Globale Produktentwicklung ist definiert als die gemeinsame Entwicklung von Produkten durch über mehrere Länder verteilte Teams [1]. Zu den wichtigsten Treibern globaler Produktentwicklung zählen der Wunsch nach Markt- und Kundennähe, die Ausnutzung von Kostenvorteilen und der Zugang zu neuen Technologien [2]. Die standortübergreifende Verwendung von einheitlichen und integrierten Informationssystemen, wie beispielsweise Computer-Aided-Design-(CAD-)Lösungen, Produktkonfiguratoren sowie Wissensdatenbanken, trägt maßgeblich zum Erfolg einer globalen Produktentwicklung bei [3].
ETO-Produkte zeichnen sich dadurch aus, dass ausgewählte Komponenten oder Baugruppen speziell nach Kundenauftrag konstruiert und gefertigt werden. Dies unterscheidet sie von anderen Typen kundenindividueller Produkte, wie beispielsweise Make-to-Order-(MTO-)Produkten, die auf Basis vorentwickelter Komponenten auftragsspezifisch konfiguriert und gefertigt werden. Abhängig von Produkt und Kundenwunsch kann der Grad der erforderlichen auftragsspezifischen Neuentwicklung oder Anpassung eines ETO-Produkts stark variieren. Typische ETO-Produkte sind Industriegüter wie Produktionsanlagen, Kraftwerke oder Schiffe. Für diesen Produkttyp sind im Verlauf der Angebotserstellung und Auftragsabwicklung grundsätzlich Produktentwicklungs- und Konstruktionstätigkeiten vorzunehmen [4]. Da kurze Lieferzeiten und geringe Kosten bedeutende Wettbewerbsfaktoren für ETO-Unternehmen darstellen [5] und auftragsspezifische Anpassungen oft mehr als die Hälfte der Auftragsabwicklungszeit verursachen sowie erheblichen Personalaufwand bedeuten [6], sind schnelle und kosteneffiziente Engineering-Prozesse entscheidend für die Leistungsfähigkeit eines ETO-Unternehmens [7].
Als Teil des von der Schweizer Kommission für Technologie und Innovation (KTI) geförderten Forschungsprojekts FastETO wurde eine Studie mit acht global tätigen Industrieunternehmen aus der DACH-Region durchgeführt, die allesamt ETO-Produkte anbieten. Ziel der Studie war es zu ermitteln, welche Erfolgspraktiken und Konfigurationen für das globale Engineering von kundenindividuellen Produkten existieren und unter welchen Voraussetzungen sich diese eignen. Im Folgenden werden die Ergebnisse der Studie vorgestellt.
Entwicklung von ETO-Produkten
ETO-Unternehmen müssen definieren, zu welchem Anteil die Komponenten und Baugruppen eines Produkts bereits vor Auftragseingang und zu welchem Anteil erst für einen konkreten Kundenauftrag entwickelt werden. Wie in Abbildung 1 dargestellt konnten zwei verschiedene Herangehensweisen für die Entwicklung von ETO-Produkten identifiziert werden.
- MTO-Entwicklung: Initial wird ein konfigurierbares MTO-Produkt mit vielen Varianten entwickelt. Kunden können entweder das nach ihren Vorstellungen konfigurierte Produkt erwerben oder dieses auftragsspezifisch weiterentwickeln lassen. Diese Herangehensweise ist insbesondere für die Entwicklung von Produkten geeignet, die nur zu einem geringen Teil auftragsspezifische Anpassungen erfordern.
- Produktrahmen-Entwicklung: Initial wird ein sogenannter „Produktrahmen“ entwickelt. Dieser muss vor seiner Auslieferung gemäß der Kundenanforderungen fertig entwickelt werden. Dieser Produktentwicklungsprozess eignet sich für Produkte, die grundsätzlich auftragsspezifisches Engineering erfordern.
Globale Organisationsstrukturen
ETO-Unternehmen stehen vor der Herausforderung, zu entscheiden, wie sie die Tätigkeiten der auftragsneutralen Produktentwicklung und des auftragsspezifischen Engineerings organisatorisch aufsetzen. Wie Abbildung 2 illustriert wurden drei Varianten identifiziert:
- Integration von Produktentwicklung und Engineering: Die gleiche Abteilung ist sowohl für die Entwicklung von Neuprodukten als auch für das auftragsspezifische Engineering verantwortlich. Beide Tätigkeiten folgen ähnlichen Prozessen. Diese Struktur erleichtert es, das Wissen, das während des auftragsspezifischen Engineerings generiert wurde, in die spätere Neuproduktentwicklung einfließen zu lassen. Häufig verlangsamt jedoch die gemeinsame Abwicklung der beiden Tätigkeiten die Entwicklung von Neuprodukten, da kundenspezifische Anpassungen oftmals priorisiert werden. Diese Variante ist für Unternehmen geeignet, die eine geringe Anzahl an Produkteinheiten mit einem hohen Grad an auftragsspezifischem Engineering verkaufen.
- Trennung von Produktentwicklung und Engineering: Unterschiedliche Abteilungen sind für Neuproduktentwicklung und auftragsspezifisches Engineering verantwortlich. Die Prozesse in den Abteilungen können sich stark unterscheiden. Vorteilhaft ist die klare Trennung von Verantwortlichkeiten. Nachteilig ist, dass die Produktentwicklung allfällige Veränderungen von Marktanforderungen – beispielsweise der vermehrte Wunsch nach Sensorik im Maschinenbau – nicht direkt über die angefragten kundenspezifischen Anpassungen erkennen kann. Diese Variante ist für Unternehmen geeignet, die eine verhältnismäßig hohe Anzahl an Produkteinheiten mit einem niedrigen Grad an auftragsspezifischem Engineering verkaufen.
- Mischform: Je nach Inhalt der auftragsspezifischen Anfrage bearbeitet entweder die Produktentwicklung oder das auftragsspezifische Engineering den Auftrag. Einfache Anfragen können auch von externen Engineering-Dienstleistern vorgenommen werden. Vorteilhaft ist die problemorientierte Aufgabenverteilung. Nachteilig ist, dass das Wissen der Aufträge, die von externen Engineering-Dienstleistern durchgeführt werden, aus Sicht des ETO-Unternehmens verloren geht. Auch ist ein großer Koordinationsaufwand zur Vergabe der Engineering-Aufträge erforderlich. Diese Variante ist für Unternehmen geeignet, die eine verhältnismäßig hohe Anzahl an Produkteinheiten verkaufen.
Zusätzlich wurden bei den acht Industrieunternehmen verschiedene globale Netzwerkkonfigurationen identifiziert. Diese werden im Folgenden und in Abbildung 2 vorgestellt:
- Kooperatives globales Engineering-Netzwerk (GEN): Diese Konfiguration basiert auf mehreren Engineering-Standorten, die gleichberechtigt sind und in einem Netzwerk agieren. Die Kompetenzen und Fähigkeiten der verschiedenen Standorte unterscheiden sich nur geringfügig. Engineering-Aufträge werden nach Kapazität oder Nähe zum Produktionsstandort vergeben. Ein wesentlicher Vorteil dieser Konfiguration ist, dass das Netzwerk für den Ausgleich von Kapazitätsschwankungen verwendet werden kann. Der Koordinationsaufwand und die Fixkosten sind jedoch hoch.
- Unabhängiges GEN: Diese Konfiguration basiert auf mehreren Engineering-Standorten, die gleichberechtigt sind und unabhängig voneinander handeln. Jeder Standort ist für eine bestimmte Produktlinie verantwortlich, die üblicherweise am gleichen Standort entwickelt und / oder produziert wird. Aufgrund der unterschiedlichen Kompetenzen und Fähigkeiten der verschiedenen Standorte ist ein Kapazitätsausgleich nur schwer möglich. Vorteilhaft ist, dass die Verantwortlichkeiten klar verteilt sind und die Allokation von Aufträgen somit wenig Aufwand erfordert.
- GEN mit Lead Center: Diese Konfiguration basiert auf mehreren Engineering-Standorten, von denen einer federführend ist. Das Lead Center – für gewöhnlich am Firmensitz beheimatet – bearbeitet die anspruchsvolleren Engineering-Aufträge, während die regionalen Standorte kleinere lokale Anpassungen ausführen. Ein wesentlicher Vorteil dieser Konfiguration ist, dass die Grobprozesse und die wichtigsten Systeme vom Lead Center vorgegeben und an allen Standorten verwendet werden. Der federführende Engineering-Standort koordiniert die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Standorten. Es besteht dennoch die Gefahr, dass sich ähnelnde Anfragen in verschiedenen Regionen unabhängig voneinander bearbeitet werden, was ineffizient ist.
Informationsaustausch in globalen Engineering-Netzwerken
Während das Wissen zu MTO-Produkten mit ihren möglichen Varianten häufig in Produktkonfiguratoren hinterlegt wird, werden auftragsspezifische Lösungen nur selten in solchen Informationssystemen abgelegt, da sie später nicht als Standard verkauft werden sollen. Die Studie zeigte, dass oft nicht ausreichend Informationen zwischen den global verteilten Engineering-Standorten ausgetauscht werden und insbesondere keine formalisierten Prozesse für den Austausch existieren. Ein Studienpartner, dessen Unternehmen die Konfiguration „GEN mit Lead Center“ verwendet, betonte, dass sein Engineering-Standort China gerne mehr Informationen zu den Lösungen erhalten würde, die vom Engineering-Standort Indien entwickelt würden. Die vom europäischen Lead Center entwickelten Lösungen seien häufig zu komplex oder unpassend für den chinesischen Markt.
Eine Engineering-Datenbank kann genutzt werden, um auftragsspezifische Lösungen zentral zu speichern und zusätzlich die Abwicklung von Engineering-Aufträgen zu steuern. Die verschiedenen Standorte und die einzelnen Abteilungen (wie zum Beispiel Vertrieb, Engineering, Produktentwicklung) können so auf historische Aufträge zurückgreifen und diese bei Bedarf als Referenz verwenden und weiterentwickeln. Eine Engineering-Datenbank erleichtert erstens den Informationsaustausch zwischen global verteilten Engineering-Standorten; und zweitens kann die Produktentwicklung die in der Datenbank gespeicherten Informationen auswerten, um so zu ermitteln, welche kundenspezifischen Lösungen in den Standard der nächsten Produktgeneration – und damit in den Produktkonfigurator – integriert werden. Insbesondere für Unternehmen, die eine große Anzahl von – in leicht veränderter Form – wiederkehrenden Engineering-Anfragen haben, ist eine Engineering-Datenbank nützlich. In Abbildung 3 wird eine Engineering-Datenbank mit ihren wesentlichen Funktionen und Inhalten exemplarisch dargestellt.
Lokale Anforderungen
Unterschiedliche lokale Voraussetzungen und Anforderungen können dazu führen, dass Systeme, Prozesse und Produkte an den regionalen Standorten variieren. Beispielsweise befand ein Studienteilnehmer, dass einige ihrer Produktionsstandorte deutlich detailliertere Konstruktionszeichnungen benötigten als andere. Aus diesem Grund passe der regionale Engineering-Standort die in Europa erstellten Zeichnungen üblicherweise so an, dass die Produktion vor Ort sie nachvollziehen könne. Studienteilnehmer betonten, dass es für sie oft herausfordernd sei, festzulegen, welche Entscheidungen global getroffen werden und innerhalb welcher Grenzen die regionalen Engineering-Standorte Gestaltungsfreiheit haben sollten. Hier ist es hilfreich, klar zwischen Systemen, Prozessen und Produkten zu differenzieren, die global identisch sein sollen – und damit einem „stabilen Kern“ zugeordnet werden – und solchen, die regionale Standorte innerhalb von „flexiblen Grenzen“ selbst definieren dürfen [8]. Im Kontext des globalen Engineerings von ETO-Produkten hat es sich dabei als vorteilhaft erwiesen, Software-Anwendungen wie Produktkonfiguratoren und Engineering-Datenbank oder auch den Ablauf des Angebots-Prozesses global vorzugeben. Lösungen, die Kunden bestimmter Regionen bedienen und lokale Vorschriften berücksichtigen, können sich innerhalb „flexibler Grenzen“ bewegen und lokal definiert werden. Dieses Architekturprinzip wird auch dazu genutzt, an den „flexiblen Grenzen“ entstehende Innovationen zu fördern und bei Akzeptanz in den „stabilen Kern“ zu integrieren.
Fazit
Kundenindividuelle Produkte, die zumindest zum Teil auftragsspezifisch entwickelt oder angepasst werden, stellen vielfältige und komplexe Anforderungen an ein globales Engineering. Da noch während der Angebotserstellung und Auftragsabwicklung Produktanpassungen vorgenommen werden, sind schnelle und effiziente Engineering-Prozesse zur Ermöglichung kurzer Lieferzeiten erforderlich. Die Nähe zu Kunden und Produktion erleichtert die Abstimmung von Produktspezifikationen enorm. Welche Organisationsstrukturen sich für das globale Engineering eines Unternehmens am besten eignen, steht in engem Zusammenhang mit der Anzahl der abgesetzten Produkteinheiten und dem Grad der auftragsspezifischen Anpassungen. Der Einsatz passender Informationssysteme unterstützt wissensbasierte Prozesse in globalen Engineering-Netzwerken maßgeblich. Erfolgsentscheidend ist es, weiterhin eindeutig zu definieren, welche Systeme, Prozesse und Produkte global festgelegt werden und innerhalb welcher Grenzen die regionalen Standorte frei entscheiden dürfen.
Literaturverzeichnis
[1] Eppinger, S., Chitkara, A.: “The new practice of global product development.” In: MIT Sloan Management Review, Ausgabe 4/2006. S. 21–30
[2] Tripathy, A., Eppinger, S.: “Organizing Global Product Development for Complex Engineered Systems.” In: IEEE Transactions on Engineering Management, Ausgabe 3/2011. S. 510–529
[3] Willner, O., Weber, S., Eck, A., Schönsleben, P.: “IT-unterstütztes Wissensmanagement im globalen Engineering.“ In: Industrie Management, Ausgabe 4/ 2014. S. 49-52
[4] Willner, O., Powell, D., Duchi, A., Schönsleben, P.: “Globally Distributed Engineering Processes: Making the Distinction between Engineer-to-Order and Make-to-Order.” In: Procedia CIRP 47th CIRP Conference on Manufacturing Systems 2014. S. 663–668
[5] Bozarth, C., Chapman, S.: “A contingency view of time-based competition for manufacturers.” In: International Journal of Operations & Production Management, Ausgabe 6/1996. S. 56–67
[6] Pandit, A., Zhu, Y.: “An ontology-based approach to support decision-making for the design of ETO (Engineer-To-Order) products.” In: Automation in Construction, Ausgabe 6/2007. S. 759–770
[7] Schönsleben, P.: “Methods and tools that support a fast and efficient design-to-order process for parameterized product families.” In: CIRP Annals-Manufacturing Technology, Ausgabe 1/ 2012. S. 179–182
[8] Schmiedel, T., vom Brocke, J., Uhl, A.: “Operational Excellence.” In: Digital Enterprise Transformation: A Business-Driven Approach to Leveraging Innovative IT. Surrey: Ashgate Publishing Ltd. 2014
Die ausführliche Studie zum Thema „Globales Engineering für ETO-Produkte“ kann von den Autoren dieses Beitrags bezogen werden. Die ausführliche Studie „Success Practices for Global Engineering in an ETO Setting“ ist online frei verfügbar. http://e-collection.library.ethz.ch/eserv/eth:46795/eth-46795-01.pdf
Olga Willner, Alexander Eck, Paul Schönsleben