Dabei handelt es sich um weit mehr als etwa das im Kundendienst übliche Auslesen digitaler Wartungsdaten. Es geht um technische Systeme, die bewusst in Produkte oder Dienstleistungen implementiert werden; es geht um die IT-Durchdringung und Vernetzung von Produkten, Fertigungsressourcen und Prozessen. Unternehmen können so der wachsenden Nachfrage nach individualisierten Produkten und Dienstleistungen, bei gleichzeitig hohen Ansprüchen an Effizienz und Flexibilität der Geschäftsmodelle, gerecht werden. Noch scheitern aber Konzepte zur digitalen Transformation der Wirtschaft und auch die technologischen Möglichkeiten des Big Data Management werden in vielen Wirtschaftszweigen nur zögerlich aufgegriffen und genutzt. Der Handel ist mit seinen Online-Plattformen mit Sicherheit ein Vorreiter, Industrien wie Automobil- und Maschinenbau, Chemie, Elektro- und Medizintechnik, Logistik und Energietechnologie ziehen unterdessen schrittwiese nach und öffnen sich für digitale Geschäftsmodelle. Eben jene Geschäftsmodelle standen im Mittelpunkt der diesjährigen Tagung Wirtschaftsinformatik (WI 2015). Dort diskutierten Wissenschaftler und Unternehmer gemeinsam über die neuen Chancen und Herausforderungen und tauschten Erkenntnisse und Erfahrungen aus. Gute Gründe, mit einem der geistigen Väter der diesjährigen Konferenz, Prof. Dr. Oliver Thomas, über das Konferenzthema „Smart Enterprise Engineering“ zu sprechen.
IM+io: Prof. Thomas, bei acatech – der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften, geht man davon aus, dass deutsche Unternehmen von der disruptiven Kraft der Smart Services nur dann wirklich profitieren werden und sich mit an die Spitze der Bewegung setzen können, wenn Geschäftsmodelle konsequent digitalisiert, um intelligente Dienstleistungen erweitert und miteinander vernetzt werden. Genau diese Herausforderungen bildeten einen Schwerpunkt der WI-Tagung „Smart Enterprise Engineering“, die im März 2015 in Osnabrück stattfand. Welche neuen Erkenntnisse und Ziele haben die dort anwesenden Vertreter aus Wissenschaft und Wirtschaft diskutiert und warum war es Ihnen so wichtig, möglichst viele Vertreter aus der Praxis zu mobilisieren?
OT: Es war in der Tat unser erklärtes Ziel, bei der Tagung Wissenschaftler und Praktiker in einer gemeinsamen Veranstaltung mit unterschiedlichen und damit interessenspezifischen
Je intelligenter IT wird, desto intelligenter muss der Umgang mit IT werden.
Angeboten zusammentreffen und diskutieren zu lassen. Nur so kann aus meiner Sicht die Angewandte Wissenschaft einen sinnvollen Beitrag für die Wirtschaft leisten. Daher haben wir der Tagung eine thematische Ausrichtung gegeben, die auch die regionalen, eher mittelständisch aufgestellten Unternehmer verstehen. Gerade ihnen wollten wir vermitteln, dass, je intelligenter IT wird, auch der Umgang mit der IT umso intelligenter werden muss. IT muss als Vorstandsthema verstanden sein, wenn man die rasanten Entwicklungen der digitalen Transformation wirklich nutzen und sich zukunftssicher aufstellen will. Vor diesem Hintergrund haben wir das sehr praxisbezogene Tagungsthema „Smart Enterprise Engineering“ gewählt. Wenn sich Geschäftsmodelle durch die digitale Transformation verändern, verändern sich auch Unternehmensstrukturen. Die Vorträge und Diskussionen auf der WI 2015 haben gezeigt, dass Unternehmen sich der Digitalisierung nicht mehr entziehen können – egal, wie groß oder wie klein diese sind. Wichtig bleibt dabei jedoch eine klare Ausrichtung nach Branchen, denn die Industrien sind sehr unterschiedlich.
IM+io: Der typisch deutsche Mittelstand läuft immer wieder Gefahr, bei disruptiven technologischen Entwicklungen abgehängt zu werden. Sie haben anlässlich der WI 2015 gerade dem Mittelstand eine Vielzahl von Vorträgen und Diskussionsrunden gewidmet. Nehmen wir unseren Mittelstand mit in die digitale Welt?
OT: Wenn man es richtig angeht, dann liegen gerade im Mittelstand die großen Chancen. Warum soll sich nicht auch ein klassischer produzierender Mittelständler zum innovativen plattformneutralen Anbieter von Smart Services wandeln können? Wir sollten den Mut haben, so weit zu denken. Und es gibt Beispiele dafür, dass es wirklich funktionieren kann. So arbeiten wir etwa an meinem Lehrstuhl intensiv mit AMAZONE zusammen, einem Hersteller von Land- und Kommunalmaschinen. Die von diesem Mittelständler produzierten Maschinen sind komplex und aufwändig zu warten. Im Projekt Classroom setzen wir zusammen mit AMAZONE daher auf innovative, tragbare Technologien, sog. „Wearable Devices“. Unser erklärtes Ziel ist es, den Servicetechniker zukünftig über Datenbrillen wie Google Glass adäquat mit Informationen am „Point of Service“ zu unterstützen. Das funktioniert aber nur mit einer intelligenten Verknüpfung in die Backend-Prozesse und mit integrierten Diensten, die auf einer offenen Plattform verknüpft werden. Diese können dann wiederum über die Plattform als branchenneutrale Services vertrieben werden, auf die Unternehmen anderer Branchen ebenso zugreifen können. Auf diese Weise entsteht ein ganz neues Geschäftsmodell. Mit diesem Beispiel bin ich auch bei meinem eigenen Grundverständnis von Smart Services: Man hat klassische Produkte, macht diese intelligenter, verbindet sie mit Sensorik, verknüpft sie mit IT, aber auch mit klassischen Services, die der Mensch ausführt. Erst in der Kombination all dieser Aspekte entsteht dann ein neues Geschäftsmodell für Smart Services.
Damit dies funktioniert, muss auch in den Chefetagen des Mittelstands ankommen, dass sich die Rolle der Informationstechnologie in den letzten Jahren stark gewandelt hat. Es existieren kaum mehr Geschäftsprozesse, die nicht computergestützt ablaufen. Die IT ist nicht nur für die Informationsversorgung in und zwischen Unternehmen zuständig und ein „Enabler“ von Geschäftsprozessen, sie ist heute in vielen Fällen zentraler Bestandteil innovativer Geschäftsmodelle. Wenn die Mittelständler dies erkennen, können sie durch die Digitalisierung von Produkten und Prozessen einen erfolgreichen Wandel vollziehen – von einem regionalen Produzenten oder Dienstleister hin zu einem globalen Lösungsanbieter.
Dieser Zusammenhang wird aber nur verstanden, wenn „mittelständisch“ gesprochen und interdisziplinär zusammengearbeitet wird.
Unser erklärtes Ziel ist es, den Servicetechniker zukünftig über Datenbrillen wie Google Glass adäquat mit Informationen am „Point of Service“ zu unterstützen.
Mein Appell richtet sich dabei ganz gezielt auch an die Wissenschaftsdisziplinen BWL, Wirtschaftsinformatik, Informatik und Ingenieurswesen. Die Protagonisten müssen ihre sprichwörtliche Arroganz ablegen und mehr über den Tellerrand schauen. Alle müssen an einen Tisch, bei Industrie 4.0 und Smart Services ist kein Platz Einzeldisziplinen. Nur dann wächst auch im deutschen Mittelstand ein Bewusstsein für den modernen Umgang mit IT heran.
IM+io: Welche Rolle wird das Thema „Mobility“ in smarten Unternehmen spielen?
OT: Noch vor wenigen Jahren war in der Tat an die heute allgegenwärtige Präsenz mobiler Technologien nicht zu denken. Das Zusammenwachsen von Internet- und Unternehmensanwendungen sowie der verbesserte Zugang zu Breitbandtechnologien werden mobile Anwendungen sowohl in Unternehmen als auch in privaten Haushalten zukünftig stärker in den Arbeits- und Lebensmittelpunkt rücken. Bei dieser Entwicklung ist jedoch gerade im „Smart Enterprise“ darauf zu achten, dass mit der Nutzung mobiler Systeme nicht die technische Applikation als solche überbetont wird. Wir müssen vielmehr kritisch prüfen, ob die mobilen Anwendungssysteme effektiv und effizient zur Aufgabenerfüllung der Menschen in Unternehmen eingesetzt werden. Meine Forschungsarbeiten verknüpfen daher bewusst den Einsatz mobiler Anwendungssysteme mit der Verbesserung der Arbeitsorganisation in Industrie- und Handelsunternehmen. Eine große Rolle spielt hier beispielsweise die Nutzung mobiler Endgeräte zur Effizienzsteigerung für Dienstleistungsprozesse im Außendienst und im technischen Kundendienst (TKD). Gerade für Unternehmen des industriellen Sektors, die ihre Maschinen und Anlagen heutzutage als Leistungsbündel zusammen mit Instandhaltung und Wartung in Form neuer Betreiber- und Leasing-Modelle anbieten und sich immer mehr zu „produzierenden Dienstleistern“ entwickeln, wird die effiziente technologische Unterstützung ihres technischen Kundendienstes zum kritischen Erfolgsfaktor. Mobile Anwendungssysteme versorgen den TKD mit dem richtigen „Informations-Mix“ – die zu Instandhaltung und Wartung benötigten Informationen werden ortsunabhängig und aktuell bereitgestellt.
Dieses Argument zur verbesserten Informationsversorgung durch mobile Endgeräte gilt
In den Chefetagen des Mittelstands muss ankommen, dass sich die Rolle der Informationstechnologie stark gewandelt hat.
jedoch nicht nur im Maschinen- und Anlagenbau oder in der technischen Gebrauchsgüterbranche, sondern für alle Anwendungsbereiche, die hohe Anforderungen an die zeitliche Flexibilität der Beschäftigten stellen und weitgehend mit Außendiensttätigkeit verbunden sind. Ich übertrage meine Erkenntnisse zur Gestaltung mobiler Informationssysteme daher auch in Bereiche wie die medizinische Versorgung und andere Gesundheitsdienstleistungen.
Die Digitalisierung leistet einen wertvollen Beitrag für die Bedeutung von Start-ups für die Wirtschaft.
IM+io: Sie haben IT Start-ups einen eigenen Konferenzschwerpunkt eingeräumt. Welche besondere Rolle spielen Start-ups bei der Digitalisierung von Geschäftsmodellen?
OT: Start-ups sind grundsätzlich durch Kreativität und Dynamik gekennzeichnet. Charakteristisch für Start-ups sind darüber hinaus ihr hoher Innovationsgrad und neuartige Geschäftsideen. Sie wurden gerade erst gegründet, haben sich durch den Einsatz neuartiger Technologien und die Nutzung innovativer Geschäftsmodelle gerade am Markt etabliert oder befinden sich auf dem Weg dorthin.
Die Digitalisierung leistet einen wertvollen Beitrag für die Bedeutung von Start-ups für Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Gesellschaft. Hier ergeben sich ganz neue Tätigkeitsfelder und Geschäftsmodelle, die etablierte Unternehmen nur sehr zögerlich angehen würden und werden. Gekennzeichnet durch Mut, neue Ideen und ein überdurchschnittliches Potenzial zu wachsen, stellen Start-ups einen wichtigen Wirtschaftsakteur dar.
Die Verwendung innovativer Technologien und die Etablierung zeitgemäßer Geschäftsmodelle zeichnen inzwischen auch den Gründerstandort Deutschland aus, in welchem Produkte und Dienstleistungen neue Wertschöpfungspotenziale für die Bereiche Anything-as-a-Service, E-Commerce oder Mobile und Web Applications bieten und die Stärkung unseres Wirtschaftsstandorts ermöglichen. In Kombination mit den klassischen Industriestärken können so mit modernen Informations- und Kommunikationstechnologien Synergieeffekte erzeugt werden. Auch und gerade der etablierte Mittelstand kann von der engen Zusammenarbeit mit solchen jungen Unternehmen profitieren.
Im Rahmen der WI 2015 war es uns daher ein besonderes Anliegen, innovative Unternehmenskonzepte des Unternehmenstypus „Start-up“ in einem eigenen Slot zu platzieren. Dieses für die Wirtschaftsinformatik-Tagung neuartige Format hat im Besonderen Wirtschaft und Wissenschaft zusammengebracht und wurde dem Tagungsmotto „Smart Enterprise Engineering“ gerecht.
IM+io: Zum Abschluss: Was ist Ihr ganz persönliches Fazit zu unseren Chancen im internationalen Wettbewerb?
OT: Bei der Digitalisierung spielen, wie bei klassischen Geschäftsmodellen auch, Branchenspezifika eine große Rolle. Während ein Maschinen- und Anlagenbauer durch die Unterstützung seiner Servicetechniker mit mobilen Endgeräten die Servicequalität und -effizienz seiner Techniker steigern kann oder ein Hersteller von Nahrungs- und Genussmitteln eine eigene internetbasierte Vertriebsplattform aufbauen kann, fühlen sich Unternehmen anderer Branchen eventuell durch die Digitalisierung bedroht, weil sich Konkurrenten in deren „home turf “ breit machen. Apple baut selbstfahrende Autos, Google kauft einen Spezialisten für vernetzte Haustechnik und Facebook plant Bank-Services mit Überweisungen in Europa. Vieles, was heute den Boom in der IT-Branche ausmacht, wurde in Deutschland erfunden, aber in den USA oder Asien kommerziell erfolgreich umgesetzt und hat die genannten IT-Giganten entstehen lassen. Und nun schlägt die IT-Branche im sprichwörtlichen Sinne zurück und rückt in für Deutschland etablierte Branchen vor.
In den deutschen Unternehmen muss ein reziproker Wandel digitaler Geschäftsmodelle stattfinden. Wir geben zwar mit Industrie 4.0 und Smart Services aktuell in Deutschland die richtigen Antworten auf die Frage nach den Chancen und Risiken der Digitalisierung. Aber wir müssen den Spieß umdrehen! Wir müssen auf den auch ggf. im Ausland produzierten Soft- und Hardwarekomponenten aufsetzen, aber diese intelligent mit industriellen Anwendungen und industrienahen Dienstleistungen verknüpfen. Auf diese Weise kann sich der deutsche Mittelstand zum Anbieter von Smart Services entwickeln.
WI 2015: TOP-EVENT DER WIRTSCHAFTSINFORMATIK- COMMUNITY
Die Internationale Tagung Wirtschaftsinformatik (WI) ist seit mehr als zwei Jahrzehnten ein etablierter Treffpunkt der deutschsprachigen Wirtschaftsinformatik-Community. Unter dem Motto „Wirtschaft trifft Wissenschaft“ fand die WI 2015 als 12. Auflage dieses Formats vom 4. bis 6. März 2015 in Osnabrück statt. Das Event mit führenden Köpfen und Vordenkern aus Forschung und Praxis besuchten rund 1.000 Gäste aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein. Die WI 2015 hatte sich dem Austausch über Innovationen verschrieben und ging dabei auch in der Veranstaltungsorganisation neue Wege, nämlich als erste komplett papierlose Tagung in Deutschland. Tagungsleiter waren die Osnabrücker Professoren Oliver Thomas und Frank Teuteberg.
In der Eröffnungs-Keynote wies Prof. Dr. August-Wilhelm Scheer (Scheer Group) die Richtung für junge Unternehmer:
„Folge dem weißen Kaninchen … in das IT-Unternehmerwunderland“. Der Weg dahin führt nicht ohne Stolpersteine über globale Investitionsstrategien; Kontinuität verleiht die Loyalität der Mitarbeiter mit dem Profil unternehmerischer Persönlichkeiten. Kernpunkte für den erfolgreichen Umgang mit der digitalen Transformation erörterte in seiner Keynote die Unternehmerpersönlichkeit Klaus Hellmann (Hellmann Worldwide Logistics). Sein Credo nicht nur für die „Neue digitale Arbeitswelten in der Logistik“ lautete, die Integration digitaler Werkzeuge stehe noch bevor, dazu müssten jedoch Hierarchien ebenso wie Schnittstellen beseitigt werden. „Das Team wird interoperabel.“ Prof. Dieter Kempf als BITKOM-Präsident wies mit Blick auf „Die dritte Welle digitaler Disruption“ nachdrücklich darauf hin, innovative Dienste nach Deutschland zu holen und im Land zu entwickeln, doch zugleich sei dafür der Fachkräftemangel zu beseitigen.
Oliver Thomas