Fein gesponnen:
Was Hightech-Garne von der Natur lernen
Isabel Rosenberger, AMSilk im Gespräch mit Milena Milivojevic, IM+io

(Titelbild: © Adobe Stock | 1019179533 | Elena Bilusiak )
Kurz und Bündig
Ein biotechnologisches Unternehmen entwickelt synthetisch erzeugte Fasern auf Basis von Spinnenseidenproteinen. Das Protein wird mithilfe gentechnisch veränderter Mikroorganismen fermentiert, extrahiert und zu Pulver, Hydrogel oder Garn weiterverarbeitet. Die Fasern sind biobasiert, biologisch abbaubar und bis zu 80 Prozent nachhaltiger als Naturfasern. Zielmärkte sind Textilien, Waschmittel und technische Anwendungen. Auch KI kommt im Protein Engineering zum Einsatz.
Was haben Autositze, Uhrenarmbänder und Geschirrspültabs gemeinsam? In allen steckt das Potenzial eines besonderen Materials, das nicht aus Baumwolle oder Plastik, sondern aus einem nachgebauten Naturwunder stammt: Spinnenseide. Wie lässt sich diese jahrtausendealte Substanz in die Welt moderner Produkte bringen – und was braucht es, damit daraus mehr wird als ein Forschungsexperiment?
IM+io: Beschreiben Sie uns bitte kurz AMSilk und womit es sich beschäftigt.
IR: Die Firma wurde 2008 als GmbH gegründet und ist aus einem Forschungszweig der TU München hervorgegangen. Im Zentrum stand damals die Frage: Wie kann man Spinnenseide industriell herstellen? Professor Thomas Scheibel hat dazu intensiv geforscht – denn Spinnenseide ist seit jeher faszinierend. Schon im alten Ägypten wurde sie für Wundverbände genutzt, weil sie antibakteriell und entzündungshemmend wirkt. Wissenschaftlich ist dieses Thema spannend, weil Seide enorm elastisch und gleichzeitig belastbar ist. Ein Spinnenfaden mit Daumendicke könnte theoretisch einen Airbus stoppen – das war so eine der klassischen Illustrationen ihrer Kraft. Die Idee war also, diese natürlichen Eigenschaften nutzbar zu machen – erst für Textil, dann auch für Medizinprodukte, Kosmetik sowie Consumer Goods. Mit der Ausgründung ist daraus ein eigenständiges Unternehmen entstanden.
IM+io: Wie hat sich das Unternehmen seitdem weiterentwickelt?
IR: Ursprünglich dachte man in Richtung Textilanwendungen – was naheliegt bei einem Fadenmaterial. Doch sehr schnell hat sich gezeigt: Diese Seidenproteine lassen sich noch viel breiter einsetzen. In der Medizintechnik etwa nutzen wir sie zur Beschichtung von Silikonimplantaten. Das Protein wird als Layer aufgetragen und hat den Vorteil, dass es vom Körper nicht als Fremdkörper erkannt wird – schließlich ist Protein ein körpereigener Baustein. So kommt es zu weniger Abstoßungen und Entzündungsreaktionen. Auch in der Kosmetik war das ein Thema – die Seide ist sanft zur Haut, unterstützt Regeneration, wirkt beruhigend. Das war für viele Anwendungen interessant. Ein Teil wurde dann an ein großes Kosmetikunternehmen verkauft. Insgesamt haben wir wissenschaftlich über 50 Applikationen identifiziert, aber natürlich kann man als kleines Unternehmen nicht alle gleichzeitig verfolgen. Daher liegt der Fokus jetzt klar auf textilen Anwendungen – konkret: Wir machen aus unserem Seidenprotein Fasern und Filamente.
IM+io: Wie funktioniert die Herstellung genau – vom Ursprung bis zum Faden?
IR: Alles beginnt mit der DNA der Spinne. Die Sequenz, die für die Spinnenseide zuständig ist, wurde entnommen und in Mikroorganismen – genauer: Bakterienstämme – eingebaut. Die Bakterien werden dann gefüttert, etwa mit Glukose, und beginnen sich zu vermehren. Dabei produzieren sie in sich das gewünschte Protein. Sobald der Fermentationsprozess abgeschlossen ist, wird das Protein extrahiert, gereinigt und getrocknet. Das Ergebnis ist ein feines puderartiges Seidenprotein. Dieses Pulver kann dann entweder direkt in Produkte eingebracht werden – etwa in Kosmetik oder Waschmittel – oder zu einem Faden weiterverarbeitet werden.
IM+io: Was passiert, wenn das Protein weiterverarbeitet wird?
IR: Dann wird das Pulver mit Flüssigkeit zu einer Art Basismischung angerührt – das nennen wir „Dope“. Diese Flüssigkeit „Dope“ wird in ein Spinnbad extrudiert. Dort sorgen physikalische Prozesse dafür, dass das Protein sich verfestigt und einen stabilen Faden formt – ähnlich wie bei der Spinne, die ihren Faden ebenfalls aus einer Flüssigkeit spinnt. Dieser Spinnfaden kann anschließend auf Spinnmaschinen weiterverarbeitet werden. Wir können den Prozess so steuern, dass sehr unterschiedliche Fasertypen entstehen – von zarten Garnen für feine Textilien bis hin zu robusten Fasern für technische Anwendungen wie Autositze.
IM+io: Welche Produkte entstehen derzeit aus diesem Prozess?
IR: Aktuell stellen wir das Protein in drei Formen her: als Pulver, als Hydrogel und als textile Faser. Das Pulver wird beispielsweise in Geschirrspültabs eingesetzt – dort reduziert es den Chemikalieneinsatz, weil es eine natürliche Beschichtung erzeugt. Das Hydrogel findet sich in kosmetischen Anwendungen. Die Faser ist derzeit der kommerziell am weitesten entwickelte Bereich: Hier entstehen Garne, die in Kleidung oder technischen Textilien verwendet werden können.
IM+io: Worin unterscheidet sich Ihre Faser von klassischen Textilfasern?
IR: Unser Produkt ist ein Novum: Es ist ein synthetisch hergestelltes Naturprodukt. Normalerweise hat man entweder Naturfasern wie Baumwolle oder Wolle – die aber aufwendig im Anbau oder ethisch problematisch sein können – oder man hat synthetische Fasern, die oft auf Erdöl basieren. Wir bieten ein Produkt, das komplett im Labor entsteht, aber zu 100 Prozent biobasiert und biologisch abbaubar ist. Wir brauchen keine großen Flächen, keine Tierhaltung, keine intensive Landwirtschaft. Die Produktion ist ressourcenschonend, der ökologische Fußabdruck etwa 80 Prozent niedriger als bei herkömmlichen Naturfasern. Gleichzeitig sind unsere Fasern recycelbar und lassen sich in ihren Eigenschaften gezielt anpassen.
IM+io: Gibt es auch Nachteile – etwa beim Preis?
IR: Natürlich. Neue Technologien sind immer zunächst teurer. Momentan bewegen wir uns im Luxussegment – vergleichbar mit echter Seide. Aber wir sehen auch, dass sich mit wachsenden Produktionsmengen die Kosten deutlich senken lassen. Das ist unser Ziel: In den nächsten Jahren wollen wir mit unseren Garnen nicht nur Luxuskundschaft bedienen, sondern auch im Premiumsegment mitspielen. Erste Partnerschaften mit bekannten Marken gibt es bereits – Namen darf ich leider nicht nennen, aber wir arbeiten mit großen Playern.
IM+io: Wie schätzen Sie die Konkurrenzsituation ein – und was hebt Sie technologisch besonders ab?
IR: Es gibt inzwischen einige Unternehmen, die ebenfalls im Bereich biofabrizierte Fasern aktiv sind. Viele davon haben spannende Ansätze, aber was uns abhebt, ist ganz klar die industrielle Reife unseres Produkts. Wir haben den gesamten Prozess – von der Proteinherstellung über die Verarbeitung bis hin zur konkreten Anwendung – bereits auf Pilot- und Industrieniveau getestet.
Hinzu kommt unsere Fähigkeit, das Protein gezielt so zu designen, dass es exakt die gewünschten Eigenschaften mitbringt – sei es Reißfestigkeit, Weichheit oder Elastizität. Diese molekulare Anpassbarkeit verschafft uns einen technologischen Vorsprung, den bislang kaum jemand in dieser Tiefe realisiert hat.
IM+io: Welche Herausforderungen sehen Sie aktuell und wie gehen Sie damit um?
IR: Ganz klar: Skalierung. Wir haben unseren Prozess bereits erfolgreich auf Industrieanlagen etabliert – jetzt geht es darum, die Produktionsmengen im Multitonnenmaßstab weiter hochzufahren. Dafür arbeiten wir mit starken Produktionspartnern wie Ajinomoto oder Evonik zusammen. Sie bringen wertvolle Industrieexpertise mit ein und unterstützen uns dabei, unsere Technologie effizient auf ihre bestehenden Anlagen zu übertragen. Gleichzeitig sind wir dabei, erste Abnahmeverträge mit Kundschaft zu schließen – das ist essenziell, um Umsatz zu generieren und weiter zu investieren.
IM+io: Welche Rolle spielt dabei Künstliche Intelligenz?
IR: KI nutzen wir im Bereich Protein Engineering. Das heißt: Wir entwickeln unsere Proteine auf molekularer Ebene so, dass daraus ein Garn mit bestimmten Eigenschaften entsteht – etwa besonders reißfest oder besonders weich. Die Spinnenseide ist hochgradig modulierbar, und mit KI lassen sich diese Modifikationen gezielter und effizienter entwickeln. Das erlaubt uns eine Präzision in der Produktentwicklung, die manuell kaum erreichbar wäre. Außerdem hilft uns KI dabei, große Datenmengen aus früheren Tests schneller auszuwerten und Muster zu erkennen, die für neue Designprozesse relevant sind. So gewinnen wir schneller neue Erkenntnisse, die direkt in die nächste Entwicklungsrunde einfließen. Für andere Prozessschritte prüfen wir derzeit, inwieweit wir KI noch stärker einsetzen können – zum Beispiel bei Qualitätssicherung oder Produktionsplanung.
IM+io: Arbeiten Sie auch mit Forschungseinrichtungen zusammen?
IR: Im wissenschaftlichen Bereich haben wir mittlerweile viel Know-how im eigenen Haus aufgebaut – unser Team bringt Erfahrung aus dem Silicon Valley, aus Oxford oder von anderen Top-Institutionen mit. Bei bestimmten Projekten arbeiten wir aber auch mit externen Beteiligten zusammen. Ein Beispiel ist 21st Bio, ein Ableger von Novo Holdings. Gemeinsam optimieren wir unsere Produktionsstämme, um Ausbeute und Effizienz weiter zu steigern. Im Kund:innenenbereich wiederum pflegen wir Entwicklungspartnerschaften – etwa mit Mercedes für Autositze oder Omega für Uhrenarmbänder. Hier geht es darum, gemeinsam marktfähige Lösungen zu entwickeln.
IM+io: Wie sehen solche Kooperationen mit Abnehmenden konkret aus?
IR: Oft beginnt es über Kontakte zu den Nachhaltigkeitsabteilungen großer Unternehmen. Diese suchen nach Materialinnovationen, um ihre CO₂-Bilanzen zu verbessern – etwa im Rahmen ihrer Lifecycle Assessments. Dann nehmen sie Kontakt zu uns auf, und gemeinsam wird überlegt: Welche Beimischung unseres Materials macht Sinn? Wie verändern sich dadurch die Materialeigenschaften oder Emissionen? Es entstehen sehr individuelle Entwicklungsprojekte, die meist über Jahre laufen.
IM+io: Gibt es schon konkrete Pläne für eine eigene Produktionsstätte?
IR: Ja, langfristig ist das das Ziel. Momentan arbeiten wir mit industriellen Kooperationsunternehmen zusammen – das ist effizient und spart Investitionskosten. Aber mittelfristig wollen wir eigene Produktionskapazitäten aufbauen, um als globaler Anbieter agieren zu können. Wir wollen nicht das kleine Start-up aus München bleiben, sondern eine feste Größe im Bereich biobasierter Materialien werden – als Supplier für Garne und für sogenannte Consumer Care Solutions.
IM+io: Wie sieht Ihre Vision für die Zukunft aus?
IR: Wir haben uns bewusst entschieden, nicht nur Technologieplattform zu sein, sondern echte Endprodukte zu liefern. Wir wollen globaler Garn-Lieferant sein – für biofabrizierte Textilien, aber auch für Konsumgüter. Gerade im Bereich Wasch- und Reinigungsmittel sehen wir enormes Potenzial, weil die Regulatorik dort strenger wird und viele Herstellende nach Alternativen suchen. Gleichzeitig wollen wir weitere Marktsegmente erschließen – etwa Packaging oder landwirtschaftliche Anwendungen. Die Technologie ist da – jetzt geht es darum, sie auch strategisch zu nutzen.