Die Kunst des kalkulierten Verstoßes
Sandra Ehlen, Chefredakteurin IM+io
In den meisten Organisationen wird Innovation gefeiert – bis sie beginnt, Regeln zu brechen. Dabei müsste doch jedem mit gesundem Menschenverstand klar sein, dass etwas Neues selten aus Gehorsam entsteht. Wer Wandel will, muss bestehende Routinen infrage stellen. Allerdings ist der Regelbruch kein Selbstzweck. Liegt die Kunst vielleicht eher im kalkulierten Verstoß? Also Regeln so gut zu kennen, dass man sie bewusst und verantwortungsvoll beugen kann?
Regeln sind aus meiner Sicht nicht nur wichtig, sondern auch notwendig. Sie sichern Qualität, Effizienz und Vertrauen. Ohne sie wäre kein Unternehmen stabil. Aber dieselben Regeln, die Stabilität erzeugen, verhindern oft Bewegung. Bei Nokia etwa galt bis 2007 eine klare Produktstrategie, die zu einer fatalen Fessel wurde. Die Unternehmenskultur bei Nokia, die einst ein Innovationsmotor war, zeichnete sich nun durch Silodenken, interne Machtkämpfe und eine mangelnde Bereitschaft, radikale Veränderungen anzunehmen, aus. Innovation scheiterte am Gehorsam.
Auf der anderen Seite muss man sich fragen: Führt Rebellion nicht automatisch ins Chaos? Nein! Ein Regelbruch kann durchaus ein Innovationsmotor sein. Ein Beispiel: LEGO stand Anfang der 2000er kurz vor dem Aus. Videospiele waren bei Kindern hip und eine der Regeln lautete: Nur LEGO-Designer entwickeln neue Sets. Der damalige CEO Jørgen Vig Knudstorp startete 2004 einen radikalen Kurswechsel. Unter anderem machte er Fans zu Mitgestaltenden der Produktideen. Der Regelbruch war kalkuliert: kreative Kontrolle teilen, ohne das Markenprinzip zu verlieren. Das Ergebnis führte zu einem wirtschaftlichen Turnaround dank einer neuen Zielgruppe: Erwachsene LEGO-Fans.
Aber wie erreicht man einen produktiven Regelbruch? Psychologisch gesehen funktioniert Innovation dort besonders gut, wo Menschen sich sicher fühlen zu widersprechen. Forschungen zur „constructive deviance“ zeigten erstmals, dass Mitarbeitende, die respektvoll Regeln hinterfragen, häufiger kreative Lösungen finden – sofern Führung den Mut dazu unterstützt. Wenn das Verhalten von dem Wunsch getragen ist, positive Ergebnisse zu erzielen, kann es sogar eine kreative Kraft sein.
Kalkulierter Verstoß braucht jedoch mehr als Mut. Er braucht vor allem Reflexion: Welche Regel dient noch, welche behindert? Welche Struktur fördert Verantwortung, welche erzeugt nur Angst? Unternehmen wie Haier in China zeigen, wie weit man gehen kann: Dort wurden Hierarchien abgeschafft und durch selbstorganisierte Mikro-Teams ersetzt, die weitgehend selbstorganisiert arbeiten. Das Ergebnis: höhere Innovationsgeschwindigkeit und Mitarbeitendenzufriedenheit. Die Einführung ist allerdings anspruchsvoll: Kulturwandel, Kontrolle abgeben und transparente Anreize sind nötig – dennoch wird das Haier-Modell als zukunftsweisender Ansatz für agile Organisationen bewertet.
Führungskräfte spielen bei all dem die Schlüsselrolle. Sie müssen erkennen, wann sie loslassen – und wann sie leiten. Regeln müssen als Hypothesen verstanden werden: so lange gültig, bis jemand zeigt, dass es besser geht. In dieser Haltung liegt der Unterschied zwischen Bürokratie und Lernfähigkeit.
In der Praxis heißt das: Organisationen sollten bewusst Formate schaffen, in denen kalkulierter Regelbruch erlaubt ist – „Permission to Challenge“-Workshops, Shadow Boards oder Innovations-Sprints mit offenen Entscheidungsrechten. Und sie signalisieren: Mut ist keine Störung, sondern Teil der Strategie. Denn eine wirkungsvolle Innovation entsteht dort, wo Regel und Rebellion sich gegenseitig achten. Der kalkulierte Verstoß ist kein Angriff auf das System, sondern seine Weiterentwicklung. Regeln sind dazu da, das Mögliche zu ordnen. Rebellen sind dazu da, das Mögliche zu erweitern. Wer beides miteinander versöhnt, schafft eine Kultur, in der Fortschritt kein Zufall ist – sondern Konsequenz.








