Die Kombination von Smart Services und multi-sided Markets bietet weitreichende Markt- und Innovationschancen. Anbieter von multi-sided Smart Services können ihre eigene Wertschöpfung erweitern und dank dem zusätzlich generierten Mehrwert eine noch stärkere Kundenbindung realisieren. Der Aufbau eines multi-sided Markets ist jedoch herausfordernd, was einen genauen Blick auf die strategischen Optionen unverzichtbar macht.
Multi-sided Markets, oft auch multi-sided Platforms genannt, existieren seit längerem. Bekannte Beispiele sind etwa Ebay (Plattform für Käufer und Verkäufer), Facebook (Plattform für Benutzer, Werbetreibende, Entwickler von Spielen und Inhalten sowie angeschlossene Webseiten von Drittanbietern), Spielekonsolen wie Sony’s PlayStation (Plattform für Benutzer und Spieleentwickler), Einkaufscenter (Plattform für Konsumenten und Einzelhandelsgeschäfte) oder Kreditkarten (Plattform für Karteninhaber und Händler). Auch bei Smart Services bietet sich die Möglichkeit an, nicht nur die eigenen Kunden anzusprechen, sondern auch andere Anbieter oder Abnehmer einzubinden. Doch multi-sided Markets haben ihre eigenen Regeln, die es zu beachten gilt.
Multi-sided Markets im Allgemeinen
Die zentrale Rolle von multi-sided Markets besteht darin, zwei oder mehrere unterschiedliche, jedoch voneinander abhängige Kundengruppen zusammenzuführen. Solche Märkte generieren Wert, indem sie eine reale oder virtuelle Plattform bieten, um Interaktionen zwischen den Mitgliedern verschiedener Kundengruppen zu erleichtern und dadurch deren Transaktionskosten zu minimieren [1]. Dieser Nutzen entsteht jedoch nur, wenn genügend Mitglieder auf allen Seiten der Plattform gewonnen werden. Solche Netzwerkeffekte sind typisch für die meisten Multi-sided Markets [2]. Ein Einkaufscenter ist für Konsumenten nur dann attraktiv, wenn dort genügend Einzelhandelsgeschäfte vorhanden sind. Andererseits sind die Inhaber der Geschäfte nur dann bereit für die Mietkosten aufzukommen, wenn das Einkaufscenter von genügend potenziellen Kunden aufgesucht wird. Dieser Zustand, dass Kunden auf der einen Seite der Plattform keine Mitgliedschaft ohne Kunden auf der anderen Seite eingehen wollen, stellt die multi-sided Markets vor das sogenannte „Huhn-Ei-Dilemma“ [3].
Trotz des großen Potenzials von multi-sided Markets und der Möglichkeit, als Intermediär neuen Wert zu schaffen und an den Interaktionen der Marktteilnehmer mitzuverdienen, bekunden viele Plattformbetreiber Mühe, ein nachhaltiges und profitables Geschäft aufzubauen. Eine Erklärung dafür ist, dass sie sich auf grundlegende Denkweisen und Geschäftsregeln verlassen, die für Produkte ohne Netzwerkeffekte vorgesehen sind [4]. Denn die Existenz von Netzwerkeffekten verlangt nach eigenständigen Überlegungen sowie Wachstumsstrategien und setzt nicht zuletzt auch eine Grenze für die mögliche Anzahl von profitablen multi-sided Platforms innerhalb eines Marktsegments. Deshalb sind Pionierunternehmen („First Mover“) tendenziell im Vorteil [5].
Single- und multi-sided Smart Services
Unternehmen, die Smart Services anbieten oder in Zukunft anbieten wollen, sollten die Möglichkeit eines mehrseitigen Ansatzes unbedingt prüfen. Denn auch bei Smart Services bietet sich die Möglichkeit an, nicht nur die eigenen Kunden anzusprechen, sondern auch andere Anbieter oder Abnehmer einzubinden. Grundsätzlich stehen vier unterschiedliche Wege zur Nutzung von Smart Services zur Verfügung, die am Beispiel eines Herstellers von Druckern aufgezeigt werden [6]. Die ersten beiden Ansätze konzentrieren sich nur auf die eigentlichen Kunden, wohingegen die Ansätze drei und vier in den Grundzügen einem multi-sided Market entsprechen:
- Kernprodukt verbessern (single-sided)
Dieser Ansatz umfasst die einfachste Form von Smart Services. Das Produkt selbst wird mit automatisierten Daten und Diensten angereichert. Beispielsweise kann der aktuelle Zustand eines Produktes gemessen und angezeigt werden. In diesem Rahmen wird heute bei den meisten Tonern der Füllstand über das Netzwerk am Computer in Echtzeit angezeigt oder der Defekt eines Gerätes via Fernwartung diagnostiziert und im Idealfall sogar sofort behoben. - Gesamtlösung anstreben (single-sided)
Der Gesamtlösungsansatz geht über das Kernprodukt hinaus. Dank neuer technologischer Möglichkeiten werden weiterführende Dienstleistungen mit hohem Mehrwert angeboten. Das Ziel ist in diesem Fall die Transformation hin zum Gesamtlösungsanbieter, jedoch immer noch nahe beim Kernprodukt. Der Druckerhersteller könnte beispielsweise die Druckqualität durch eine Hilfestellung während des Designprozesses erhöhen. Denkbar wäre auch ein auf den Drucker abgestimmtes PowerPoint-Plugin zur Optimierung von Grafiken. - Daten zugänglich machen (multi-sided)
Der Ansatz der Datenaggregation geht davon aus, dass über das Kernprodukt gewisse Daten gemessen, gesammelt und ausgewertet werden können, die nicht nur für Kunden, sondern auch für andere Anbieter und Partner interessant sind. In diesem Fall wird das Geschäftsmodell ergänzt und sieht den Verkauf dieser Daten oder die Beteiligung an den Umsätzen der Datennutzer vor. Für einen Druckerhersteller könnte dies zum Beispiel die Zusammenarbeit mit lokalen Toner- oder Papierlieferanten umfassen, die zeitnah neuen Toner oder, abhängig von der Tinten- und Luftfeuchtigkeit, das optimale Papier liefern könnten. - Aufbau eines Ökosystems (multi-sided)
Im vierten Ansatz wird bereits in der Entwicklung der Produkte das Ziel festgelegt, neuartige Geschäftschancen und Dienstleistungen in Zusammenarbeit mit anderen Produzenten und dank Smart Services zu ermöglichen. Dieser Ansatz verfolgt die Bildung eines Ökosystems, in welchem unterschiedliche Produkte und Daten aufeinander abgestimmt kommunizieren. Für den Druckerhersteller kann dies bedeuten, dass beispielweise der Drucker, der Luftbefeuchter, die Steckdose und der Computer gemeinsam kommunizieren. Der Luftbefeuchter würde den Toner vor zu starker Trockenheit schützen. Die Steckdose und der Computer würden sicherstellen, dass der Drucker gemeinsam mit dem Computer an- und ausgeschaltet wird, um den Stromverbrauch zu minimieren.
Auch wenn die ersten beiden Ansätze näher beim Kernprodukt liegen und einfacher umzusetzen sind, bieten die mehrseitigen Ansätze ein größeres Spektrum an Möglichkeiten und tendenziell den größeren Mehrwert für Anbieter und Kunden. Sind das System und das Netzwerk außerdem einmal aufgebaut, entsteht ein „Lock-In-Effekt“ für Kunden sowie Teilnehmer und die Eintrittsbarrieren für zusätzliche Konkurrenten steigen. Die Herausforderung liegt jedoch wie bei allen multi-sided Markets im Aufbau und Halten einer kritischen Masse an Teilnehmern auf allen Seiten. Für den Aufbau solcher multi-sided Smart Services ist deshalb eine klare Vorgehensweise festzulegen.
Aufbaustrategien für multi-sided Smart Services
Entwickler und Betreiber eines mehrseitigen Ansatzes von Smart Services müssen sich von Beginn an mit dem Mehrwert auseinandersetzen, den sie den unterschiedlichen Teilnehmergruppen bieten. Je nachdem, welcher Nutzen im Vordergrund steht, ist eine von vier Normstrategien zum Aufbau von multi-sided Smart Services zu wählen, um auf das „Huhn-Ei-Dilemma“ reagieren zu können. Abbildung 1 zeigt die vier Aufbaustrategien im Überblick.
In der Matrix sind diejenigen Marktteilnehmer als Kunden bezeichnet, welche die Plattform nutzen, um beispielsweise an ein Produkt oder eine Dienstleistung zu gelangen. Sie werden am multi-sided Market nur dann teilnehmen, wenn durch die Nutzung der Plattform entscheidende Preis- oder zusätzliche Leistungsvorteile entstehen. Auf der anderen Seite sind die Anbieter von Produkten oder Dienstleistungen nur an einer Partizipation interessiert, wenn für sie neue Innovationschancen oder Vermarktungsvorteile resultieren. Die verschiedenen Nutzenarten sind als hauptsächliche Beweggründe zu verstehen und beinhalten in jedem Fall gewisse Absatz- oder Preisüberlegungen. Die vier Aufbaustrategien werden am folgenden fiktiven Praxisbeispiel erläutert.
Beispiel: Polo Tech Shirt von Ralph Lauren
Mit dem Polo Tech Shirt, das voraussichtlich 2015 in den Handel kommt, preist Ralph Lauren ein neues Zeitalter von tragbarer Technologie an. Im Hemd verarbeitete Biosensor-Fasern ermöglichen den Sportlern, umfassende Daten über ihren Kalorienverbrauch, die Bewegungsintensität, die Herzfrequenz oder die zurückgelegte Entfernung in Echtzeit auf ihrem Smartphone oder Tablet abrufen zu können. Mit diesen Daten will Ralph Lauren dazu beitragen, die Trainings zu optimieren und ein gesünderes und besser informiertes Leben zu führen. Die Technologie und die gesammelten Nutzungsdaten könnten von Ralph Lauren im Rahmen einer multi-sided Smart Service Lösung weiter genutzt werden, um zusätzlichen Wert für sich, andere Anbieter und die Benutzer zu generieren.
- Zugangs-Strategie und Kurator-Strategie
Die ersten Kombinationsvarianten Vermarktung/Preis und Vermarktung/Leistung entsprechen der typischen Rolle eines multi-sided Markets als Intermediär am besten. Die gewonnenen Daten werden von Ralph Lauren weiterverwendet, um zum Beispiel Interaktionen (via App oder Online-Plattform) zwischen Anbietern von Sportnahrungsmitteln oder Supplementen und den Trägern des Polo Tech Shirts zu ermöglichen.Im ersten Fall (Zugangs-Strategie) beabsichtigt Ralph Lauren als Plattformbetreiber, den Kunden bestimmte Preisvorteile gegenüber anderen Beschaffungsquellen zu ermöglichen. Der primäre Anreiz zur Mitgliedschaft besteht daher aus Kundensicht im attraktiveren Preis. In einem ersten Wachstumsschritt fokussiert sich Ralph Lauren weniger auf die Qualität der Anbieter oder deren Reputation, sondern vielmehr darauf, möglichst zahlreiche Händler zu akquirieren, die ihre bestehenden Produkte zu günstigeren Konditionen im multi-sided Market anbieten. Entweder werden die Preise durch den Konkurrenzkampf und die Transparenz auf der Plattform geprägt, damit die Kunden jeweils zwischen den preisgünstigsten Offerten auswählen können. Dies ist insbesondere dann interessant, wenn die Produkte geringe Differenzen aufweisen oder identisch sind (Markenartikel). Oder die Anbieter müssen im Sinne einer Teilnahmebedingung gewisse Rabatte gewähren, was einer Deal- oder Discountplattform gleichkäme.Im zweiten Fall (Kurator-Strategie) steht für die Kunden nicht nur ein guter Preis, sondern ein umfassender Mehrwert der Plattform im Vordergrund. Dies kann zum Beispiel den Zugang zu schwierig auffindbaren Anbietern, eine breite Auswahl, die Einhaltung von Qualitätsstandards oder Komfort umfassen. Aus Sicht des Plattformbetreibers muss hier eine stärkere Selektion stattfinden, damit der umfassende Mehrwert für die Kunden sichergestellt wird. Der Betreiber agiert deshalb als Kurator der ausgewählten Anbieter und allenfalls auch Kunden. Im Beispiel von Ralph Lauren ginge es darum, solche Anbieter von Sporternährung zu finden, die einen sehr hohen Qualitätsstandard erfüllen oder die einzigartige Spezialmischungen anbieten. - Schnittstellen-Strategie und Klub-Strategie
Bei den weiteren Kombinationsvarianten, Innovation/Preis und Innovation/Leistung, stehen neben der Schaffung von Interaktionsmöglichkeiten für die Plattformteilnehmer die Entwicklung und Nutzung innovativer Produkte und Dienstleistungen im Zentrum. Das bedeutet, dass die Technologie und die Daten von den Anbietern genutzt werden, um neue Angebotsformen zu entwickeln.
Im ersten Fall (Schnittstellen-Strategie) will der Plattformbetreiber, dass möglichst viele Anbieter mit Hilfe seiner Daten und Technologien innovieren, damit der Wert und der „Lock-In-Effekt“ des so entstehenden Ökosystems steigen. Ralph Lauren könnte ähnlich wie Google gewisse Technologien und Schnittstellen in standardisierter Form allen Teilnehmern zugänglich machen. In selbstorganisierter Weise könnten Unternehmen und Gründer mit den Daten innovative Geschäftsideen umsetzen und auf dem multi-sided Market zugänglich machen, wobei die Kunden dank des kompetitiven Umfelds zu günstigen Angeboten gelangen würden.Im zweiten Fall (Klub-Strategie) stellt der Plattformbetreiber sicher, dass nur qualitativ hochstehende Angebote entwickelt und zur Verfügung gestellt werden, die den Leistungsansprüchen der Kundschaft entsprechen. Die Entwicklung und Verbreitung innovativer Angebote sind deshalb stärker zu koordinieren. Anbieter und Plattformbetreiber würden in einer mehr oder weniger geschlossenen Gruppe zusammenarbeiten. Ralph Lauren könnte zum Beispiel mit einem präferierten Hersteller von Sportschuhen gemeinsam ein System entwickeln, das den persönlichen Trainingsstil analysiert und so die Produktion individuell angepasster Schuhe ermöglicht. Die Interaktion zwischen Anbieter und Kunde könnte beispielsweise wiederum über eine App oder eine Online-Plattform ermöglicht werden.
Wie in den vier Strategieszenarien dargestellt, könnte Ralph Lauren als Betreiber eines multi-sided Markets die gewonnenen Daten auf unterschiedliche Wege nutzen, um den Sportlern den Zugang zu weiteren Dienstleistungen und Produkten zu ermöglichen. Die Dienstleistungen dürfen als „smart“ bezeichnet werden, weil durch die Sammlung und den intelligenten Einsatz von Sportdaten ein Mehrwert für Anbieter und Kunden geschaffen wird. Transaktionsgebühren oder Lizenzerlöse würden es Ralph Lauren in diesen Beispielen ermöglichen, die eigene Wertschöpfung zu erweitern. Als „First Mover“ könnte sich das Unternehmen dank dem resultierenden „Lock-in Effekt“ mit der multi-sided Smart Service Lösung einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Markteinsteigern mit vergleichbarer High-Tech Sportbekleidung schaffen.
Fazit
Wir stehen noch am Anfang, was die Sammlung, Analyse und Nutzung von Daten mit Produkten und die damit verbundenen Chancen von Smart Services anbelangt. Vermutlich beruhen deshalb viele Ideen und Innovationsbemühungen auf dem eigentlichen Produkt. Wenn die Daten jedoch auch für andere Anbieter zugänglich gemacht werden und sogar ein eigentliches Öksystem ensteht, so bieten sich viel mehr und viel weitreichendere Markt- und Innovationschancen. In diesem Fall ensteht eine Form von Multi-sided Market mit spezifischen Eigenheiten und Herausforderungen. Die Entwicklung eines solchen Marktes erfordert eine klare, strategische Vorgehensweise, die sich je nach Nutzenfokus der Marktteilnehmer unterscheidet. Im Artikel wird die Wahl einer von vier unterschiedlichen Normstrategien zum Aufbau solcher multi-sided Smart Services vorgeschlagen. Es empfiehlt sich, sich der Möglichkeiten, Eigenheiten und Herausforderungen früh im Entwicklungsprozess bewusst zu werden, damit die Dienstleistungen wirklich „smart“ sind und einen nachhaltigen Mehrwert leisten.
LITERATUR
[1] Evans, D. S., Schmalensee, R.: The Industrial Organization of Markets with Two-Sided Platforms. Competition Policy International, Vol. 3, No. 1. 2007. S. 152
[2] Evans, D. S.: “How Catalysts Ignite: The Economics of Platform-Based Start-Ups. Platforms. Markets and Innovation.” In: A. Gawer, ed., Cheltenham, UK and Northampton, MA, US: Edward Elgar. 2009, S. 2
[3] Evans, D. S.: Two-Sided Markets Definition. ABA Section of Antitrust Law, Market Definition in Antitrust: Theory and Case Studies. 11/11/2009. S. 6
[4] Eisenmann, T., Parker, G., Van Alstyne, M. W.: “Strategies for Two-Sided Markets.” In: Harvard Business Review. 2006. S. 94
[5] Evans, D. S., Schmalensee, R.: The Antitrust Analysis of Multi-Sided Platform Businesses. University of Chicago Institute for Law & Economics. Olin Research Paper, No. 623. 2012. S. 14
[6] Allmendinger, G., Lombreglia, R.: “Four Strategies for the Age of Smart Services.” In: Harvard Business Review. 2005. S. 131 – 145
David Griesbach, Robin Arnold