Digitalisierung ohne strukturierte Daten-räume ist wie Architektur ohne Statik
Sandra Ehlen, Chefredakteurin IM+io

Stellen Sie sich vor, Sie bauen ein Hochhaus. Die Fassade glänzt, das Smart-Lighting funktioniert, und im Foyer steht ein Barista-Roboter mit Gesichtserkennung. Alles wirkt nicht nur modern, sondern zukunftsweisend – doch niemand hat je die Statikplanung gefragt. Die tragenden Elemente? Unklar. Die Baupläne? Uneinheitlich. Die Hoffnung: Wird schon halten. Genau so funktioniert Digitalisierung heute in vielen Unternehmen in Deutschland.
Der glänzende Putz heißt KI – oder genauer: Generative AI. Sie soll alles tragen: unverbundene Datensilos, Excel-Logiken, historisch gewachsene IT-Strukturen. Und tatsächlich: Aktuelle GenAI-Tools sind beeindruckend darin, insbesondere unstrukturierte Daten zu interpretieren und Muster zu erkennen. Daran war vorher nicht zu denken. Aber auch GenAI ist kein Allmittel.
Denn eine KI ist nur so gut, wie das Fundament, auf dem sie arbeitet bzw. trainiert wurde. Strukturierte Datenräume bleiben der Schlüssel – sowohl für Effizienz als auch für Vertrauenswürdigkeit. Je klarer die Datenbasis, desto präziser und schneller die Ergebnisse. Wer darauf verzichtet, arbeitet mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Ergebnissen, die fehleranfällig sind. Oder bildlich gesprochen: Wer auf Morast baut, braucht sich über Risse in der Fassade nicht wundern.
Die Herausforderung besteht darin, dass noch immer viele dem Glauben erliegen, dass sich eine entsprechende Basis von selbst ergibt. Doch strukturierte Datenräume entstehen nicht aus Versehen – sie müssen bewusst gebaut werden. Und zwar nicht als Nebenprojekt der IT, sondern als strategische Infrastruktur. Denn ohne ein gemeinsames Verständnis von Daten, Formaten und Begrifflichkeiten wird jede KI irgendwann zum schiefen Turm von Pisa – beeindruckend, zu Tourismuszwecken –, aber eben nicht die Weltspitze der nutzbaren Baukunst.
Gleichzeitig zeigt sich, dass Innovation heute nicht mehr im Alleingang stattfindet. Branchenübergreifende Kooperationen wie Manufacturing-X entstehen nicht aus Idealismus, sondern aus Notwendigkeit. Wer Teil solcher Netzwerke sein möchte, braucht nicht nur die technischen Schnittstellen – sondern gemeinsame semantische Grundlagen. Wenn alle unter „Produktionsstück“ etwas anderes verstehen, wird ein maschineller Datenaustausch unmöglich.
Strukturierte Datenräume sind damit keine akademische Spielerei, sondern Voraussetzung für Anschlussfähigkeit – nach innen und außen. Sie definieren, wie Informationen eingeordnet, gepflegt und weitergegeben werden. Wer sie nicht hat, improvisiert dauerhaft auf schwankendem Boden. Und verlässt sich darauf, dass die generativen Algorithmen es schon irgendwie richten. Das ist nicht strategisch – das ist, als würde man das Dach decken, bevor man sich überlegt, wo die Wände hinkommen.
Was es jetzt braucht? Erstens: den Mut zur Struktur – auch wenn es mühsam erscheint. Zweitens: den Willen, Datenräume nicht nur technisch, sondern geschäftlich zu denken. Und drittens: Führungskräfte, die nicht nur in Lösungen investieren, sondern in die Bedingungen und Standards, unter denen diese wirken können.
Denn Digitalisierung ohne Struktur ist möglich – aber riskant. Genau wie ein Hochhaus ohne geprüfte Statik. Beeindruckend? Vielleicht. Verlässlich? Sicher nicht.