Wie Algorithmen Bakterien zu Biofabriken machen
Hagen von Strünck, Institut für Systembiotechnologie

(Titelbild: © Adobe Stock | 11273047236 | Larissa Lazebnaja )
Kurz und Bündig
Digitale Zellmodelle ermöglichen es, mikrobielle Stoffwechselwege gezielt für die biotechnologische Produktion umzuprogrammieren. Tools wie der CellNetAnalyzer identifizieren effiziente Produktpfade und potenzielle genetische Eingriffspunkte – ganz ohne aufwendige Vorversuche. Trotz ihrer Präzision stoßen solche Modelle bei komplexen Regulationsmechanismen an Grenzen, weshalb Laborvalidierung unverzichtbar bleibt. Der kombinierte Ansatz aus Simulation und Experiment eröffnet neue Perspektiven für das Metabolic Engineering
Die Zukunft der Biotechnologie wird immer mehr am Computer geplant. Digitale Modelle des Zellstoffwechsels ermöglichen es, gezielt in mikrobielle Prozesse einzugreifen und so die Produktion wertvoller Chemikalien zu optimieren. Der CellNetAnalyzer ist dabei mehr als nur ein Werkzeug – er wird zum strategischen Partner bei der Entwicklung leistungsstarker Bakterienfabriken.
Wenn wir an Bakterien denken, fällt den meisten zuerst Krankheit ein – oder vielleicht verdorbene Lebensmittel, die schon beim Öffnen des Kühlschranks Alarm schlagen. Doch nur wenige wissen: Es gibt Bakterien, die wahre Hochleistungsarbeitende sind. Sie steuern komplexe Prozesse, um wertvolle Chemikalien und medizinische Wirkstoffe herzustellen.
Insulin oder die Bulk-Chemikalie Lysin sind nur zwei Beispiele für Produkte, die heute bereits in großem Maßstab mithilfe von Bakterien produziert werden. In einer Zukunft, in der nachhaltige Produktionsweisen immer wichtiger werden und wir uns zunehmend vom Rohstoff Öl verabschieden, rücken diese Mikroorganismen immer stärker in den Fokus der Industrie. Viele Chemikalien, die früher auf Erdölbasis synthetisiert wurden, sollen künftig umweltfreundlich durch bakterielle Systeme hergestellt werden. Doch um solche Prozesse effizient zu gestalten, braucht es vor allem eines: einen präzisen Überblick über den Stoffwechsel der Zelle.
Der Zellstoffwechsel als Produktionsmaschine
Die meisten industriell oder medizinisch interessanten Moleküle entstehen auch im natürlichen Stoffwechsel der Zelle – allerdings nur in sehr geringen Mengen, da sie primär der Zellteilung und dem Überleben dienen. Man kann sich den Zellstoffwechsel wie einen großen Fluss vorstellen, aus dem zahlreiche kleine Bäche und Nebenarme abzweigen. Das Wasser in diesem Bild symbolisiert den Kohlenstoff, der durch die Zelle fließt und dort für den Aufbau lebenswichtiger Komponenten verwendet wird. Doch was passiert, wenn man an einer bestimmten Stelle einen Staudamm baut? Das Wasser wird umgeleitet oder staut sich an einer anderen Stelle – vielleicht dort, wo ein kleiner Bach bisher nur spärlich floss. Mit gezielten Eingriffen in den zellulären Stoffwechsel lässt sich dieser Nebenarm in einen reißenden Strom verwandeln – so lässt sich ein ursprünglich sekundärer Stoffwechselzweig in einen primären Produktpfad überführen. Genau dieses Prinzip wird genutzt, um Zellen dazu zu bringen, große Mengen einer Zielsubstanz zu produzieren.
Was in der Theorie plausibel erscheint, erfordert in der Praxis häufig umfangreiche Versuchsreihen und ist mit Rückschlägen verbunden. Denn nicht jeder „Staudamm“ führt automatisch zum gewünschten Ziel. Um ein bestimmtes Produkt in hoher Menge zu erzeugen, reicht es nicht aus, den Kohlenstofffluss umzuleiten. Oft sind zusätzlich sogenannte Co-Regulatoren notwendig – Moleküle, die enzymatische Reaktionen ermöglichen oder beschleunigen. Fehlen sie, bricht der ganze Prozess zusammen, noch bevor überhaupt etwas produziert werden kann.
Digitale Präzision mit dem CellNetAnalyzer
Heutzutage kann uns der Computer dabei unterstützen, gezielte Eingriffe in den Zellstoffwechsel besser zu planen. Eine entscheidende Rolle spielt dabei Software wie der CellNetAnalyzer – ein MATLAB-basiertes Tool zur Analyse von Stoffwechsel- und Signalnetzwerken, das am Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme in Magdeburg, Deutschland, entwickelt wurde.
Diese Software hilft dabei, mathematische Modelle zellulärer Prozesse zu erstellen und zu analysieren. Dazu wird im ersten Schritt der zentrale Kohlenstoffwechsel vollständig kartiert. Jede biochemische Reaktion – ob Umwandlungs-, Abbau- oder Aufbauprozess – wird in Form einer Gleichung ins System eingetragen. So entsteht ein umfangreiches Netzwerk aus stöchiometrischen Gleichungen, das exakt beschreibt, welche Stoffe in die Zelle gelangen, wie sie miteinander reagieren und welche neuen Moleküle dabei entstehen. Besonders wichtig ist dabei, festzulegen, womit die Zelle „gefüttert“ wird. Denn auch in der digitalen Modellwelt gilt: Ohne Ausgangsstoffe entsteht nichts – auch nicht im CellNetAnalyzer. Die Software benötigt daher eine vollständige Liste aller relevanten Substrate, die auch im realen Kulturmedium enthalten sind. Und natürlich darf auch das gewünschte Endprodukt nicht fehlen. Es wird als sogenannte Target Reaction ins Modell eingebunden – eine Reaktion, in der das Produkt die Zelle verlässt. Diese Zielreaktion wird später zur Zielfunktion bei Optimierungsrechnungen. Ab diesem Punkt beginnt ein innerzellulärer Interessenskonflikt, denn Zellen sind von Natur aus auf Wachstum programmiert. Auch im Modell wird dieses Wachstum über eine Biomasse-Reaktion abgebildet, die den Aufbau zellulärer Bestandteile simuliert – ein biologischer Imperativ, der oft im Widerspruch zur gewünschten Produktbildung steht.
Sobald alle Reaktionen erfasst sind, beginnt die eigentliche Modellierung. Der CellNetAnalyzer berechnet dann alle Elementarflüsse (EFMs) – das sind minimale, in sich geschlossene Wege durch das Netzwerk, die unter stationären Bedingungen funktionieren. Es entsteht eine Vielzahl möglicher Stoffwechselstrategien: Einige führen ausschließlich zur Produktbildung, andere ermöglichen nur Wachstum, wieder andere kombinieren beides in unterschiedlichem Verhältnis.
Auf den ersten Blick klingt es verlockend: Ein Zellweg, der keine Biomasse mehr produziert, sondern ausschließlich ein Produkt! Für jede Produktionsleitung klingt das wie ein Traum. Doch bei näherer Betrachtung offenbart sich, dass dieser Ansatz seine Herausforderungen mit sich bringt. Was nützt es, wenn 100 Zellen bei 100 % Effizienz ein Produkt herstellen, während eine Billionen Zellen, die nur mit 50 % Effizienz arbeiten, in ihrer schieren Masse ein Vielfaches an Endprodukt liefern? Die wahre Kunst liegt in der Balance: zwischen Zellwachstum und Produktbildung, zwischen Effizienz und Zellzahl. Genau hier setzt die digitale Modellierung mit dem CellNetAnalyzer an – sie hilft dabei, das optimale Gleichgewicht zu finden.
Doch so nützlich diese Vielfalt an Stoffwechselwegen auch ist – sie zeigt nur, was möglich ist, aber nicht unbedingt, was optimal ist. Um gezielt herauszufinden, welche dieser Wege unter bestimmten Bedingungen am effizientesten genutzt werden können, kommt die Flux Balance Analyse (FBA) ins Spiel. Dabei handelt es sich um eine rechnerische Methode der Biotechnologie, mit der sich Stoffwechselnetzwerke mathematisch untersuchen lassen.
Optimierung des Zellstoffwechsels
Die Flux Balance Analyse beruht auf einer simplen, aber effektiven Annahme: Die Konzentrationen aller intrazellulären Metabolite bleiben über die Zeit konstant. Es herrscht ein sogenanntes Fließgleichgewicht – jede produzierte Verbindung wird zeitgleich wieder verbraucht. Dadurch entstehen weder Akkumulationen noch Engpässe. Abhängig von der verfügbaren Substratmenge verarbeitet die Zelle ihre Ressourcen entsprechend. Diese stationäre Annahme erlaubt die Anwendung linearer Optimierungsmethoden, um jene Kombination metabolischer Flüsse zu identifizieren, die ein definiertes Ziel – beispielsweise die maximale Synthese eines gewünschten Produkts – unter gegebenen biologischen Randbedingungen wie dem Erhalt des Zellwachstums am effizientesten erreicht.
In der Realität läuft jede Reaktion mit einer bestimmten Geschwindigkeit ab. Um diese zu bestimmen, müssten aufwändige Enzym-Assays im Labor durchgeführt werden – viel Zeit, viel Material, viel Arbeit. Im stationären Zustand, wie ihn die FBA voraussetzt, wird diese Komplexität elegant umgangen. Die exakten Kinetiken werden ignoriert – und gerade das macht die Methode so effizient. Die Software liefert am Ende eine Liste sogenannter Flusswerte – das Herzstück jeder Stoffwechselanalyse.
Ein Flusswert gibt an, wie stark eine bestimmte Reaktion abläuft. Er beschreibt genau das, was ein Enzym-Assay im Labor ebenfalls liefern würde: die Reaktionsrate einer Stoffwechselreaktion – also, wie viele Moleküle eines Metaboliten pro Zeiteinheit umgesetzt werden.
Um auf das Ursprungsbeispiel zurückzukommen: Wie viel Wasser fließt durch den Fluss? Haben wir es hier mit einem kleinen Bach oder einem mächtigen Strom zu tun? Besonders viel Wasser soll in diesem Fall durch die Target Reaction fließen – also durch die Reaktion, die das Produkt aus der Zelle exportiert. Die FBA berechnet hierfür, welche Reaktionen im Netzwerk unter den gegebenen Bedingungen bevorzugt genutzt werden. Auf Basis dieser Analyse identifiziert die Software genetische Zielstrukturen – also spezifische Enzyme oder Reaktionsknotenpunkte – die sich durch gezielte Eingriffe im Stoffwechsel verändern lassen, um die Produktausbeute zu steigern. Diese Zielstrukturen lassen sich im Erbgut der Zelle lokalisieren: Die entsprechenden DNA-Sequenzen codieren für Enzyme, die Umwandlung von Metaboliten katalysieren. Der CellNetAnalyzer schlägt im Rahmen der FBA beispielsweise vor, bestimmte Enzyme verstärkt zu exprimieren, da sie förderlich für den gewünschten Stofffluss sind. In anderen Fällen kann es hilfreich sein, ein Enzym komplett auszuschalten, um den Kohlenstoff gezielt in Richtung des Produkts zu lenken.
Dieser rationale Ansatz bietet Biotechnologen und Biotechnologinnen wertvolle Unterstützung beim präzisen Entwurf von Zellfabriken. Er ermöglicht es, gezielt zu bestimmen, an welchen Stellen im Genom Eingriffe vorgenommen werden müssen und welche Form diese Eingriffe annehmen sollen. Dadurch wird der traditionelle „Trial-and-Error“-Ansatz zunehmend durch eine datengestützte effiziente Methodik ersetzt. Zahlreiche erfolgreiche Beispiele aus der Literatur belegen bereits, dass Zellfabriken mithilfe von Modellierungsdaten optimiert und realisiert werden konnten.
Grenzen der Modellierung: Warum Laborarbeit unersetzlich bleibt
Trotz der vielversprechenden Möglichkeiten der Zellmodellierung müssen jedoch auch die bestehenden Limitationen berücksichtigt werden. Eine Zelle ist ein hochkomplexes, fein ausbalanciertes System, das von einer Vielzahl regulatorischer Mechanismen gesteuert wird. Diese Prozesse sind hierarchisch organisiert: Regulatoren kontrollieren Enzyme, die wiederum von anderen Regulatoren kontrolliert werden. Solche komplexen, mehrstufigen Netzwerke können von der Software nicht vollständig abgebildet werden. Daher kann eine vielversprechende Modellberechnung in der Praxis durch biologische Rückkopplungen, wie sie in realen Zellen vorkommen, beeinträchtigt werden.
Ein klassisches Beispiel sind Feedback-Inhibitionen: Diese dienen der Zelle dazu, ihre eigene Produktion fein zu steuern. Die Aminosäure Lysin ist essenziell für das Zellwachstum. Eine übermäßige Produktion wäre jedoch aus physiologischer Sicht unsinnig. Daher besitzt die Zelle einen Mechanismus, bei dem Lysin als Produkt selbst zurückwirkt: Wenn genügend Lysin vorhanden ist, bindet es an ein Enzym im Syntheseweg und hemmt dessen Aktivität – die Produktion wird automatisch gedrosselt. Dieses Beispiel unterstreicht die nach wie vor zentrale Bedeutung experimenteller Validierung im Labor. Modellierung und Software können Vorschläge machen – doch ob diese in der Realität funktionieren, muss experimentell überprüft werden.
Digitale Stoffwechselmodelle wie der CellNetAnalyzer ersetzen die experimentelle Arbeit nicht – doch sie verändern grundlegend, wie wir sie planen. Sie haben einen entscheidenden Einfluss auf die Wahl der Strategien, die im Metabolic Engineering verfolgt werden. Modellierung fungiert dabei als Kompass: Sie zeigt vielversprechende Routen auf, warnt vor potenziellen Sackgassen und hilft dabei, Ressourcen gezielter einzusetzen.
Die Zukunft der Biotechnologie liegt in einem hybriden Ansatz, in dem Daten, Algorithmen und Laborerfahrung intelligent miteinander verknüpft werden – mit dem klaren Ziel, effiziente, steuerbare Zellfabriken zu entwickeln.