienstleistungsbereich die durch Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems verursachten Kosten durch Produktionsausfall auf gut 9,5 Milliarden Euro [5]. Den Krankenstand mit geeigneten, präventiven Methoden in diesem Bereich zu reduzieren birgt über verschiedenste Branchen hinweg immenses Kosteneinsparpotenzial.
Intelligentes Echtzeit-Assistenzsystem
Meistens werden ergonomische Beurteilungsbögen (z.B. OWAS [6]) verwendet, um die Exposition von Handwerkern gegenüber Musculo-Skeletal-Diseases (MSDs) zu ermitteln, die die ungesunden Positionen bestimmen, die zu hoher körperlicher Belastung und Anspannung führen. Obwohl aus diesen Blättern genaue Messungen der körperlichen Belastung abgeleitet werden können, sind sie selbst nicht wirksam genug, um MSDs zu vermeiden, da sie eher als Richtlinien denn als Präventivmaßnahme dienen. Darüber hinaus ist ihre Wirksamkeit sehr subjektiv, je nachdem, wie vorsichtig jeder einzelne Arbeitnehmer ist. Daher ist ein Präventionssystem erforderlich, das den Gesundheitszustand jedes einzelnen Arbeitnehmers in Echtzeit effektiv quantifiziert und auf intelligente Weise für jeden Arbeitnehmer individualisierte Empfehlungen generiert, um die in den vorangegangenen Abschnitten erwähnten Probleme zu vermeiden. Die Erfassung und Analyse menschlicher Bewegungen spielt eine sehr wichtige Rolle bei der Verringerung oder Verhütung arbeitsbedingter MSDs. Zwei Haupttypen von Methoden zur Erfassung menschlicher Bewegungen können identifiziert werden: optische und Trägheitserfassungsmethoden. Optische Bewegungserfassungssysteme erfordern kalibrierte Multikamerasysteme, die um ein gewünschtes Volumen herum positioniert werden, zusammen mit entsprechenden reflektierenden Sensoren am menschlichen Körper an den wichtigsten Gelenken und interessierenden Segmenten. Daher ist das System im Falle einer Okklusion weniger effektiv, und die übermäßige Menge an Zubehör, die benötigt wird, führt zu hohen Kosten und entsprechend weniger Praxistauglichkeit. Auf der anderen Seite nutzen trägheitsbasierte Systeme eine Sammlung von Inertial-Measurement-Units (IMUs) auf verschiedenen Körperteilen, wobei jede IMU ein Satz von Sensoren wie Beschleunigungsmesser, Gyroskop und Magnetometer ist. Diese Sensoren erfassen zusammen die Position und Bewegung des entsprechenden Körperteils. Jüngste Fortschritte bei den Techniken des maschinellen Lernens, insbesondere die Recurrent-Neural-Netzwerke, ermöglichen das auf IMUs basierende Bewegungserfassungssystem mit einer reduzierten Anzahl von Sensoren; 6-7 Sensoren anstelle von etwa 20 konventionallen Sensoren [7]. Damit lässt sich das System leicht in Zubehör wie Stirnbänder/Helme, Smart-Uhren, Gürtel und Arbeitsschuhe integrieren, so dass die Benutzererfahrung so natürlich und so intuitiv wie möglich wird.
Die so quantifizierte menschliche Bewegung und die von der Person getragene Last sind die Inputs für das Belastungsbewertungssystem, das die Belastungsmessung basierend auf ergonomischen Standards wie OWAS in Echtzeit liefert. Ein solches Belastungsmaß zusätzlich zu den Informationen über verfügbare Ressourcen und am Arbeitsplatz auszuführende Aufgaben ebnet den Weg für ein intelligentes Assistenzsystem, das sowohl dem Arbeitnehmer als auch dem Arbeitgeber zugutekommt, was sonst in einer nicht digitalisierten Umgebung unmöglich wäre. Einige der vielen möglichen Anwendungen sind:
- Echtzeit-Alarmierung: Wenn der Handwerker sich in eine schädigende Haltung begibt, schlägt das System Alarm und signalisiert dem Handwerker – beispielsweise über ein Vibrationssignal mittels Smart-Watch – die Fehlhaltung. Je nach Arbeitssituation kann der Handwerker dann entscheiden, ob er seine Haltung ändern kann (und will) oder nicht.
- Analyse und Nachbereitung des Arbeitstages: Am Ende des Arbeitstages kann der Handwerker nachsehen, in welche körperlichen Belastungen (z.B. durch Fehlhaltungen) er sich begeben hat. Das Assistenzsystem empfiehlt Ausgleichsübungen, um die körperliche Belastung zu negieren.
- Belastungs-Monitoring der Belegschaft: Ein solches Assistenzsystem kann die jeweiligen Belastungen der Mitarbeiter auswerten. Dies ermöglicht eine bessere Erkennung und Kontrolle der körperlichen Belastung im Unternehmen, was im Prinzip bereits ein wesentlicher Bestandteil der Gefährdungsbeurteilung ist. Das System anonymisiert die Daten vor der Verarbeitung und überträgt die Erkenntnisse und Empfehlungen individuell auf die Smart-Devices der Beschäftigten. Dies gewährleistet den sicheren Umgang mit persönlichen Informationen.
- Arbeitsplanung basierend auf realen Belastungsdaten: Die Erfassung ermöglicht es, die Arbeiten auf der Baustelle auch nach der realen Belastung zu planen. Damit werden in der Arbeitsplanung zu erstellende Gefährdungsbeurteilungen hinsichtlich körperlicher Belastungen an reale Bedingungen geknüpft und der Unternehmer hat die Möglichkeit erst technische Maßnahmen, dann organisatorische Maßnahmen zur Gefährdungsreduzierung zu planen und einzusetzen sowie seine Mitarbeiter „punktgenau“ zu unterweisen.
Zukünftiger Arbeitsplatz
Mit einem solchen intelligenten Echtzeit-Assistenzsystemen lassen sich Unfälle vermeiden, berufsbedingte Krankheiten vorbeugen und Arbeiter optimal nach ihren individuellen Fähigkeiten einsetzen. All dies führt zu einem geringeren Ausfall durch Verletzungen oder Krankheit sowie zu einer gesteigerten Produktivität. Somit werden für das anwendende Unternehmen Kosten gespart und echte Gewinne erwirtschaftet. Darüber hinaus sind die Mitarbeiter gesünder und fühlen sich weniger stark belastet, was zu einer allgemeinen Steigerung der Zufriedenheit sowohl für den Arbeitnehmer als auch für den Arbeitgeber führen kann.
Die Akzeptanz für Wearables und intelligente Gesundheitssysteme nimmt in der Gesellschaft insgesamt zu. Auch im Büro sind Angestellte Belastungen ausgesetzt, die durch Fehlhaltungen und langes Sitzen vorm Rechner bedingt sind. Hier sind die Hauptprobleme die weit verbreitete Erkrankung des Rückens sowie der psychische Druck. Ein angepasstes intelligentes System, das in seiner Pipeline auch die psychische Belastung misst und quantifiziert, kann eine vielversprechende Lösung für diesen Usecase sein. Die Mehrwerte für die Gesellschaft gehen sogar über den potentiell in Milliardenhöhe direkten wirtschaftlichen Gewinn hinaus, da auch das Gesundheitssystem von verringerten Krankheitsfällen profitieren wird.
Daher ist die automatisierte Quantifizierung von Mitarbeiterbelastungen (sowohl physisch als auch psychisch) und die entsprechenden Erkenntnisse und intelligente Planung von Arbeitsprozessen ein Mehrwert für die nachhaltige Entwicklung jeder Organisation und damit der gesamten Wirtschaft.