Ernte 2.0:
Wenn Reststoffe zu Ressourcen werden
Michael Zavrel, Technische Universität München

(Titelbild: © AdobeStock I 582389293 I noeh )
Kurz und Bündig
Um Agrarreststoffe, die nach der Ernte übrigbleiben, effizient nutzen zu können, muss die lignocellulosische Biomasse mit Enzymen verarbeitet werden, um Zucker der sogenannten „zweiten Generation“ zu erhalten. Mit Hilfe von Mikroorganismen können diese Zucker dann vielfältig genutzt und zu biobasierten Kraftstoffen, Chemikalien und Biopolymeren umgewandelt werden. Eine Herausforderung hierbei sind die stark schwankenden Qualitäten der Agrarreststoffe. Moderne Technologien wie Soft-Sensoren und KI spielen eine entscheidende Rolle bei der Optimierung dieser Prozesse und deren Transfer in den Industriemaßstab.
Manchmal ist es der Abfall, der den größten Wandel einleitet. Wenn Stroh, andere Pflanzenreste oder sogar unerwünschte Wasserpflanzen zum Ausgangspunkt für nachhaltige Materialien werden, entstehen neue Möglichkeiten für eine biobasierte Industrie. Doch wie lässt sich aus einer schwer kontrollierbaren Biomasse ein verlässlicher Prozess formen – und welche Rolle spielt dabei Künstliche Intelligenz?
Die Endlichkeit fossiler Rohstoffe, der Klimawandel und die Notwendigkeit, Importabhängigkeiten zu reduzieren, wie es zu Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine deutlich wurde, sind zentrale Herausforderungen unserer Zeit. Zudem nimmt die Belastung durch Mikro- und Nanoplastik unaufhörlich zu und kann auch bei flächendeckendem Recycling von Kunststoffen nicht vollständig vermieden werden. Aus diesen Gründen ist es wichtig, neue nachhaltige Lösungen zu entwickeln. Hierzu gehört die Nutzung nachwachsender Rohstoffe, also von Pflanzen, die CO₂ aus der Atmosphäre binden, sowie die Produktion von biologisch abbaubaren Biopolymeren, also dem, was allgemein als „Biokunststoffe“ bezeichnet wird.
Agrarreststoffe und andere bislang ungenutzte biogene Rohstoffe
Der steigende Nahrungsmittelbedarf durch das weltweite Bevölkerungswachstum macht es notwendig, alternative Rohstoffe zu finden, denn die Nutzung von Feldfrüchten für Kraftstoffe oder Kunststoffe führt zu Flächenkonkurrenz und potenzieller Nahrungsmittelknappheit. Eine vielversprechende Lösung sind Agrarreststoffe – also Pflanzenteile wie Stroh, die nach der Ernte übrig bleiben. Ein Großteil davon lässt sich nachhaltig nutzen, ohne Anbauflächen für Lebensmittel zu verdrängen.
Agrarreststoffe bestehen aus Lignocellulose, deren Hauptbestandteile Lignin, Cellulose und Hemicellulose sind. Je nach Region kommen unterschiedliche Agrarreststoffe vor. In Europa sind es vor allem Weizenstroh, Dinkelspelzen oder Zuckerrübenpressschnitzel; in Nordamerika Maisstroh, in Asien Reisstroh und in Brasilien vor allem Zuckerrohr-Bagasse. Diese fällt in großen Mengen als Nebenprodukt der Bioethanolproduktion an. In einigen Ländern werden solche Reststoffe häufig noch verbrannt – was zu erheblicher Luftverschmutzung führen kann, wie etwa in Indien sichtbar wird.
Auch invasive Wasserpflanzen wie Wasserhyazinthen oder der Schwimmfarn Salvinia molesta sind potenziell nutzbare Biomassen. Wasserhyazinthen wachsen extrem schnell und verdrängen in Regionen wie dem Vikto-riasee ganze Ökosysteme, indem sie Sauerstoff entziehen und Fischsterben verursachen. Ihre Entfernung ist teuer – doch biotechnologische Verwertung könnte helfen, dieses Problem wirtschaftlich anzugehen.
Mit Biotechnologie Potenziale erschließen
Pflanzliche Reststoffe sind von Natur aus sehr stabil. Um sie dennoch nutzbar zu machen, müssen sie zunächst aufgeschlossen werden. Statt kostenintensiver chemischer Verfahren bietet sich die sogenannte Dampfexplosion an: Durch Druck und plötzliche Entspannung wird das Pflanzenmaterial strukturell aufgebrochen, wodurch Enzyme leichter angreifen können.
Diese Enzyme – darunter Cellulasen – zerlegen die Cellulose in Glucose. Weitere Enzyme setzen zusätzliche Zucker wie Xylose und Arabinose sowie organische Säuren frei. Die freigesetzten Zucker werden als „Zucker der zweiten Generation“ (2G-Zucker) bezeichnet. Damit werden diese von „1G-Zuckern“ wie Saccharose oder Glucose aus Maisstärke abgegrenzt, deren Nutzung für die Lebensmittelproduktion bereits lange etabliert ist.
Mikroorganismen wie Hefen, Pilze oder Bakterien fermentieren die 2G-Zucker zu zahlreichen Produkten – darunter Biokraftstoffe, Chemikalien, Enzyme oder Biopolymere. Die Verwertung hängt jedoch vom Zucker ab: Während die Glucose, die aus sechs Kohlenstoffatomen besteht (C6-Zucker), von praktisch allen Mikroorganismen verwertet werden kann, erfordern C5-Zucker wie Xylose spezielle Mikroorganismen oder gentechnisch angepasste Stoffwechselwege.
Kein Rohstoff wie der andere: Die Tücken der natürlichen Vielfalt
Im Gegensatz zur Arzneimittelproduktion, wo hochreine Ausgangsstoffe genutzt werden, unterliegen Agrarreststoffe starken natürlichen Schwankungen. Unterschiede in Sorten, Böden, Klima oder Lagerung wirken sich auf Zusammensetzung und Qualität aus. Rückstände von Pflanzenschutzmitteln können die Verarbeitung zusätzlich erschweren. Auch technisch gibt es Herausforderungen: Fasern und Trübstoffe behindern Messmethoden, Feststoffe wie Sand greifen Anlagen an. Sterilisation ist energetisch nicht praktikabel, Fremdkeime sind kaum zu vermeiden und hohe Salzfrachten und Ligninabbauprodukte können das Wachstum von Mikroorgansimen behindern.
Besonders komplex ist der enzymatische Aufschluss der Lignocellulose. Dafür braucht es individuell abgestimmte Enzymmischungen – etwa mit Cellulasen, Xylanasen oder Laccasen – die auf jeden Rohstoff angepasst werden müssen. Biotechnologische Prozesse müssen deshalb hochflexibel sein: Drücke, Temperaturen, Enzym- und Mikroorganismenmengen sowie Nährstoffe müssen rasch angepasst werden. Da Lieferungen meist kurzfristig erfolgen, sind Vorversuche kaum möglich – das verlangt kontinuierliche, reaktionsschnelle Prozessführung über alle Schichten hinweg.
Soft-Sensoren und KI als Chance
Soft-Sensoren erfassen kontinuierlich Messsignale, vergleichen sie mit historischen Daten und leiten daraus indirekt messbare Größen ab. So kann etwa ein erhöhter Verbrauch an Säuren und Laugen auf das Wachstum unerwünschter Keime hinweisen – und automatisch die Dosierung von Zusätzen wie Hopfenextrakt auslösen. Grundlage sind Modelle, die entweder mechanistisch („white box“) oder rein datengetrieben („black box“) funktionieren. Letztere setzen Methoden der Künstlichen Intelligenz ein, benötigen jedoch große Datenmengen und sind bei neuen Bedingungen weniger flexibel.
Ein Mittelweg sind hybride („grey box“) Modelle, die beides kombinieren. Besonders vorteilhaft sind Soft-Sensoren mit datengetriebenen Anteilen, da diese mit jeder Charge lernen und sich kontinuierlich verbessern. Sie erkennen Veränderungen im Prozess oft schneller als menschliche Fachkräfte und ermöglichen dadurch eine vorausschauende Steuerung.
Szenarien simulieren, Prozesse beschleunigen: Frühzeitige Analysen für die Praxis
Um die großindustrielle Nutzung von Agrarreststoffen zu etablieren, ist es erforderlich, dass die Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit der Prozesse sichergestellt sind. Gerade in Hinblick auf die ambitionierten Klimaschutzziele der nächsten Jahre muss vermieden werden, dass solche Prozesse lange im Labor entwickelt werden und sich dann doch nicht als wirtschaftlich erweisen oder am Ende die Emissionen von Treibhausgasen nicht genügend reduzieren. Aus diesem Grund ist es bereits zu Beginn der Entwicklung ratsam, techno-ökonomische Studien (techno-economic analysis – TEA) und Lebenszyklusanalysen (life cycle analysis – LCA) durchzuführen. Da zu diesem Zeitpunkt viele Einflussparameter noch nicht genau quantifiziert werden können und die Einsatzstoffe Preisschwankungen unterworfen sind, bietet es sich an, die TEA und LCA mit stochastischen Methoden zu kombinieren. Auf Basis von vielen Stichproben (Monte-Carlo-Simulation) können Wahrscheinlichkeitsverteilungen für die Betriebs- und Investitionskosten sowie das Einsparpotenzial von Treibhausgasen bestimmt werden. So können Investitionsentscheidungen viel rationaler getroffen werden als mit der bloßen Betrachtung einzelner Szenarien. Ein weiterer Vorteil ist, dass so frühzeitig Kostentreiber und andere relevante Parameter identifiziert werden können. Damit kann die Prozessentwicklung viel fokussierter erfolgen und somit erheblich beschleunigt werden.
Vom Labor zur Anwendung: Wie Agrarreststoffe in die Industrie kommen
Nach Abschluss der Prozessentwicklung erfolgt die Übertragung in den Industriemaßstab. Dieser „Scale-up“ erfolgt oftmals mehrstufig. Zunächst wird das Verfahren oder werden einzelne Schritte davon im Pilotmaßstab getestet. Viele Herausforderungen bei der Verwendung von Agrarreststoffen werden erst im großen Maßstab und längerfristig sichtbar. Hierzu zählt zum Beispiel die Verstopfung oder frühzeitige Abnutzung von Rohrleitungen. Deshalb sollten die Verfahren im industrienahen Maßstab, das heißt über einen längeren, idealerweise mehrere Monate dauernden Zeitraum, demonstriert werden. Gerade im Hinblick auf regulatorische Anforderungen ist eine frühzeitige Testung im realitätsnahen Maßstab essenziell, um kostspielige Verzögerungen im späteren Genehmigungsprozess zu vermeiden.
In Deutschland gibt es diese Möglichkeit unter anderem beim Fraunhofer CBP in Leuna. Außerdem befindet sich derzeit in Straubing die Mehrzweckdemonstrationsanlage BioCampus MultiPilot im Bau. In diesem Zusammenhang sei auf das Beschleunigungs- und Transfernetzwerk TransBIB verwiesen, das viele Anbieter solcher Pilot- und Demonstrationsanlagen innerhalb Deutschlands vernetzt und damit die Etablierung der Bioökonomie beschleunigen möchte.
Die Verwertung von Agrarreststoffen hat also ein großes Potential, um nachhaltigere Alternativen zu konventionellen Kraftstoffen, Chemikalien und Biopolymeren zu etablieren. Bis man diese Potenziale voll nutzen kann, gibt es jedoch einige Herausforderungen zu meistern. Moderne Methoden der Modellierung und Simulation können hier eine entscheidende Rolle spielen. Daher wird es zukünftig wichtig sein, in der Ausbildung der Biotechnolog:innen und Prozessingenieur:innen die Methoden der KI zu unterrichten und KI in der biotechnologischen Forschung zunehmend einzusetzen.