You shall not pass:
Wie zellfreie Moleküle das Böse bekämpfen
Patrick Grossmann, Invitris im Gespräch mit Milena Milivojevic, IM+io

(Titelbild: © AdobStock | 1169322085 | Abdul )
Kurz und Bündig
Ein zellfreies System ermöglicht die synthetische Herstellung von Phagen, Antikörpern und anderen Wirkstoffen. Die Technologie basiert auf DNA-Information, die in kontrollierter Umgebung zu funktionalen Molekülen umgesetzt wird. Künstliche Intelligenz unterstützt bei der Optimierung von Reaktionen und Auswahl wirksamer Moleküle. Ziel ist die Entwicklung personalisierter Therapien mit hoher Präzision – auch über medizinische Anwendungen hinaus.
Nicht jede Antwort auf medizinische Herausforderungen liegt im Mehr – mehr Medikamente, mehr Aufwand, mehr Zeit. Manchmal liegt sie im Weniger: Weniger Zellen, weniger Reibung, weniger Ungewissheit. Zellfreie Systeme setzen genau dort an. Sie verzichten auf das biologische Wachstum und greifen direkt auf die molekulare Maschinerie zu – eine Art präziser Shortcut zur Wirkstoffentwicklung. Was dabei entsteht, ist nicht nur schneller verfügbar, sondern auch exakt auf den jeweiligen Fall abgestimmt. Könnte genau das der Hebel sein, um den wachsenden Bedrohungen durch Resistenzen und Individualerkrankungen zu begegnen?
IM+io: Was macht Invitris und worum geht es bei Ihrer Arbeit?
PG: Unser Hauptziel bei Invitris ist es, antibiotikaresistente Infektionen zu bekämpfen. Eine unserer zentralen Strategien dafür basiert auf sogenannten Bakteriophagen. Das sind Viren, die ausschließlich Bakterien angreifen – sehr zielgerichtet. Sie zerstören nur die schädlichen Bakterien, die die Erkrankung verursachen, und lassen alle anderen, die zum Beispiel im Körper nützlich sind, unberührt. Das ist ein riesiger Vorteil gegenüber klassischen Antibiotika, die oft auch „gute“ Bakterien zerstören.
IM+io: Und was ist Ihr Ansatz dabei?
PG: Wir haben einen Weg gefunden, Bakteriophagen nicht mehr auf herkömmliche Weise in Bakterien zu züchten – wie es schon seit über 100 Jahren gemacht wird –, sondern sie vollständig synthetisch herzustellen. Das bedeutet, wir simulieren auf molekularer Ebene, was normalerweise in einer Bakterienzelle passiert, wenn ein Virus sie infiziert. Das Ganze passiert bei uns außerhalb von Zellen – also in einem sogenannten zellfreien System. Wir arbeiten dabei mit Enzymen, Polymerasen und einem winzigen Stück DNA, das den Bauplan für den jeweiligen Phagen enthält. Diese Methode erlaubt uns nicht nur mehr Kontrolle über den Prozess, sondern macht es auch möglich, die Phagen gezielt zu verändern. Und: Wir können dieselbe Produktionsumgebung für ganz unterschiedliche Phagen nutzen – das ist weltweit einzigartig.
IM+io: Ihre Technologie geht weit über Phagen hinaus. Wie kann man sich das vorstellen?
PG: Unsere Plattform ist so aufgebaut, dass wir damit auch andere Wirkstoffe herstellen können – etwa Antikörper, Nanobodies oder sogar Impfstoffe. Wir sprechen bewusst von einer Plattform-Company, weil wir eine Technologie entwickelt haben, die sehr vielseitig einsetzbar ist. Wir vermarkten diese Technologie auch nicht nur in Form eigener Produkte, sondern gehen Kooperationsbeziehungen mit anderen Biotech- oder Pharmaunternehmen ein. Gemeinsam entwickeln wir dann neue Produkte, behalten in der Regel aber die Rechte daran. Wenn Auftraggebende das Produkt später vermarkten möchten, erfolgt das über ein Lizenzmodell.
IM+io: Können Sie ein Beispiel geben, wie sich Ihr Ansatz von klassischen Methoden unterscheidet?
PG: In der klassischen Biotechnologie nutzt man zellbasierte Systeme. Das heißt, man züchtet zum Beispiel Bakterien oder Hefezellen, in denen dann bestimmte Moleküle produziert werden – etwa Phagen oder Antikörper. Das Problem dabei ist, dass man kaum Kontrolle darüber hat, was im Inneren dieser Zellen genau passiert. Unser Ansatz ist zellfrei. Wir nutzen nur die Zellmaschinerie – also die molekularen Werkzeuge – und können gezielt steuern, was passiert. Der Vorteil ist: Wir können einzelne Schritte kontrollieren, optimieren und standardisieren. Es ist ein bisschen, als würde man statt in einer verschlossenen Blackbox plötzlich mit einem durchsichtigen Baukasten arbeiten.
IM+io: Wie wird Ihre Plattform durch KI unterstützt?
PG: Wir nutzen KI in mehreren Bereichen. Ein ganz wesentlicher ist die Optimierung von Reaktionsbedingungen. Unser System lässt sich gut mit einem 3D-Drucker vergleichen – nur im Nanoformat. Die DNA ist unser Software-Code. Sie wird in das System eingespeist, und heraus kommt ein spezifisches Protein. Aber: Unterschiedliche Moleküle brauchen unterschiedliche Umgebungen, um korrekt zu entstehen. Es gibt unzählige Kombinationen von Reagenzien, Konzentrationen und Temperaturen. Da kommen unsere eigenen Machine-Learning-Algorithmen ins Spiel. Sie helfen uns, diese komplexen Parameter gezielt zu optimieren.
IM+io: Und wie sieht das im praktischen Laboralltag aus?
PG: Wir arbeiten auch mit Automatisierungsrobotik. Mit den Fördermitteln des EIC Accelerators – 2,5 Millionen Euro plus bis zu 10 Millionen in Aussicht – entwickeln wir einen sogenannten Phagen-Drucker. Das ist ein Gerät, in das man bestimmte Zellproben eingibt, zum Beispiel aus Patient:innen. Das Gerät analysiert diese Proben automatisch, stellt dann das passende DNA-Konstrukt her und produziert das ideale therapeutische Molekül – alles innerhalb von acht Stunden. Am Ende erhält man ein personalisiertes Medikament. Das ist echte Präzisionsmedizin.
IM+io: Können Sie den Prozess noch etwas detaillierter erklären?
PG: Der gesamte Prozess läuft in drei Schritten ab. Zuerst wird die Zielzelle – zum Beispiel ein krankmachendes Bakterium – analysiert. Daraufhin entscheidet unser System, welches Molekül am besten wirkt. Das kann ein Phage oder ein anderer Wirkstoff sein. Im zweiten Schritt wird dieses Molekül synthetisch hergestellt. Und im dritten Schritt erfolgt die Reinigung, sodass am Ende ein klinisch verwendbares Produkt bereitsteht. Das Besondere: Da wir zellfrei arbeiten, haben wir bei jedem einzelnen Schritt vollständige Kontrolle.
IM+io: Spielt KI auch bei der Vorhersage von Wirkungen eine Rolle?
PG: Ja, genau. Unsere Algorithmen helfen nicht nur bei der Optimierung der Bedingungen, sondern auch bei der Entscheidung, welches Molekül für eine bestimmte Zielzelle am wirksamsten ist. Das ist enorm wichtig im Kontext von Antibiotikaresistenzen. Wenn man breit wirkende Antibiotika einsetzt, fördert man die Entstehung resistenter Bakterien. Mit unserer Methode können wir personalisierte Wirkstoffe erzeugen, die sehr gezielt wirken – und das minimiert das Risiko für neue Resistenzen erheblich.
IM+io: Wie gehen Sie bei Invitris damit um, dass KI auch Fehler machen kann? Gibt es Mechanismen, um solche Fehleinschätzungen frühzeitig zu erkennen und zu korrigieren?
PG: Das ist ein wichtiger Punkt. Der Hype um Generative KI – etwa bei Moleküldesigns – ist riesig, aber am Ende des Tages muss man alles im echten Leben testen. Genau da kommt unsere Plattform ins Spiel. Wir haben einen enormen Skalierungsvorteil: Wir können bis zu 1.000 Proteine pro Sekunde testen. Das heißt, wir generieren täglich Millionen von Testdaten. Diese Daten helfen nicht nur, die richtigen Moleküle zu finden, sondern auch, unsere Algorithmen weiter zu verbessern. Es ist ein ständiger Lernprozess.
IM+io: Wie sieht es mit Datenschutz aus, vor allem bei genetischen Daten?
PG: Das ist glücklicherweise bei uns kein großes Thema, da wir in der Regel nicht mit Patient:innendaten arbeiten. Unsere Daten stammen aus kontrollierten Laborexperimenten. Das heißt, wir generieren unsere eigenen molekularen Daten, die wir natürlich entsprechend schützen. Sobald es in Richtung Behandelte gehen würde, würden wir selbstverständlich alle datenschutzrechtlichen Vorgaben einhalten. Aber aktuell betrifft uns das kaum.
IM+io: Wo stoßen Sie aktuell noch an technologische Grenzen?
PG: Da gibt es natürlich einige. Ein Beispiel: Kleine Moleküle lassen sich leichter herstellen als große, weil große Moleküle mehr Energie im System benötigen. Wir arbeiten gerade daran, diesen Energiebedarf besser zu steuern. Ein anderes Thema sind sogenannte post-translationale Modifikationen – also Veränderungen, die ein Protein nach seiner Entstehung noch durchläuft, etwa Glykosylierungen. Diese sind für viele therapeutische Proteine entscheidend, aber aktuell sehr schwer in zellfreien Systemen umzusetzen. Wenn wir das schaffen, wäre das ein echter Gamechanger – und ja, vielleicht sogar ein Milliardenmarkt.
IM+io: Wie läuft die Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen ab?
PG: Das ist meist ein Co-Development-Prozess. Unternehmen kommen mit einem konkreten Ziel zu uns – zum Beispiel: „Wir wollen ein Mittel gegen E. coli bei Blasenentzündungen entwickeln.“ Sie haben oft keine eigene Technologie oder Ressourcen dafür. Dann steigen wir ein. Wir entwickeln das Produkt, behalten in der Regel das geistige Eigentum daran, und am Ende kann das Unternehmen entscheiden, ob es das Produkt lizenzieren und vermarkten möchte. Die Entwicklung erfolgt dabei in enger Abstimmung, sodass beide Seiten ihre Expertise einbringen können. Falls das Produkt in die Vermarktung geht, kann auch unsere Technologie für die Produktion verwendet werden – skalierbar je nach Bedarf.
IM+io: Und entwickeln sich diese Projekte manchmal auch dynamisch weiter?
PG: Definitiv. Es gibt häufig Situationen, in denen die ursprüngliche Idee im Laufe des Projekts angepasst wird. Ein Beispiel: Eine Kundschaft wollte ein Bakterium bekämpfen, das sich innerhalb von Körperzellen versteckt. Für klassische Phagen ist das schwer zugänglich. Wir haben dann vorgeschlagen, unsere Plattform zu nutzen, um ein Trägersystem zu entwickeln, das den Wirkstoff gezielt in die Zelle bringt. Das zeigt: Wir sind nicht nur Dienstleistende, sondern auch eine technologische Ansprechstelle.
IM+io: Wie genau verdient Ihr Unternehmen heute Geld – und wo liegt langfristig Ihr größtes wirtschaftliches Potenzial?
PG: Unser Geschäftsmodell ist zweigeteilt. Zum einen arbeiten wir projektbasiert mit Unternehmen zusammen – das heißt, wir entwickeln für sie auf Basis unserer Technologie ein spezifisches Produkt, zum Beispiel einen Wirkstoff gegen ein bestimmtes Bakterium. Dafür erhalten wir in der Regel eine Kombination aus Entwicklungsbudget, Meilensteinzahlungen und später – wenn das Produkt in die Vermarktung geht – auch Lizenzgebühren.
Zum anderen kann unsere Kundschaft auch unsere Produktionssysteme nutzen, etwa den Phagen-Drucker, um die Wirkstoffe direkt in-house herzustellen. Das eröffnet uns ein zweites Einnahmemodell über die Nutzung der Plattform selbst, vergleichbar mit einem Technologieanbieter. Langfristig liegt unser wirtschaftliches Potenzial vor allem darin, dass unsere Plattform in vielen Branchen einsetzbar ist – nicht nur in der Medizin, sondern auch in Landwirtschaft, Industrie oder Umwelttechnologien. Je breiter die Anwendung, desto größer das Marktvolumen. Und wir sitzen mit am Ursprung – bei der Herstellung.
IM+io: Ihr Firmen-Slogan „one platform to conquer all“ erinnert an Herr der Ringe: „one ring to rule them all“. War das Absicht?
PG: (lacht) Ja, absolut. Das kommt tatsächlich noch aus unserer Uni-Zeit. Ich bin ein riesiger Herr der Ringe-Fan. Ich gehe nächste Woche sogar in die Olympiahalle zu einem Live-Orchester-Konzert mit dem zweiten Teil. Der Slogan ist also definitiv eine kleine Hommage – aber er passt auch einfach perfekt zu unserer Vision.
IM+io: Apropos Vision: Wo sehen Sie Invitris in den nächsten Jahren?
PG: Ich wünsche mir, dass wir eine schlanke, aber sehr schlagkräftige Firma bleiben. Unsere Plattform soll sich weiterentwickeln, etwa durch neue Module für DNA-Synthese oder zusätzliche Anwendungen. Gleichzeitig stelle ich mir vor, dass wir Spin-offs gründen – zum Beispiel eine Firma, die sich ausschließlich auf Biopharma-Produkte konzentriert, und eine andere für den Agrarbereich. So könnte rund um unsere Technologie ein ganzes Ökosystem entstehen.