Kultiviert statt geschlachtet:
Fleischproduktion jenseits der Weide
Malte Tiburcy, MyriaMeat im Gespräch mit Milena Milivojevic, IM+io

(Titelbild: Adobe Stock | 1139661471 | Diana )
Kurz und Bündig
Ein zehnköpfiges Team entwickelt in Göttingen kultiviertes Fleisch aus pluripotenten Stammzellen – mit echtem Muskelwachstum und Reifung unter mechanischer Belastung. Aktuell im Labor-
maßstab (20–100 g), perspektivisch auch in Kilogrammeinheiten. Die Vorteile: keine Tierhaltung, keine Antibiotika, kontrollierte Herstellung.
Ein Muskel wächst nicht einfach so – er braucht Spannung, Reize, Zeit. Genau das passiert auch hier: nur eben nicht im Tier, sondern im Labor. Zwischen zwei Fixpunkten wächst Gewebe heran, das sich am Ende kaum von klassischem Fleisch unterscheiden lässt. Aber kann so etwas wirklich als echte Alternative gelten – für Konsumierende, für die Landwirtschaft, für das Klima?
IM+io: Was macht MyriaMeat und was ist die Entstehungsgeschichte des Unternehmens?
MT: Unser Unternehmen wurde 2022 gegründet, ursprünglich in München – operativ tätig sind wir aber in Göttingen, denn dort entstand auch die Technologie, auf der alles basiert. Die wissenschaftliche Grundlage kommt vor allem aus der Universitätsmedizin Göttingen. Die Idee, ein Unternehmen zu gründen, kam von Florian Hüttner, der dann auf uns Forschende zugegangen ist. Wir haben uns schon lange mit Tissue Engineering im Bereich der Muskelentwicklung beschäftigt – bisher allerdings eher auf medizinischer Ebene. Als wir dann neue Technologien entwickelt haben, die auch für die Lebensmittelproduktion geeignet schienen, haben wir gemeinsam beschlossen, daraus ein Unternehmen zu formen. Mittlerweile sind wir ein zehnköpfiges Team – größtenteils Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem universitären Umfeld, die schon mit den Prozessen vertraut sind und mit uns die Übertragung auf Nutztierspezies, also Tiere aus der Landwirtschaft, umsetzen. Gerade dieser Brückenschlag zwischen medizinischer Expertise und lebensmitteltechnologischer Anwendung ist einer unserer größten Vorteile. Die Gründung war für uns nicht nur ein logischer Schritt – sie war auch ein Sprung ins kalte Wasser, der sich bis heute als sehr spannend erweist.
IM+io: Und worin liegt Ihr technologischer Ansatz beim kultivierten Fleisch?
MT: Unser Ziel ist es, Fleisch so herzustellen, wie es im Tier wächst. Denn das, was wir letztlich essen, ist ja Muskel – genau den wollen wir möglichst naturgetreu nachbilden. Der Kern unseres Ansatzes ist das Tissue Engineering von echtem Muskelgewebe. Das unterscheidet uns von Herstellenden, die Fleischersatz auf pflanzlicher Basis produzieren. Wir stellen ein echtes Muskelgewebe her – mit denselben Bestandteilen wie natürlich gewachsenes Fleisch. Es handelt sich also nicht um ein Ersatzprodukt, sondern um echtes Fleisch – nur eben nicht aus dem Tier, sondern aus dem Labor.
IM+io: Wie läuft dieser Herstellungsprozess konkret ab, von der Zelle bis hin zum fertigen Muskelstück?
MT: Am Anfang stehen immer Zellen – genauer gesagt pluripotente Stammzellen. Diese Zellen haben den Vorteil, dass sie sich unbegrenzt vermehren lassen, ohne dass man genetische Veränderungen vornehmen muss. Das ist uns wichtig: Wir möchten so wenig Eingriffe wie möglich. Diese Zellen können sich in Muskelzellen weiterentwickeln und genau das tun sie bei uns im Labor – beziehungsweise langfristig auch im industriellen Maßstab. Die Muskelzellen werden dann weiterkultiviert und durchlaufen einen Reifungsprozess.
IM+io: Wie bilden Sie dabei die Bedingungen für echtes Muskelwachstum nach?
MT: Ein Muskel wächst im Tier unter mechanischer Belastung – er ist zum Beispiel zwischen zwei Knochen aufgespannt und wird durch Bewegung trainiert. Solche Belastungen versuchen wir künstlich nachzustellen. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen: Wir spannen das Gewebe zwischen zwei Fixpunkten auf, so dass der Muskel gegen einen Widerstand arbeiten muss. Das ist entscheidend für die Reifung des Gewebes.
IM+io: Wie lange dauert es, bis ein solcher Muskel geerntet werden kann?
MT: Der Prozess dauert länger als bei einfachen Zellkulturen, die nur als Zutat in anderen Produkten verwendet werden. Die Reifung eines Muskels dauert typischerweise drei bis vier Wochen. In dieser Zeit findet nicht nur eine Differenzierung, sondern auch ein echtes Wachstum statt. Das bedeutet, die Muskelmasse wächst tatsächlich weiter – sowohl in Volumen als auch im Proteingehalt.
IM+io: Wie groß sind diese Muskelstücke aktuell?
MT: Im Moment bewegen wir uns noch im Labormaßstab. Unsere Muskeleinheiten liegen aktuell zwischen 20 und 100 Gramm. Aber wir arbeiten daran, die Skalierung weiter voranzutreiben – perspektivisch möchten wir Einheiten bis zu einem Kilogramm herstellen. Der Weg dorthin führt über Parallelisierung: Viele kleine Einheiten, die gleichzeitig reifen, anstatt einen einzigen riesigen Muskel zu produzieren.
IM+io: Was unterscheidet Ihr kultiviertes Fleisch konkret vom tierischen Pendant?
MT: Unser Anspruch ist es, dass sich das Endprodukt in seiner Zusammensetzung nicht vom natürlichen Fleisch unterscheidet. Wir sprechen hier von Proteinen wie Myoglobin, Eisen oder Vitamin B12 – Stoffe, die typischerweise im Fleisch vorkommen und auch eine ernährungsphysiologische Rolle spielen. All das entsteht bei uns im Prozess – nicht durch Zusätze, sondern durch echtes Wachstum des Muskels. Zudem ist der Herstellungsprozess kontrollierter: Ohne Tierhaltung gibt es keine Tierseuchen, keine Antibiotika, keine Hormone – das ist ein echter Vorteil.
IM+io: Gibt es Grenzen? Lassen sich bestimmte Fleischsorten vielleicht gar nicht kultivieren?
MT: Bisher konnten wir zeigen, dass sich unser Ansatz gut auf verschiedene Spezies übertragen lässt. Am weitesten sind wir aktuell beim Schwein, aber auch mit Rind und Reh haben wir schon gearbeitet. Da wir auf pluripotente Stammzellen setzen, ist die Bandbreite groß. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den Arten – aber grundsätzlich lässt sich der Prozess gut anpassen.
IM+io: Welche Vorteile bietet Ihr Verfahren aus ökologischer Perspektive?
MT: Durch die kontrollierte Produktion fallen viele Umweltrisiken der klassischen Fleischindustrie weg. Wir haben keine Massentierhaltung, keine Gülle, keine Methanemissionen in dem Ausmaß. Natürlich verbraucht auch unser Prozess Energie – aber diese lässt sich zukünftig über erneuerbare Quellen decken. Wichtig ist dabei, dass kultiviertes Fleisch nicht isoliert betrachtet werden darf. Es ist Teil einer Transformation, die insgesamt nachhaltiger gedacht werden muss.
IM+io: Ein Kritikpunkt ist häufig der Preis. Wie realistisch ist es, dass kultiviertes Fleisch bald bezahlbar wird?
MT: Das ist ganz klar noch eine Herausforderung. Aktuell stehen wir eher am Anfang – für uns steht die Produktqualität an erster Stelle. Aber was die Preisentwicklung angeht, ist viel in Bewegung. Gerade bei Zellkulturmedien, Nährlösungen und Wachstumsfaktoren passiert viel. Andere Unternehmen leisten hier wertvolle Vorarbeit, von der wir auch profitieren. Unsere Kosten werden sinken – wir gehen davon aus, dass wir mittelfristig einen Preis erreichen, der konkurrenzfähig ist.
IM+io: Arbeiten Sie bei diesen Entwicklungen auch mit anderen Unternehmen oder Forschungseinrichtungen zusammen?
MT: Ja, Kooperation ist für uns äußerst wichtig. Wir stehen im Austausch mit mehreren Firmen, die im Bereich Medienentwicklung und Wachstumsfaktoren aktiv sind – zum Beispiel Nutreco oder Wacker Chemie. Auch kleinere spezialisierte Firmen spielen eine große Rolle. Wir lernen viel voneinander und entwickeln gemeinsam neue Ansätze, die allen Beteiligten nützen.
IM+io: Wie steht es mit dem Einsatz digitaler Technologien wie KI?
MT: Aktuell nutzen wir KI noch nicht aktiv, aber sie spielt eine große Rolle auf unserer Roadmap. Besonders beim Thema Skalierung wird das spannend. Wir möchten sogenannte In-Prozess-Kontrollen automatisieren – zum Beispiel über Bildanalysen, mit denen wir die Differenzierung von Zellen überwachen. Solche Prozesse lassen sich sehr gut durch KI auswerten und steuern. Dafür sprechen wir auch bereits mit akademischen Teams.
IM+io: Wo sehen Sie aktuell die größten Hürden?
MT: Skalierung ist definitiv eine der größten Herausforderungen. Außerdem natürlich die Akzeptanz in der Öffentlichkeit. Viele Menschen sind interessiert, aber es gibt auch Unsicherheiten. Deshalb ist Kommunikation so wichtig. Wir möchten zeigen: Unser Produkt ist sicher, es ist echt, und es bietet Vorteile – sowohl für Fleischkonsumierende als auch für Vegetarier, die aus ethischen Gründen auf Fleisch verzichten.
IM+io: Welche Rolle spielt für Sie die Landwirtschaft im Kontext kultivierten Fleisches?
MT: Wir verstehen uns nicht als Konkurrenz zur Landwirtschaft, sondern als Ergänzung. Unser Ziel ist es, mit kultiviertem Fleisch Impulse für mehr Nachhaltigkeit zu setzen – im Dialog, nicht im Widerspruch zur bestehenden Tierhaltung.
IM+io: Wie sehen Sie die langfristige Vision für Ihr Unternehmen – und persönlich?
MT: Unsere Vision ist es, ein Produkt zu schaffen, das die klassische Fleischproduktion ergänzen und langfristig auch teilweise ersetzen kann. Nicht als Angriff auf die Landwirtschaft – sondern als alternative Quelle für echtes Fleisch. Ich persönlich wünsche mir, dass wir als Unternehmen einen Beitrag leisten zur Transformation der Lebensmittelindustrie. Wenn wir es schaffen, mit unserer Technologie einen Impuls zu setzen, der Tierleid reduziert und den Ressourcenverbrauch senkt – dann war es das wert.