Doktor Google gegen den Rest der (Ärzte-)Welt
Dirk Werth, Chefredakteur IM+io
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Kolumne MehrWerth
Dr. Dirk Werth ist seit 2016 Chefredakteur der IM+io. In der Kolumne „MehrWerth“ schreibt er in pointierter Form Meinungsbeiträge zum Schwerpunktthema des Heftes und stellt diese zur Diskussion.
Was haben wir eigentlich aus der heißen Phase – na ja eigentlich waren es ja Jahre – der Corona-Pandemie gelernt? Ganz klar, unzählige (Halb-) Wahrheiten und unreife Theorien sind absolute Schnelldreher innerhalb der Gesellschaft. Dabei ging es um das Virus selbst, dessen Ausbreitung, die Corona-Erkrankung, die Folgen sowie die Vermeidung einer Pandemie-Explosion. Diese teilweise hochspekulativen Annahmen waren bekanntlich die Grundlage für die Entscheidungen der Politik, bestimmte Maßnahmen einzuführen, um die Pandemie einzudämmen und somit größeren Schaden zu verhindern. Jetzt kann man geteilter Meinung darüber sein, ob das tatsächlich gelungen ist und insbesondere darüber streiten, ob der Lockdown nicht mehr Schaden angerichtet, als verhindert hat. Insgesamt finde ich, hat die Politik die Krise nicht besonders gut gemanagt. Und dies betrifft besonders auch meine Domäne, die Digitalisierung.
Natürlich könnte ich jetzt anführen, dass ein Faxgerät im Jahr 2020 nicht notwendigerweise den Stand der Technik in Sachen Fernkommunikation darstellen sollte. Oder über die Umsetzung der Corona-Warn-App sinnieren und darlegen, inwieweit diese mit der eingebauten hundertzwanzigprozentigen Datenschutzsicherheit überhaupt zielführend sein kann. Aber so einfach möchte ich es mir gar nicht machen. Vielmehr möchte ich aufzeigen, welche anderen Wege ein digital-kompetenter Entscheider eingeschlagen hätte.
Fangen wir bei der Datenerhebung an. Unbestritten, Daten über Corona wurden erhoben. Aber war das wirklich umfangreich und umfassend genug? Allein wenn ich mir die Misere mit der Erhebung der Infektionszahlen und den abgeleiteten Inzidenzen ansehe, bin ich sprachlos. Es war eigentlich klar, dass die Zahlen nicht richtig sein können, da unterschiedliche Erfassungsmethoden genutzt wurden und am Wochenende nicht überall konsequent erfasst wurde. Oder die Regelung, dass die Information einer wahrscheinlichen Infektion unter den Datenschutz fällt und nicht zur Eindämmung der Pandemie verwendet werden darf. Eine verpasste Chance. Interessant hätte ich es gefunden, wenn man jeden Infizierten digital befragt hätte, wo und in welcher Situation er glaubt, sich infiziert zu haben. Sicherlich, nicht jede Antwort wäre sachlich zutreffend und die eine oder andere vielleicht auch nicht wahrheitsgemäß gewesen. Aber für einen datenbasierten Ansatz ist das unerheblich, denn die Masse zählt. Eine Analyse, an welchen Orten oder in welchem Kontext sich die Menschen tatsächlich infiziert haben – zumindest mehrheitlich – wäre auch interessant gewesen. Denn dann hätte man statt pauschal die gesamte Wirtschaft lahmzulegen, gezielte Maßnahmen einführen können. Data science based political decision making. Ich kann mir die Diskussion lebhaft vorstellen, in der ein Data Scientist einem Politiker erklärt, dass er weiß, dass ein Teil der Daten falsch ist, aber die Ergebnisse trotzdem richtig sein müssen.
Ergänzend dazu kann man – umfangreiche Datenbasis vorausgesetzt – versuchen, via Künstlicher Intelligenz und Machine Learning die Zusammenhänge zwischen der Infektion und ihrer Verbreitung zu erkennen. Dafür sind noch nicht einmal originäre Rohdaten wie oben beschrieben notwendig. Ein viel kolportiertes Beispiel zeigt, dass man eine Scheidung bereits zwei Jahre im Voraus allein aus der Analyse der Kreditkartenabrechnung vorhersagen kann. Vielleicht sollte man auch versuchen, politische Entscheidungsprozesse datenbasiert zu modellieren und vorherzusagen. Genau das gibt es bereits in der Forschung mit überraschenden Erkenntnissen.
Mit diesem Cliffhanger überlasse ich Sie Ihrer eigenen Recherche, bleiben Sie stets den wissenschaftlichen Tatsachen gewogen und unterschätzen Sie diese nicht: nur weil Sie denken, das geht nicht, heißt das noch lange nicht, dass es tatsächlich nicht geht.