Virtuelle Körper, echte Chancen –
Für eine Medizin, die Geschlecht mitdenkt
Laura Steffny, August-Wilhelm Scheer Institut

(Titelbild: © Adobe Stock | 724370063 | KikkyCNX )
Kurz und Bündig
Digitale Zwillinge bieten neue Chancen für eine Medizin, die geschlechtsspezifische Unterschiede ernst nimmt. Sie erkennen Krankheitsverläufe präziser, simulieren individuelle Reaktionen und machen sichtbar, was lange übersehen wurde – etwa bei Herzinfarkten oder medikamentöser Wirkung. Auf Basis genetischer, bildgebender und verhaltensbezogener Daten ermöglichen sie eine gerechtere Diagnostik – vorausgesetzt, Bias und Datenlücken werden systematisch adressiert.
Eine Medizin, die alle gleichbehandelt, ist oft ungerecht. Frauenherzen schlagen anders. Männerkörper reagieren anders. Trotzdem dominieren in der Diagnostik und Therapie oft „Einheitsmodelle“. Digitale Zwillinge könnten das ändern. Sie machen aus Durchschnittspatient:innen echte Individuen – und erlauben erstmals medizinische Präzision mit Geschlechterblick. Zukunftsmusik? Keineswegs. Die Technologie ist da. Jetzt ist die Frage: Nutzen wir ihr Potenzial?
Die medizinische Forschung hat in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht – und dennoch zeigt sich immer wieder: Ein Großteil der Diagnostik und Therapie basiert auf Modellen, die „durchschnittliche Patient:innen“ abbilden. Ein Konzept, das oft an den individuellen Realitäten von Patientinnen und Patienten vorbeigeht. Besonders deutlich wird das bei geschlechterspezifischer Gesundheit. Frauen werden in klinischen Studien unterrepräsentiert, Symptome falsch interpretiert und Therapien schlechter angepasst.
Genau hier setzen Digitale Zwillinge an: virtuelle Abbilder realer Menschen, die mithilfe von KI, Sensorik und Gesundheitsdaten ein personalisiertes Modell des individuellen Körpers erschaffen. Was nach Science-Fiction klingt, ist längst medizinische Praxis – wenn auch noch in Nischen. Doch erste Studien zeigen beeindruckende Resultate: mehr Präzision in der Diagnostik, bessere Vorhersagen, individuellere Therapien.
Was die evidenzbasierte Medizin lange übersehen hat, könnte nun durch datengestützte Präzision aufgeholt werden – geschlechtersensibel, individuell und gerecht.
Was ist ein Digitaler Zwilling?
Der Begriff „Digitaler Zwilling“ stammt ursprünglich aus der Industrie. Dort werden digitale Kopien von Maschinen oder Anlagen erstellt, um deren Zustand in Echtzeit zu überwachen, Fehler frühzeitig zu erkennen oder zukünftige Szenarien zu simulieren. In der Medizin funktioniert das Prinzip ähnlich – nur dass das Objekt der Abbildung kein Triebwerk ist, sondern ein Mensch.
Ein Digitaler Zwilling ist ein datenbasiertes, virtuelles Modell einer konkreten Person. Er speist sich aus verschiedenen Quellen: Gesundheitsakten, Genomdaten, Echtzeitmessungen durch Wearables, bildgebende Verfahren oder auch Verhaltensdaten. Mithilfe von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz entsteht daraus ein personalisiertes Abbild – individuell, dynamisch und lernfähig.
Das Ziel: Krankheiten früher erkennen, Therapieentscheidungen präziser treffen, Nebenwirkungen vermeiden – kurz: die Medizin passgenauer machen. Ein Digitaler Zwilling kann etwa simulieren, wie eine bestimmte Patientin auf ein Medikament reagieren wird. Oder er zeigt, ob sich bei einem Patienten bestimmte Risikofaktoren zu einer Erkrankung verdichten – noch bevor klinische Symptome sichtbar werden.
So gesehen ist der Digitale Zwilling keine technische Spielerei, sondern ein potenziell mächtiges Werkzeug für eine Medizin, die nicht nur auf Durchschnittswerte setzt, sondern auf echte Individualisierung.
Gender Bias in der Medizin – ein Überblick
In der Medizin herrscht seit Langem ein Irrglaube vor: dass Männer und Frauen im Prinzip gleich funktionieren – mit ein paar hormonellen Unterschieden. Das Ergebnis: Klinische Studien wurden jahrzehntelang überwiegend an männlichen Probanden durchgeführt. Frauen galten als „komplizierter“, „zyklusbedingt unberechenbar“ oder schlicht nicht repräsentativ. Die Folgen spüren wir bis heute.
Die britische Autorin Caroline Criado Perez spricht in ihrem Buch Invisible Women von einer „Gender Data Gap“ – einer strukturellen Unsichtbarkeit, weil Frauen in vielen Systemen einfach nicht mitgedacht werden. „Wenn wir nicht messen, was zählt, zählt es auch nicht“, schreibt sie – und verdeutlicht damit eindrücklich, warum geschlechtersensible Medizin überfällig ist.
Herzinfarkte zum Beispiel: Bei Frauen äußern sich die Symptome oft anders als bei Männern – weniger Brustschmerz, häufiger Übelkeit oder Atemnot. Trotzdem sind gängige Diagnoseverfahren auf das „männliche“ Muster geeicht.
Die niederländische Kardiologin Janneke Wittekoek bringt es im ZDF treffend auf den Punkt: „Das Problem ist eigentlich, dass Frauen wie kleine Männer behandelt werden. Sehr viel in der Medizinforschung basiert auf dem Männerkörper, dem sogenannten ‚Reference Man‘.“
Auch in der Pharmakologie zeigt sich der Bias: Dosierungen, Nebenwirkungen und Wirkstoffverteilungen unterscheiden sich zwischen den Geschlechtern – werden aber häufig nicht ausreichend differenziert betrachtet. Geschlechtsspezifische Medizin versucht, diese Lücken zu schließen. Sie betrachtet biologische und soziokulturelle Unterschiede, will Diagnostik und Therapie anpassen. Doch in der Praxis ist sie oft noch Theorie. Standardisierte Verfahren dominieren, personalisierte Ansätze sind die Ausnahme.
Genau hier kommt die Stärke Digitaler Zwillinge ins Spiel: Sie ermöglichen nicht nur individualisierte, sondern auch geschlechtersensible Modelle. Die Frage ist: Wird diese Technologie genutzt, um Unterschiede sichtbar und medizinisch relevant zu machen – oder reproduziert sie unbewusst alte Muster?
Digitale Zwillinge als Game Changer
Digitale Zwillinge könnten eine neue Ära in der personalisierten und geschlechtersensiblen Medizin einläuten. Erste Anwendungen zeigen, was möglich ist, wenn Patient:innen nicht länger nach Durchschnittswerten behandelt werden, sondern als individuelle Systeme mit geschlechtsspezifischen Besonderheiten.
In der Frauenmedizin etwa konnte ein Digitaler Zwilling mit 97,2 Prozent Genauigkeit eine Gestationsdiabetes-Erkrankung vorhersagen – deutlich früher und präziser als konventionelle Methoden (Leszczełowska et al., 2024). Auch bei der individuellen Risikoeinschätzung während der Schwangerschaft zeigte das System 83,5 Prozent Treffgenauigkeit – ein klarer Fortschritt gegenüber standardisierten Scoring-Modellen.
Auch in der Männergesundheit gibt es vielversprechende Ansätze: Bei Prostatakrebs erreichten digital gestützte Vorhersagen zur Rückfallwahrscheinlichkeit eine Treffsicherheit von 96,25 Prozent (Kim et al., 2022). Damit lassen sich Therapien gezielter planen – invasive Eingriffe könnten in vielen Fällen vermieden werden.
Und selbst jenseits geschlechtsspezifischer Erkrankungen ist der Unterschied spürbar: In der Diabetesbehandlung etwa führte eine vom Digitalen Zwilling gestützte Therapie zu einem signifikanten Rückgang des HbA1c-Werts um –2,9 – verglichen mit nur –0,3 in der Kontrollgruppe (Joshi et al., 2023). In der Neurologie wiederum erkannten KI-gestützte Zwillinge Gehirnatrophie bei Multipler Sklerose fünf bis sechs Jahre früher als herkömmliche MRT-Verfahren (Cen et al., 2023a, 2023b).
Diese Beispiele zeigen: Digitale Zwillinge machen Unsichtbares sichtbar. Sie erkennen Muster, die herkömmliche Diagnostik oft übersieht – und geben der Medizin damit die Chance, endlich individueller und gerechter zu werden.
Chancen und Herausforderungen
Digitale Zwillinge eröffnen eine neue Dimension der Präzisionsmedizin. Die größte Chance liegt dabei in ihrer Fähigkeit, nicht nur Krankheiten zu erkennen, sondern deren individuelle Entwicklung zu modellieren – unter Einbeziehung von Geschlecht, Genetik, Lebensstil und Umweltfaktoren. Eine Vision, die bisher eher der Forschung vorbehalten war, wird zunehmend klinisch greifbar.
Für Patient*innen bedeutet das: weniger Trial-and-Error, mehr gezielte Therapie. Statt Medikamente auf Basis statistischer Durchschnittswerte zu verordnen, können Ärzt:innen mithilfe Digitaler Zwillinge die Wirkung und Nebenwirkungen individuell vorhersagen. Besonders in sensiblen Bereichen wie der Onkologie oder bei chronischen Erkrankungen wie Diabetes und Herzinsuffizienz bietet das enormes Potenzial – nicht zuletzt, um geschlechterspezifische Reaktionen besser zu berücksichtigen (beispielsweise Joshi et al., 2023; Gu et al., 2024).
Auch für Forschung und klinische Studien verändern Digitale Zwillinge die Spielregeln. Sie erlauben die Simulation von Therapieverläufen – und können so reale Kontrollgruppen teilweise ersetzen oder ergänzen. Eine Studie zur Optimierung von Crohn-Therapien zeigte, dass durch Digitale Zwillingsmodelle die Größe der Kontrollgruppen um bis zu 34 Prozent reduziert werden konnte (Turner et al., 2024).
Doch bei aller Euphorie gibt es auch Herausforderungen:
- Datenschutz und Vertrauen: Digitale Zwillinge basieren auf sehr persönlichen Daten – von Genom-Informationen bis hin zu Echtzeitdaten aus Wearables. Ihre sichere Verarbeitung und der transparente Umgang damit sind essenziell, um Vertrauen zu schaffen.
- Bias in den Daten: Wenn Trainingsdaten historisch verzerrt sind – etwa weil Frauen seltener Teil von Studien waren – kann auch ein Digitaler Zwilling bestehende Ungleichheiten fortschreiben, statt sie zu beheben. Gerade bei geschlechtersensibler Medizin ist das Risiko real.
- Zugang und Verfügbarkeit: High-End-Diagnostik darf nicht nur einem exklusiven Kreis vorbehalten bleiben. Die Integration in den klinischen Alltag – auch in weniger spezialisierten Einrichtungen – entscheidet mit darüber, ob der Digitale Zwilling wirklich zum Game Changer wird oder ein Luxuswerkzeug bleibt.
Ausblick: Die Zukunft der personalisierten, geschlechtersensiblen Medizin
Die Idee einer Medizin, die für jeden Menschen anders – und doch für alle gerechter – ist, klingt nach einer Idealvorstellung. Digitale Zwillinge bringen diese Vision jedoch in Reichweite. In einer Zeit, in der Gesundheitsdaten in Echtzeit verfügbar sind und KI-Modelle täglich dazulernen, wird es möglich, Präzision und Fairness zu verbinden.
Dabei geht es nicht nur um bessere Technik, sondern um ein Umdenken: weg von der linearen Logik der Leitlinie, hin zur dynamischen, personalisierten Entscheidungsunterstützung. In Zukunft könnten Ärzt:innen bei jeder Diagnose und Therapie die Simulation eines Digitalen Zwillings zu Rate ziehen – um zu sehen, wie dieser Körper reagiert, nicht irgendeiner.
Gerade in der geschlechterspezifischen Versorgung schlummert hier enormes Potenzial. Statt biologische und hormonelle Unterschiede als Komplexität zu sehen, könnten sie systematisch berücksichtigt – ja sogar antizipiert – werden. Die Technologie dafür existiert. Die Frage ist, wie wir sie implementieren.
Dazu braucht es klare Strategien: Interoperabilität zwischen Systemen, verbindliche ethische Standards im Umgang mit sensiblen Daten und gezielte Förderprogramme, die auch unterrepräsentierte Gruppen adressieren. Nur wenn Diversität auch in der Entwicklung von Digitalen Zwillingen mitgedacht wird, entsteht echte Fairness – geschlechtersensibel, datenbasiert, menschennah.
Am August-Wilhelm Scheer Institut beschäftigen wir uns aktuell genau mit dieser Frage: Wie lassen sich geschlechtsspezifische Daten in digitale Modelle integrieren, ohne neue Verzerrungen zu erzeugen? Unsere Hypothese: Nur wenn Genderaspekte schon in der Modellarchitektur berücksichtigt werden – und nicht erst in der Anwendung –, kann ein Digitaler Zwilling tatsächlich gerechter wirken als klassische Methoden.
Fazit
Digitale Zwillinge versprechen nicht weniger als einen Paradigmenwechsel in der Medizin: weg vom Durchschnitt, hin zum Individuum. Sie machen es möglich, Diagnosen früher zu stellen, Therapien gezielter zu planen und geschlechterspezifische Unterschiede endlich ernst zu nehmen. Studien zeigen beeindruckende Ergebnisse – von der frühen MS-Erkennung bis zur präzisen Prognose bei Prostatakrebs oder Schwangerschaftsdiabetes.
Doch Technik allein reicht nicht. Damit Digitale Zwillinge ihr Potenzial entfalten können, braucht es strukturelle Veränderungen: mehr Diversität in den Daten, mehr Transparenz in den Algorithmen und einen mutigen Umgang mit Innovation. Vor allem aber braucht es die Bereitschaft, Patient:innen nicht nur als Datenquelle, sondern als Individuen zu sehen – mit all ihren Unterschieden.
Die Medizin der Zukunft ist nicht nur digital. Sie ist auch differenziert, inklusiv und gerecht. Und vielleicht hilft uns genau dieser zweite, digitale Blick auf den Menschen, den ersten wieder klarer zu sehen.