„Alexa, ich bin süchtig.“
Wie Digital Detox die Handysucht bekämpft
Daniela Otto, Ludwig-Maximilians-Universität München
Kurz & Bündig
Mails, Chats, Posts, Home Office – die Bildschirmzeiten explodieren. Denn mit der Coronapandemie ging noch eine andere Pandemie einher: Smartphonesucht. Diese psychische Erkrankung müssen wir endlich ernst nehmen und überwinden. In diesem Artikel werden Risiken und potenzielle Lösungen für die Sucht nach dem Digitalen vorgestellt. Es muss auch in digitalen Zeiten eine eigene gesunde Seele geben.
Wie lange sind Sie zurzeit täglich online? Seit Corona liegt die durchschnittliche Bildschirmzeit bei bis zu elf Stunden. Das kommt auch schnell zusammen, wenn man sich einen normalen Tag anschaut: Morgens klingelt der Handywecker und wenn man das Smartphone schon einmal in der Hand hat, kann man gleich Mails checken, und den Social Media Feed durchscrollen. Dann das Frühstück. Statt Zeitung lesen lieber die News auf dem Tablet überfliegen. Danach den Rechner an und arbeiten. Die Mittagspause ist mit ein bisschen YouTube schnell vorbei. Und abends geht’s weiter mit Binge Watching auf Netflix. Ein Leben in modernen Zeiten ist ein Leben vor vielen Bildschirmen – häufig nutzen wir diese sogar gleichzeitig. Wie oft müssen Sie Ihre Lieblingsserie zurückspulen, weil Sie nebenher aufs Handy geschaut haben?
Der Sog dieser leuchtenden Bildschirme ist enorm, sie ziehen uns förmlich an. Mehr noch: Sie machen süchtig. Es ist an der Zeit, diese Sucht ernst zu nehmen, denn viel zu oft wird sie noch relativiert, bagatellisiert, abgetan als bloße, leicht in den Griff zu bekommende Spielerei. Das ist fatal. Die Wahrheit ist: Wer sein Handy nicht mehr weglegen kann, ist krank. Und da immer mehr Menschen vom Smartphone abhängig sind, können wir ohne Übertreibung sagen: Die digitalisierte Gesellschaft hat das größte kollektive Suchtproblem aller Zeiten.
Smartphones verändern das Gehirn
Wie immer steckt unser Gehirn dahinter. Dieses ist neuroplastisch, das heißt, es kann das, was wir ihm beibringen, es passt sich unseren Gewohnheiten an. Wir können unser Gehirn trainieren, je nachdem, welche Bereiche wir besonders beanspruchen. Derzeit geben wir uns ganz der narzisstischen Gier nach Aufmerksamkeit hin. Jedes kleine Handysignal, jedes Like, jeder neue Follower, gibt uns zu verstehen, dass wir wichtig sind. Es ist ein Ego-Booster. In unserem Gehirn wird dadurch das Belohnungszentrum aktiviert, das sogenannte „Glückshormon“, der Neurotransmitter Dopamin wird ausgeschüttet, und das fühlt sich zunächst gut an. Wir wollen dieses Gefühl wieder und wieder spüren – der Suchtkreislauf beginnt.
Smartphones können krank machen
Die seelischen Folgen dieser Onlinesucht sind nicht zu überschätzen. Immer mehr Studien belegen den Zusammenhang von psychischen Krankheiten und intensiver Smartphonenutzung. Die Depressionsraten steigen, sogar die Suizidalität nimmt zu, insbesondere bei jungen Menschen. Über 60 Prozent geben an, dass sie ohne Handy ein Gefühl der Angst überkommt. Es gibt sogar einen Fachbegriff dafür: Nomophobie (No-Mobile-Phone-Phobia). Für fast 90 Prozent der 14- bis 19-Jährigen ist ein Leben ohne Smartphone undenkbar. Unter dem Phänomen „Snapchat-Dysmorphia“ versteht man die traurige Tatsache, dass immer mehr Menschen, vor allem Frauen im Teenageralter, so aussehen wollen wie ihr mit einem Beauty-Op-Filter bearbeitetes Selfie. Im Internet herrscht, das muss uns klar werden, ein eiserner Konkurrenzkampf, der emotionale Folgeschäden von enormem Ausmaß verursacht.
Digital Detox ist gut für die mentale Gesundheit
Die digitalisierte Gesellschaft bedarf der Heilung. Und der neue Schlüssel zur seelischen Gesundheit ist Digital Detox. „Digitale Entgiftung“, so die deutsche Übersetzung, ist das neue Mindset, das wir brauchen, um das richtige Maß zwischen online und offline zu finden. Denn die Dosis macht das Gift. Das gilt auch für Smartphones &Co.
Digital Detox heißt nicht, dass wir nicht mehr online sein dürfen, sondern es sensibilisiert uns dafür, bewusst online zu gehen. Die simple Frage: „Warum bin ich gerade online?“ erinnert uns daran, dass wir die meiste Zeit ziellos im Internet umhersurfen und damit wertvolle Lebenszeit vergeuden. Zeit ohne Handy aber ist Zeit, die wir uns selbst schenken. Digital Detox ist ein achtsamer Lebensstil, der die Selbstfürsorge wieder an erste Stelle setzt und uns bewusst macht, dass, wenn dem Internet unsere Seele schon egal ist, wir gut selbst darauf aufpassen müssen.
Mit Digital Detox ermächtigen wir uns gegenüber all der digitalen Versuchungen und erobern damit eine der derzeit wichtigsten Freiheiten überhaupt zurück: die der digitalen Selbstbestimmung. Denn die Klage über Apps, die uns absichtlich süchtig machen, ist leider wenig hilfreich. Keine App der Welt kann uns ans Handy fesseln, wenn wir uns nicht fesseln lassen. Die Verantwortung liegt bei uns, in unserem Umgang mit der modernen Technologie, die inzwischen doch auch schon so lange existiert, dass wir uns durchaus abverlangen können, endlich zu lernen, richtig mit ihr umzugehen. Anders formuliert: Wir müssen erwachsen werden, uns endlich digital abnabeln.
Digital Detox verändert das Leben
Mit Digital Detox kehren Sie zurück zum echten Leben und damit zu sich selbst. Haben Sie Siri schon mal gefragt, wie es Ihrer Seele geht? Konnte Ihnen Alexa die Frage nach Ihrer persönlichen Berufung beantworten? Na also. Die wissen nur Sie selbst. Hören Sie wieder auf sich.
Den wohltuenden Effekt von Digital Detox erfahren Sie unmittelbar, und Sie können jederzeit damit anfangen. Legen Sie sich nicht nur eine analoge Armbanduhr, sondern auch einen analogen Wecker zu. Beginnen Sie Ihren Tag offline. Checken Sie erst sich selbst, dann das Handy. Gehen Sie mittags ohne Smartphone spazieren und lassen Sie die Natur wieder auf sich wirken. Verbannen Sie Handys vom Esstisch. Digital Detox hat transformative Kraft: Erkennen Sie das Wunderbare um sich herum, schauen Sie wieder genau hin.
Digitale Detox fördert das Mitgefühl
Legen Sie das nächste Mal, wenn Sie sich mit jemandem unterhalten, das Handy außer Sichtweite, und nehmen Sie die Intensität eines wirklich guten Gesprächs wahr. Digital Detox fördert unsere Empathiefähigkeit: Nur wer sich ohne Ablenkung ganz auf sein Gegenüber einlässt, kann den anderen voll und ganz wahrnehmen. Auch Mitgefühl entsteht im Gehirn. So wie ein Handy automatisch nach Netz sucht, wenn es keines hat, so sucht unser Gehirn automatisch nach einem empathischen Austausch mit einem anderen Gehirn. Kein Gehirn ist in Isolation glücklich – wir können nicht anders, als nach neuronaler Vernetzung streben. Sogenannte „Spiegelneurone“ sind dafür zuständig, diese empathischen Verbindungen herzustellen. Spiegelneurone, auch Empathieneurone genannt, sind visuo-motorische, also für die Koordination zuständige Nervenzellen in unserem Gehirn, die ein Resonanzsystem bilden. Durch Spiegelneurone verstehen wir andere, denn, wie der Name sagt, sie spiegeln die Handlungen und Gefühle anderer in uns selbst. Sie erzeugen in uns die Emotionen des anderen, bringen diese zum Schwingen. Unsere Gefühle werden intuitiv übertragen, wir stecken einander emotional an. Wenn wir zum Beispiel jemand weinen sehen, werden die Spiegelneurone aktiv; sie „feuern“ in unserem Gehirn und lösen in uns das Gefühl aus, das der andere empfindet. Sie kennen den Effekt, dass Sie zucken, wenn Sie sehen, wie sich jemand in den Finger schneidet? Genau das erzeugen Spiegelneurone. Wenn wir aber ständig in Bildschirme starren, wird ein solcher mitfühlender Austausch erschwert. Die Folge: eine zusehends unempathischere Gesellschaft – dabei ist Mitgefühl der Kitt, der uns zusammenhält.
Digital Detox führt sie zurück ins Leben
Mitgefühl brauchen wir insbesondere auch in sozialen Netzwerken, die maximales Suchtpotenzial haben. Wer im virtuellen Wettbewerb bestehen will, braucht digitale Resilienz – denn der Vergleich mit anderen, deren Leben vermeintlich schöner und besser ist, macht nachweislich unglücklich. Mit Digital Detox können Sie eine neue, selbstliebende innere Haltung kultivieren. Im Fokus steht ein gesunder Selbstwert. Das Digital Detox Mantra für Social Media lautet: Sie sind gewollt, Sie sind geliebt, egal, wie viele Likes oder Follower Sie haben. Überhaupt: Es ist nur Social Media. Nicht das echte Leben. Auch beim Online-Dating, das für viele der perfekte Ego-Booster ist, gilt: Tindern Sie sich nicht die Seele aus dem Leib. Wenn Sie selbst ein Date nach dem anderen haben, fragen Sie sich, ob Sie das wirklich erfüllt. Machen Sie sich bewusst, was Sie eigentlich suchen, wenn Sie online daten und dass Ihr Leben auf jeden Fall ein glücklicheres ist, wenn Sie es in gesundem Maß tun und nicht süchtig sind. Egal, wo Sie jemanden kennenlernen: Daten Sie respektvoll. Hinter jedem Profil steht ein Mensch mit Gefühlen. Behandeln Sie andere so, wie Sie selbst gerne behandelt werden wollen – Datingsucht verdirbt schnell den Charakter.
Egal, ob in der Liebe, im Beruf oder der Freizeit, Digital Detox betrifft alle Lebensbereiche, denn unser Leben ist in Gänze von Smartphones durchdrungen. Schalten wir also öfter gezielt ab, und kümmern wir uns um unser Wohlergehen. Im digitalen Zeitalter müssen wir den unbezahlbarsten Wert überhaupt verteidigen: den Wert einer gesunden Seele. Mit Digital Detox gelingt uns das.
(Bildquelle: AdobeStock | 238561917 | nadia_snopek)