Mission Possible:
Ein Enzym verlässt den Naturpfad
Helena Schulz-Mirbach, Philipp Wichmann, Ari Satanowski, Max Planck Institute for Terrestrial Microbiology im Gespräch mit Milena Milivojevic, IM+io

(Titelbild: © Adobe Stock | 983231935 | tilialucida )
Kurz und Bündig
Ein Forschungsteam hat ein Enzym entwickelt, das eine Reaktion zwischen Lactyl-CoA und 3-Hydroxypropionyl-CoA katalysiert – eine Reaktion, die in natürlichen Systemen nicht vorkommt. Grundlage war ein vorhandenes Enzym, das durch gezielte Mutationen modifiziert wurde. Mithilfe von Laborevolution in lebenden Zellen konnten aktive Varianten identifiziert und optimiert werden. Ziel ist es, damit CO₂ effizienter zu fixieren oder Vorprodukte für Bioplastik herzustellen.
Erst wurden nur bekannte Bausteine neu zusammengesetzt – jetzt entstehen völlig neue Elemente für den molekularen Werkzeugkasten. Ein Forschungsteam hat ein Enzym konstruiert, das so in der Natur nicht vorkommt, aber neue Reaktionen ermöglicht. Der Weg dahin führte über Reagenzgläser, Bakterien und tausende Varianten. Wie lassen sich biologische Systeme heute bewusst entwerfen – und was kann daraus entstehen?
IM+io: Euer Projekt beschäftigt sich mit künstlich hergestellten Enzymen, die in der Natur so nicht vorkommen. Könnt ihr zum Einstieg kurz erklären, worum es dabei genau geht – und wie es überhaupt zu diesem Vorhaben gekommen ist?
HSM: Also zur Einordnung: Als der Großteil der Arbeit an dem Projekt gemacht wurde, waren wir alle noch in der Promotion und haben in Gruppen gearbeitet, die sich mit dem Thema nachhaltige Stoffwechselprozesse beschäftigen. Ein großes Ziel in dem Bereich ist es, sogenannte C1-Moleküle wie Kohlenstoffdioxid mithilfe von Mikroorganismen nutzbar zu machen – also CO₂ umzuwandeln und in biologische Prozesse zu integrieren. Dafür braucht man nicht nur Wege, um CO₂ direkt zu fixieren, sondern auch Stoffwechselprozesse, die mit den dabei entstehenden Produkten effizient umgehen können. Das war für uns der Ausgangspunkt für das Projekt.
AS: Genau. Es ging also darum, neue biochemische Lösungen zu finden, mit denen man CO₂ mikrobiell binden und verwerten kann. Was sich in den letzten Jahren gezeigt hat: Es ist möglich, sich neue Stoffwechselwege nicht nur in der Natur abzuschauen, sondern sie gezielt zu entwerfen. Das heißt, wir sind nicht mehr darauf beschränkt, was die Natur uns vorgibt, sondern können selbst Stoffwechselwege designen – quasi am Reißbrett. Und wir werden immer besser darin, das dann auch technisch umzusetzen.
IM+io: Was genau kann dieses Enzym – und warum war gerade diese Reaktion so wichtig für euch?
PW: Das Enzym, mit dem wir hier arbeiten, katalysiert eine Reaktion zwischen zwei Molekülen – Lactyl-CoA und 3-Hydroxypropionyl-CoA. Diese Verbindungen kommen so in der Natur entweder gar nicht oder nur sehr selten vor. Das heißt, wir mussten bei null anfangen. Wir haben also nach einem Enzym gesucht, das eine ähnliche Reaktion bereits beherrscht. Das ist unser Ausgangspunkt, von dem aus wir dann mit gezielten Veränderungen weiterarbeiten konnten.
HSM: Das Spannende daran ist, dass viele synthetische Stoffwechselwege heute mit einem zentralen Zwischenprodukt arbeiten: Acetyl-CoA. Das ist ein sogenanntes C2-Produkt. Wie effizient man daraus wiederum Biomasse oder andere Stoffe herstellen kann, hängt stark davon ab, wie viel Energie man investieren muss und wie viele Enzyme beteiligt sind. Bisher war es üblich, vorhandene Enzyme neu zu kombinieren – also das Prinzip: Man nimmt bekannte Bausteine und setzt sie anders zusammen. Aber jetzt sind wir an dem Punkt, wo wir diese Bausteine selbst verändern oder sogar neu erschaffen können.
AS: Ich nutze da gerne das Bild eines Lego-Baukastens: Früher hat man die vorhandenen Steine neu zusammengesetzt. Inzwischen können wir einzelne Steine auch selbst herstellen oder verändern. Noch sind wir besser darin, vorhandene Bausteine leicht zu modifizieren. Aber es geht in die Richtung, dass wir irgendwann ganze Enzyme von Grund auf neu designen können. Und das erweitert die Möglichkeiten enorm.
IM+io: Wie genau läuft dieser Design- und Entwicklungsprozess ab?
AS: Wir folgen dabei einer Strategie, die in unserem Labor sehr gut funktioniert hat: Man startet mit dem theoretischen Design – am Computer oder auf dem Papier. Dann testet man die Ideen erst einmal in vereinfachten Systemen. Also nicht direkt in komplexen Organismen wie Pflanzen oder Algen, sondern zunächst in vitro, also im Reagenzglas. Da arbeiten wir mit gereinigten Enzymen und Chemikalien. Der Vorteil ist, dass wir sehr viel mehr Kontrolle über die Reaktion haben.
PW: Wenn man dann ein funktionierendes System gefunden hat, geht man den nächsten Schritt und testet das Ganze in lebenden Zellen – meist in Bakterien wie Escherichia coli, die sich sehr gut genetisch verändern lassen. Dadurch kann man viele Varianten schnell durchprobieren. Und erst wenn auch das funktioniert, kann man den Stoffwechselweg in komplexere Systeme übertragen.
IM+io: Wie bringt ihr gezielt Veränderungen in die Enzyme ein?
PW: Enzyme bestehen aus Aminosäuren – insgesamt gibt es zwanzig verschiedene. Man kann sich das Enzym wie einen Ball vorstellen, in dessen Innerem die Katalyse stattfindet. Wenn man eine Aminosäure an einer bestimmten Stelle austauscht, kann das die Funktion beeinflussen – positiv, negativ oder gar nicht. Entscheidend ist, wo genau im Enzym man diese Veränderungen vornimmt. Wir schauen uns also verschiedene Stellen an, tauschen einzelne Aminosäuren aus und beobachten, wie sich das Enzym danach verhält.
HSM: Das Problem ist: Wir wissen bislang nur sehr eingeschränkt, welche Aminosäure an welcher Stelle für welche Funktion verantwortlich ist. Wir sind mittlerweile richtig gut darin, neue Strukturen zu entwerfen, aber viele davon sind dann im Labor nicht aktiv oder nicht stabil. Das bedeutet, wir müssen viele Varianten durchprobieren, ohne vorher genau zu wissen, welche tatsächlich funktioniert. Deshalb setzen wir auf sogenannte Hochdurchsatzverfahren – also Methoden, mit denen wir Tausende von Enzymvarianten schnell testen können.
IM+io: Ihr habt erwähnt, dass ihr auch lebende Zellen zum Screening nutzt. Wie funktioniert das genau?
HSM: Wir haben Zellen so konstruiert, dass sie nur dann überleben können, wenn das Enzym funktioniert – also genau die gewünschte Reaktion ausführt. Wenn in einer Zellpopulation eine Variante etwas besser funktioniert, wird diese Zelle bevorzugt wachsen und sich durchsetzen. Das ist ein Prinzip, das man als Laborevolution kennt. Damit konnten wir unseren Enzympool effektiv filtern und diejenigen Varianten herausfinden, die tatsächlich eine verbesserte Aktivität zeigen.
IM+io: Inwieweit nutzt ihr Künstliche Intelligenz in diesem Prozess?
HSM: In diesem konkreten Projekt nur sehr begrenzt. Das Enzym, mit dem wir gearbeitet haben, war noch nicht strukturell charakterisiert. Wir haben AlphaFold genutzt, ein KI-basiertes Programm zur Strukturvorhersage, um eine mögliche Struktur zu generieren. Aber wir konnten daraus keine direkten Schlüsse ziehen, warum bestimmte Veränderungen die Funktion beeinflussen.
AS: Trotzdem ist das schon ein massiver Fortschritt. Noch vor ein paar Jahren war so etwas überhaupt nicht möglich. Heute ist Al-phaFold ein Standardwerkzeug geworden, das uns dabei hilft, überhaupt erst ein Bild davon zu bekommen, wie ein Protein aussieht. Die Nutzung von KI im Designprozess nimmt aber gerade rasant zu. Es kommen jeden Monat neue Methoden auf, und es wird immer mehr zur Routine. Gerade für den Einstieg in neue Systeme bietet KI oft erste wertvolle Hinweise, wo es sich lohnt, genauer hinzusehen.
PW: Langfristig wird KI eine große Rolle dabei spielen, um sogenannte Hotspots in Enzymen vorherzusagen – also Stellen, die auch außerhalb des aktiven Zentrums einen Einfluss auf die Funktion haben. Aber aktuell betrachten wir die Vorschläge aus solchen Modellen noch mit Vorsicht und überprüfen sie nach Möglichkeit experimentell.

IM+io: Wie ist euer Team für so ein interdisziplinäres Projekt aufgestellt?
PW: In unserem Fall war es eine Zusammenarbeit zwischen zwei Instituten: dem Max-Planck-Institut in Marburg und dem Institut für Molekulare Pflanzenphysiologie in Potsdam. Helena und ich hatten jeweils unterschiedliche Expertisen – in vivo bei den Zellen und in vitro bei der Biochemie. Durch diese Kombination konnten wir viel effizienter arbeiten.
HSM: Die Max-Planck-Struktur hilft da ungemein, weil es viele Institute mit unterschiedlichen Schwerpunkten gibt. Das macht interdisziplinäre Zusammenarbeit einfacher. Und natürlich hat sich auch insgesamt in der Forschung vieles verändert – man ist besser vernetzt, kann online kommunizieren und internationale Teams sind längst Normalität geworden.
IM+io: Langfristig geht es ja darum, nachhaltige Biokunststoffe zu ermöglichen. Wie weit seid ihr da aktuell?
HSM: Unser Enzym funktioniert theoretisch in zwei Richtungen. Die eine Richtung könnte dazu beitragen, CO₂ effizienter zu fixieren. Die andere Richtung stellt ein Molekül her, das als Vorläufer für Bioplastik genutzt werden kann. Das Potenzial ist also da, aber das Enzym muss noch schneller werden, damit es tatsächlich in der Praxis Anwendung findet.
PW: In der Industrie werden schon heute einige biotechnologisch hergestellte Stoffe produziert. Was noch fehlt, ist die Nutzung von CO₂ als Rohstoff. Das wird sicher noch eine Weile dauern, bis es wirtschaftlich sinnvoll möglich ist. Aber die Forschung geht klar in diese Richtung.
AS: Unser Projekt zeigt vor allem auch, dass der gewählte Workflow – von der Theorie über das Reagenzglas bis in lebende Systeme – funktioniert. Wenn dieser Ansatz weiterverbreitet wird, können andere Forschungsgruppen und Unternehmen ihn übernehmen und für ihre eigenen Ziele nutzen.

IM+io: Gab es in eurer Arbeit etwas, das euch überrascht hat?
HSM: Ja, definitiv. Zum Beispiel, welche Aminosäureveränderungen am Ende wirklich zu einer Verbesserung der Enzymaktivität geführt haben. Die lagen an Stellen, an denen wir das nie erwartet hätten – also weit entfernt vom aktiven Zentrum. Das zeigt nochmal, wie wenig wir bisher über die genauen Zusammenhänge in einem Enzym wissen.
PW: Das war für uns ein Aha-Moment: Es gibt offensichtlich funktionelle Zusammenhänge, die man nicht allein durch Anschauen der Struktur erkennen kann. Solche Daten sind extrem wertvoll – auch, um KI-Modelle in Zukunft besser trainieren zu können.
IM+io: Kann es bei künstlich geschaffenen Stoffwechselwegen auch unerwartete Nebeneffekte geben?
AS: Auf jeden Fall. Je mehr Nebenprodukte ein künstlicher Stoffwechselweg erzeugt, desto schlechter funktioniert er meist. Das ist also nicht nur ein potenzielles Risiko für spätere Anwendungen, sondern auch direkt ein Problem in der Forschung. Deshalb testen wir neue Systeme zunächst in sehr kontrollierten, vereinfachten Umgebungen. Das gibt uns die Möglichkeit, Reaktionen frühzeitig zu bewerten und problematische Effekte direkt auszuschließen.
HSM: Unsere Screening-Methode hilft genau da: Nur wenn das Enzym genau die gewünschte Reaktion ausführt, wächst die Zelle. So beugen wir unerwünschten Nebenreaktionen gezielt vor.
IM+io: Eure Strategie vom theoretischen Entwurf bis zur Umsetzung in lebenden Zellen wirkt sehr strukturiert. Lässt sich dieser Workflow auch auf andere Enzyme oder Stoffwechselprozesse übertragen – oder ist er stark auf diesen Einzelfall zugeschnitten?
AS: Ganz im Gegenteil – für uns war gerade wichtig zu zeigen, dass dieser Ansatz wiederholbar funktioniert. Die Struktur, also vom Design über die Reagenzglasphase bis hin zur Validierung in lebenden Zellen, lässt sich sehr gut auch auf andere Projekte anwenden. Wir hoffen sogar, dass sich genau dieser Workflow künftig in anderen Gruppen oder auch Start-ups etabliert. Er schafft Klarheit, ist effizient – und senkt die Einstiegshürde für neue Ideen enorm.
IM+io: Ist euer Projekt zeitlich begrenzt?
PW: In diesem speziellen Fall nicht. Klar, im Forschungskontext gibt es oft Projektlaufzeiten oder befristete Verträge, aber hier war das Projekt Teil unserer jeweiligen Promotionsarbeiten. Und da gibt es natürlich individuelle Zeitrahmen, meistens zwischen drei und viereinhalb Jahren.
AS: Man kann das Projekt aber auch als Teil einer größeren, fortlaufenden Initiative sehen. Die Erkenntnisse daraus fließen in andere Projekte ein und helfen dabei, neue Ansätze zu entwickeln. Insofern: Ja, es gibt zeitliche Rahmen – aber der übergeordnete Forschungsansatz ist eher langfristig gedacht.
IM+io: Wo soll die weitere Reise hingehen – persönlich wie fachlich?
HSM: Ich arbeite aktuell verstärkt an der direkten CO₂-Assimilation und wünsche mir, dass wir es schaffen, synthetischen Stoffwechsel und CO₂-Fixierung noch enger zu verzahnen. Mein Ziel ist es, neue Wege zu finden, wie wir synthetischen Stoffwechsel schneller implementieren können.
PW: Ich hoffe, dass wir das Enzym weiter verbessern können – so sehr, dass es tatsächlich in der Praxis anwendbar wird. Vielleicht sogar so weit, dass Organismen daraus Biomasse auf CO₂-Basis herstellen können – ähnlich wie Pflanzen, nur schneller und effizienter.
AS: Ich sehe mich auch langfristig in der Forschung. Mich interessiert besonders, wie man interdisziplinäre Teams aufbaut und damit echte Innovation vorantreibt. Perspektivisch kann ich mir auch gut vorstellen, den Sprung in die Anwendung zu wagen – also an einer Ausgründung mitzuarbeiten und wissenschaftliche Ideen in die reale Welt zu bringen.