Die Kunst der Konversation
Kann eine KI echte Gespräche führen?
Dirk Baecker, Zeppelin Universität
(Titelbild: Adobe Stock | 855369100 | Mandeep)
Kurz und Bündig
Kreativität ist die Kunst, Anfänge zu setzen, die so tun, als gäbe es für sie keine Voraussetzungen. Das ist paradox. Maschinen, die diese Kunst beherrschen, bestehen den Durkheim-Test, der die Kreativität und Intelligenz von Maschinen überprüft. Dieser Test ist wesentlich schwieriger für die Maschinen zu bestehen als der Turing-Test, der lediglich nach einer Unterscheidung zwischen menschlicher und maschineller Kommunikation sucht.
Maschinen, die auf Künstlicher Intelligenz basieren, bestehen mittlerweile den Turing-Test, der überprüft, ob maschinelle Kommunikation von menschlicher Kommunikation unterschieden werden kann, ohne Probleme. Da der Turing-Test recht einfach konzipiert ist, war es an der Zeit, die Anforderungen zu erhöhen. Mit dem sogenannten Durkheim-Test kann nun überprüft werden, ob Maschinen fähig sind, aktiv an Kommunikation teilzunehmen und sich produktiv sowie kreativ an der Unterhaltung zu beteiligen.
In der Einschätzung der Frage, wie intelligent oder gar kreativ die Künstliche Intelligenz (KI) gegenwärtig ist oder in Zukunft möglicherweise wird, kommt man nur weiter, wenn von dem Turing-Test auf den Durkheim-Test umstellt. Im Turing-Test wird getestet, ob die Beiträge einer Maschine zur Kommunikation mit Menschen noch von denen von Menschen unterschieden werden können oder nicht. Wenn die Kommunikation von Maschinen nicht mehr mit der von Menschen unterschieden werden werden kann, hat die Maschine den Test bestanden und darf dann für intelligent gehalten werden. Die Idee dieses Tests war in den vergangenen Jahrzehnten nicht zuletzt deswegen so erfolgreich, weil niemand den Versuch machte, zu bestimmen, woran menschliche Kommunikation zu erkennen ist. Immerhin gibt es spätestens seit Jean-Jacques Rousseau genügend Kulturkritiker, die bezweifeln, ob man die menschlichen kommunikativen Beiträge von maschinellen unterscheiden kann. Immer dann, wenn eine Maschine den Turing-Test bestand, etwa beim Schach- und Go-Spielen, beim Komponieren eines Musikstücks, beim Malen eines Bildes, beim Schreiben eines Texts, beim Programmieren von Code oder beim Entwurf ganzer Dramaturgien von Filmen und Theaterstücken, wurden die entsprechenden Fähigkeiten aus der Liste typischer menschlicher Fähigkeiten gestrichen.
Als menschlich gilt die Fähigkeit, kontextabhängig von Logik auf Intuition, von Gewissheit auf Zweifel und von der Problemlösung auf die Problemstellung umschalten zu können. Doch je genauer definiert wird, was unter Intuition, unter Zweifel und unter einer Problemstellung zu verstehen ist, desto leichter fällt es, Algorithmen zu schreiben, die diese Fähigkeiten auch Maschinen zur Verfügung stellen.
Vermutlich ist die Kontextabhängigkeit ebenso nicht zu überschätzen, wenn bedacht wird, wie eng der Kreis möglicher Kontexte ist, den Menschen bei ihrer Orientierung an sozialen Situationen zu berücksichtigen wissen. Selbst wenn der Wechsel zwischen den Kontexten zuweilen überrascht, etwa wenn das eine Thema zugunsten eines anderen fallen gelassen wird, müsste der Einbau eines Zufallsgenerators genügen, um Maschinen auch dazu zu befähigen. Erst dann, wenn jemandem bewusst ist, dass unter Menschen ein Kontextwechsel niemals ein Zufall ist (sondern einer strukturdeterminierten Komplexität folgt), wäre nachzuweisen, wann es sich um eine Maschine handelt und wann nicht. Zur menschlichen Intelligenz trägt ein Zusammenspiel komplexer Bestandteile bei. Darunter fällt die Intelligenz des Körpers, das Gehirn, das Bewusstsein, die Emotionen und die Geselligkeit. Die Kombination der verschiedenen Ebenen, die Verdrängung und die Reibungen zwischen ihnen ist das, was eine Intelligenz als menschlich auszeichnet. Aber selbst dann ist es nur unsere Ignoranz gegenüber diesen Ebenen, die uns daran hindert, eine Überraschung als das zu lesen, was sie ist: die Verschleierung einer nachvollziehbaren, wenn auch nicht im Detail beschreibbaren Komplexität.
Der Durkheim-Test
Der Durkheim-Test lässt diese Frage, was als menschlich und was als maschinell zu bezeichnen ist, auf sich beruhen. Er wurde von der Soziologin Susan Leigh Star [1] vorgeschlagen und beruft sich auf Emile Durkheims Unterscheidung zwischen natürlichen und sozialen Fakten. Durkheim [2] behauptete die Eigenständigkeit sozialer Fakten (Verbindlichkeiten von Recht und Moral) gegenüber dem Denken, Handeln und Fühlen der Menschen. Der Durkheim-Test stellt dementsprechend die Frage, ob Maschinen, ähnlich wie Menschen, geeignet sind, sich innerhalb einer Gemeinschaft an Kommunikation zu beteiligen: „(…) the Durkheim test would be a real time, acceptance, use and modification of a system by a community. Its intelligence would be the direct measure of usefulness applied to the work of the community; its ability to change and adapt, and to encompass multiple points of view while increasing communication across viewpoints or parts of an organization“ [3]. Zum entscheidenden Test für die Intelligenz und Kreativität von Computern wird ihre Fähigkeit, sich an einer Kommunikation zu beteiligen, die als offen, ökologisch und politisch verstanden wird.
Eine offene Kommunikation würdigt die Verschiedenartigkeit von Beiträgen. Eine ökologische Kommunikation ist sensibel gegenüber den mitlaufenden Umwelten von Körper, Bewusstsein und Natur. Und eine politische Kommunikation ist in der Lage, die Machtfrage nicht nur kritisch, sondern auch positiv zu stellen.
Auch der Soziologe Niklas Luhmann [4] sieht die Grenzen der Leistungsfähigkeit eines Computers nicht in der Nachbildung eines menschlichen Bewusstseins, sondern in der Fähigkeit, sich an Kommunikation zu beteiligen. Denn diese Fähigkeit ist nicht nur davon abhängig, auf Überraschungen reagieren zu können, sondern auch davon, die Undurchschaubarkeit der Situation durch möglicherweise gezielte Überraschungen variieren und gestalten zu können. Kommunikation ist mehr als Signalaustausch. Kommunikation ist auch mehr als Beobachtung von Kontingenz [5]. Kommunikation ist die Begleitung einer Kommunikation durch Metakommunikation [6]. Technisch formuliert: Kommunikation ist die selbstreferentielle Begleitung von Rekursion. Die Intelligenz, die der Durkheim-Test bestimmt, ist die Fähigkeit, sich an einer Kommunikation zu beteiligen, die auf ihren eigenen Verlauf reagiert und im Zuge dieser Reaktion die Bedingungen variiert, unter denen sie weiteren Anschluss findet.
Möglicherweise ist dies ein wichtiger Unterschied zwischen dem Turing-Test und dem Durkheim-Test. Im Turing-Test verliert sich die Frage nach Kreativität im Dunkel der strukturdeterminierten Komplexität von Mensch und Maschine. Sowohl der Körper, das Gehirn und das Bewusstsein der Menschen, sowie ihre Sozialisation, als auch die neuralen Netze der großen und tiefen Maschinenlernmodelle arbeiten in einer Abhängigkeit zu sich selbst, die von außen nicht zu durchschauen ist. Im Durkheim-Test gewinnt die Frage nach Kreativität jedoch den Sinn einer durch sie selbst beobachtbaren Kommunikation. Kreativität, so sagen Philosophen, erkennt man an der Fähigkeit, Anfänge zu setzen, paradoxerweise sogar: voraussetzungslose Anfänge [7]. Das unterscheidet Kreativität von Produktivität. Produktivität rechnet mit verfügbaren Voraussetzungen und hofft darauf, dass die unverfügbaren Faktoren mitspielen [8]. Kreativität hingegen fängt neu an und misstraut allem, was ihr vorausgeht.
Maschinen und Menschen bestehen den Durkheim-Test, wenn jeder ihrer Beiträge zur Kommunikation als ein Anfang gelten kann. Das gilt auch dann, wenn diese Beiträge nur anschließen. Es genügt ein Minimum der Unterbrechung von Wiederholung, Selbstverständlichkeit und Routine, um einen Akzent zu setzen, der zur Kommunikation beiträgt, indem er sie variiert. Kreativität wird dann zum Beweis von Kommunikation, wenn die Kommunikation einen Unterschied gegenüber sich selbst macht. Sie springt in die Metakommunikation und setzt sich anders fort als erwartet. Kreativ ist die Eröffnung dieser Differenz, dieses Spalts zwischen Wiederholung und Abweichung. Selbst wenn die Abweichung die Wiederholung sicherstellt, etwa weil ein Fehler zu korrigieren ist, ist sie kreativ und kommunikativ, denn entscheidend ist die Unterbrechung des Automatismus durch eine Beobachtung, die gegenüber der bloßen Wiederholung Freiheitsgrade setzt und in Anspruch nimmt.
Kreativ ist die Kommunikation dann, wenn sie sich selbst verdoppelt. Auf der einen Seite ist ihr erwartbarer Verlauf und auf der anderen Seite ihre Veränderung zu erkennen. Dann ist jedoch umgekehrt jede Kommunikation immer schon kreativ. Sie lädt zu weiteren Anfängen ein, weil sie selbst einer ist. Die Pointe dieser Überlegungen ist zu beachten: Wir haben es immer dann mit einer kreativen Kommunikation und kommunizierten Kreativität zu tun – oder kürzer: mit Kommunikation und Kreativität –, wenn etwas anfängt und damit Voraussetzungen sichtbar macht, zu denen sich unterschiedlich zu verhalten werden kann. Kreative Kommunikation greift voraus auf andere Rückgriffe und auf sich selbst. Wer sich daran beteiligen kann, besteht den Durkheim-Test. Es ist zu beachten, dass wir es in Überlegungen dieses Typs nicht mehr mit der Frage nach dem Wesen von Menschen und Maschinen zu tun haben, sondern mit der Frage nach produktiven Bedingungen ihres Zusammenspiels. Der Durkheim-Test unterstellt eine Eigendynamik, die keinen Anspruch darauf erhebt, Mensch und Maschine auf etwas festzulegen.