„Lebenslanges Lernen muss zur Leitidee unserer Arbeitsgesellschaft werden“
Im Gespräch mit Dieter Spath, Präsident acatech
Kurz und bündig
Aus demografischen Gründen werden in Deutschland auf lange Sicht zehn Millionen Beschäftigte fehlen. Die Digitalisierung kann helfen, dieses Delta zu schließen. Viele der verwaltenden Tätigkeiten, die heute in jedem Beruf dazugehören, können in Zukunft von intelligenten Maschinen übernommen werden. Menschen werden so selbstbestimmter, flexibler, kreativer und zwischenmenschlicher arbeiten. Voraussetzung dafür ist eine gezielte Weiterbildungsstrategie.
„In Deutschland werden in naher Zukunft aus demografischen Gründen zehn Millionen Beschäftigte fehlen. Die Digitalisierung wird helfen müssen, die Lücke zu füllen“, so Prof. Dr. Dieter Spath bei einer Veranstaltung der Deutschen Handelskammer in Wien zum Thema Digitalisierung in der Arbeitswelt. Von ihm als Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften und Leiter des Instituts für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement der Universität Stuttgart wollte IM+io mehr darüber erfahren, welche Voraussetzungen erfüllt werden müssen, um eben diese Lücke zu füllen und auch, wie sich die Arbeitswelt der Zukunft durch disruptive Geschäftsmodelle verändern wird.
IM+io: Herr Prof. Spath, einerseits sucht man in Deutschland angesichts des Fachkräftemangels das Heil in der Digitalisierung, andererseits haben viele Beschäftigte große Ängste vor den Auswirkungen der Digitalisierung auf ihren Arbeitsplatz. Wie lässt sich diese Schere zwischen Hoffnung und Angst wieder schließen?
DS: Auf den Punkt gebracht: Indem wir die Zukunft der Arbeit gemeinsam in die Hand nehmen – mit den Beschäftigten. Wir müssen die Beschäftigten dabei unterstützen, sich weiterzubilden und neue Arbeitsformen zu erproben. Insgesamt überwiegen – davon bin ich fest überzeugt – die positiven Entwicklungsmöglichkeiten für uns als innovatives, erfolgreiches Land und zugleich für unsere individuelle berufliche Perspektive. Es ist zwar richtig, dass viele Tätigkeiten künftig von intelligenten, lernenden Assistenzsystemen, Robotern und Maschinen übernommen werden. Zum einen wird uns das aber ein produktiveres Arbeiten ermöglichen – was mit Blick auf die demografische Entwicklung ziemlich wichtig ist. Und zum anderen entstehen dadurch qualifiziertere und besser bezahlte Jobs: Beschäftigte orchestrieren mit Hilfe dieser Helfer immer komplexere Prozesse. Wenn wir es dann noch schaffen, margenstarke Produkte und innovative Geschäftsmodelle für die Plattformökonomie zu entwickeln, werden die nächsten Jahre eher von einem Arbeitskräftemangel denn von Arbeitslosigkeit gekennzeichnet sein.
IM+io: Wenn Menschen gemeinsam mit Robotern in der Produktion arbeiten, ist es im besten Sinne des Wortes offensichtlich, wie sich die Arbeitswelt verändert. Wie aber verändert sich die Arbeit im Dienstleistungssektor, wo B2C-Plattformunternehmen zunehmend das Geschäftsleben bestimmen aber auch ursprünglich rein produzierende Unternehmen Smart Services auf Plattformen anbieten?
DS: Ganz allgemein gilt, dass natürlich auch im Dienstleistungssektor Aufgaben durch die Automatisierung verändert werden. Viele Tätigkeiten, die wir in Deutschland unter dem Wort „Sacharbeit“ fassen, können künftig durch digitale Helfer übernommen werden. Wo heute Formulare noch häufig per Hand ausgefüllt, digitalisiert, wieder ausgedruckt und weiterbearbeitet werden, übernehmen künftig intelligente vernetzte Systeme viele dieser Arbeitsschritte. Im Bereich der Pflege wird so vieles einfacher: Zum Beispiel, wenn die Dokumentation von Arbeitsschritten über eine mündliche Überlieferung des Pflegenden an eine intelligente Spracherkennungssoftware erfolgt. Zusätzlich können Roboter körperlich anspruchsvolle Aufgaben erleichtern. In der Summe bleibt so mehr Raum für das, worum es in der Pflege wirklich geht: Menschliche Zuwendung und ein möglichst selbstbestimmtes Leben im Alter.
Im Projekt „Smart Service Welt“ hat sich acatech zudem genauer mit den von Ihnen angesprochenen Plattformen beschäftigt und gezeigt, welche enormen Mehrwerte diese aus den Daten ihrer Nutzer ziehen. Künstliche Intelligenz hebt die Auswertung dieser Daten sogar auf ein noch höheres Niveau. KI und Plattformökonomie verstärken sich gewissermaßen gegenseitig – mitunter deshalb investieren die großen IT-Konzerne so massiv in KI. Am Beispiel Facebook wird deutlich, dass sich das lohnt: Die Plattform ist schließlich nicht nur so erfolgreich, weil sie Menschen miteinander verbindet, sondern weil sie unser Nutzerverhalten – auch mit Hilfe von KI – analysiert und daher weiß, wofür wir uns interessieren. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen in der Plattformökonomie, also im Umgang mit Daten, geschult sein. Im Zentrum der Fort- und Weiterbildungen in diesem Bereich sollten neben IT-Kompetenzen deswegen auch die Datenauswertung und -analyse oder das bereichsübergreifende Prozess-Know-how und -management stehen. Mit diesen Kompetenzen lassen sich neue und funktionierende Geschäftsmodelle entwickeln.
IM+io: Noch sind viele Arbeitsplätze von der neuen, KI-getriebenen Welle der Digitalisierung nicht betroffen, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Was muss sich verändern, damit unsere Arbeitsgesellschaft tatsächlich fit für die digitale Welt ist?
DS: Menschen sind das Wertvollste, das wir in der Arbeits- und Wirtschaftswelt haben. Das wird auch so bleiben. Tätigkeiten wie Abgleichen, Auswerten, Datenübertragen und vieles mehr können automatisiert oder von selbstlernenden Systemen übernommen werden. Doch in die Zusammenhänge und Abhängigkeiten von Systemen und Prozessen wird weiterhin nur der Mensch durchdringen. Deshalb sind Überblicks- und Kontextwissen stärker denn je gefragt. Der Beschäftigte der Zukunft wird also viel mehr als früher in die Rolle des Managers schlüpfen – und das hat wiederum Auswirkungen auf die Funktion der Führungskraft: Sie muss in stärkerem Maße Orientierung geben, Netzwerke bilden, Kreativität fördern und Prozesse gemeinsam mit Mitarbeitenden gestalten.
Letztlich wird die Digitalisierung das Menschliche in den Arbeitswelten stärken, während die eher mechanischen Tätigkeiten, die es in jedem Beruf gibt, abnehmen. Aber wir müssen die Menschen in die Lage versetzen, den digitalen Wandel selbst zu gestalten – und dafür ist Weiterbildung der Schlüssel. Lebenslanges Lernen muss zur Leitidee unserer Arbeitsgesellschaft werden.
In einem Diskussionspapier haben der von acatech koordinierte HR-Kreis und die Hans-Böckler-Stiftung kürzlich Empfehlungen abgegeben, wie wir diese Idee in Deutschland – im Zusammenspiel von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Arbeitnehmerorganisationen und den Berufstätigen – vorantreiben können. So sollten Unternehmen dem Thema beispielsweise eine größere Wertschätzung entgegenbringen. Qualifizierung, die Gestaltung lernförderlicher Arbeitsbedingungen und die Einrichtung von Experimentierzonen sind für mich Kernbausteine jeder langfristigen Unternehmensstrategie. Die Politik sollte über ein Weiterbildungs-Bafög oder die steuerliche Förderung von Weiterbildungsmaßnahmen nachdenken, um nur einige wenige Empfehlungen herauszugreifen. Wenn wir das Thema Weiterbildung ernst nehmen, werden wir nicht mehr oder weniger, sondern produktiver und besser arbeiten.