Digitale Industrie
„Datenmodelle sind die komprimierteste Form, um
komplexe Systeme zu verstehen.“
August-Wilhelm Scheer im Gespräch mit Irmhild Plaetrich, IM+io

(Titelbild: © AdobeStock | 1196618623 | adniluy )
Kurz und Bündig
Das neue Buch von Prof. Dr. August Wilhelm Scheer enthält über 200 Modelle aus den Bereichen Logistik, Produktentwicklung, Fabrikgestaltung und Produktion sowie aus unterstützenden Bereichen wie Personalmanagement und Finanzbuchhaltung. Es umfasst damit alle Bereiche eines Industrieunternehmens, sodass der Leser ein hohes Verständnis der Zusammenhänge erhält. „Digitale Industrie – Daten, Prozesse, Metaverse“ bietet Daten- und Prozessmodelle, die das Verständnis der komplexen Anwendungen eines Industrieunternehmens fördern und als Grundlage für Digitalisierung und Innovationen dienen. Die Hintergründe dazu erläutert der Autor in diesem Interview.
„Digitale Industrie – Daten, Prozesse, Metaverse“, so lautet der Titel des neuen Buches von Professor Dr. August-Wilhelm Scheer, das im Herbst dieses Jahres im Springer Verlag erscheint. Im Fokus stehen Daten- und Prozessmodelle, die zum Verstehen der komplexen Anwendungen eines Industrieunternehmens und zur Grundlage der Digitalisierung und von Innovationen dienen. Über Zielstellungen und Inhalte haben wir mit dem Wissenschaftler und Unternehmer gesprochen.
IM+io: In Ihrem neuen Buch „Digitale Industrie – Daten, Prozesse, Metaverse“ entwickeln Sie Daten- und Prozessmodelle zur Digitalisierung von Industrieunternehmen. Was war Ihr Motiv für dieses umfassende Werk?
AWS: Daten- und Prozessmodelle sind Grundlage zur Entwicklung neuer Organisationskonzepte und digitaler Anwendungssysteme. Sie stehen für zwei Seiten einer Medaille, das heißt, sie bedingen sich gegenseitig. Dabei hängt ihre Gewichtung von technologischen und organisatorischen Umständen ab. Nach 30 Jahren Prozessdominanz treten heute die Verfügbarkeit, Konsistenz und Integration von Daten stärker in den Vordergrund. Zur Begründung lohnt sich ein kurzer Blick zurück:
Mit der Entwicklung von ERP-Systemen, die auf der Basis einer einheitlichen Unternehmensdatenbank beruhten, wurden dem Anwender viele Aufgabenstellungen abgenommen. Das Problem der Dateninkonsistenz und -integration wurde automatisch gelöst, da alle Funktionen auf die gleichen Daten zugreifen. Der Anwender konnte sich damit auf die Organisation der Prozesse konzentrieren, sie verschlanken, vereinheitlichen und optimieren. Diese Situation hat sich in den letzten Jahren geändert. So werden ERP-Systeme zunehmend um neue Anwendungsgebiete ergänzt, auch ihre Anbieter haben durch Zukauf von angrenzenden Systemen das Paradigma einer einheitlichen, integrierten Datenbank aufgegeben. Damit rückt die Integration von unterschiedlichen Datenbasen wieder in den Vordergrund. Hinzu kommt, dass für den überbetrieblichen Datenaustausch offene Datenräume entwickelt werden, es gibt keine KI-Anwendung, die nicht auf Daten beruht und Datenstrukturen sind Grundlage von Business Intelligence und Data Warehouses. Es gibt also eine ganze Reihe von Argumenten, das Thema Daten in den Vordergrund zu rücken. Der Zusammenhang zu den Prozessen bleibt aber bestehen, denn vorhandene Daten ermöglichen neue Prozesse, während fehlende Daten sie verhindern oder begrenzen. Deswegen werden in dem Buch Daten- und Prozessmodelle gleichermaßen entwickelt, wenn auch der Detaillierungsgrad der Datenmodelle tiefer ist.
IM+io: In Ihrem Buch geht es vor allem um Modelle für die Industrie …
AWS: Bei Industrieunternehmen ist die Komplexität von Daten und Prozessen besonders hoch, und gleichzeitig stehen sie unter einem hohen Digitalisierungsdruck, um international wettbewerbsfähig zu sein. Es geht darum, zu untersuchen, in welchen Bereichen besondere Möglichkeiten bestehen, Prozesse aufgrund von Datenverfügbarkeit zu verbessern oder dazu neue Datenstrukturen zu entwickeln.
Erstes Anwendungsfeld ist die Logistik, also die Verfolgung von Güterströmen zwischen Unternehmen und Kunden.
Das zweite Gebiet ist die Produktentwicklung. Hier spielt das Konzept des Digitalen Zwillings eine besondere Rolle. Mit einem Digitalen Zwilling als Abbild eines realen neuen Produktes können Simulationen, Analysen, Prognosen und Optimierungen für Entwicklungszeiten und Produktalternativen durchgeführt werden. Hierdurch können Materialien eingespart, Entwicklungszeiten verkürzt und ergonomisch optimierte Produkte entwickelt werden.
Das dritte Gebiet ist die Fabrikplanung. Moderne Fabriken entstehen heute als Digitale Zwillinge zuerst im Computer, bevor sie gebaut werden. Auch hier können Simulationen etc. eingesetzt werden. Es können vorab Arbeitswege und -schritte von Mitarbeitern ergonomisch optimiert werden, um eine menschengerechte und auch effektive Produktion zu ermöglichen.
Das vierte große Anwendungsgebiet ist die Fabrik selbst. Hier können durch den Einsatz Digitaler Zwillinge Roboter weitgehend autonom handeln und ortsunabhängig gesteuert werden. All das sind innovative Anwendungen, die eine entsprechende Datenbasis benötigen. In allen Anwendungsgebieten müssen neue Möglichkeiten mit den klassischen Planungs- und Steuerungsfunktionen verknüpft werden, damit Innovationen erfolgreich umgesetzt werden können.
Das fünfte Anwendungsgebiet sind die kaufmännischen Verwaltungs- und Abrechnungssysteme, die ebenfalls auf komplexen Datenstrukturen beruhen.
In allen diesen Gebieten müssen klassische Funktionen mit innovativen neuen Möglichkeiten verknüpft werden. Die benötigten Daten und Prozesse zu kennen, ihre logischen Beziehungen zu verstehen und zu gestalten, dienen die in meinem Buch entwickelten Modelle.

IM+io: Wie detailliert bilden die Modelle die industrielle Wirklichkeit ab?
AWS: Das Buch umfasst rund 400 Seiten. Es enthält über 200 Modelle aus den Bereichen Logistik, Produktentwicklung, Fabrikgestaltung und Produktion sowie aus den unterstützenden Bereichen Personalmanagement, Finanzbuchhaltung, Rechnungswesen und Informationsmanagement. Es umfasst damit alle Bereiche eines Industrieunternehmens, sodass der Leser ein hohes Verständnis der Zusammenhänge erhält.
Die Detailierungsebene ist so gewählt, dass das Grundverständnis im Vordergrund steht und der Erstellungsprozess von Prozess- und Datenmodellen deutlich wird. Der Leser kann dann später für seine individuellen Ergänzungen nach dem gleichen Verfahren vorgehen und die Modelle auf das eigene Unternehmen ausrichten.

IM+io: Welche konkreten Fragen können mit den Modellen beantwortet werden?
AWS: Sie können beispielsweise als Vergleichsgrundlage dienen. Auf diese Weise lassen sie sich mit den Datenmodellen konkreter Anwendungssysteme abgleichen, um deren Leistungsfähigkeit zu prüfen. Man kann sie auch nutzen, um neue Systeme zu entwickeln. Ich glaube, dass Datenmodelle die komprimierteste Form sind, um komplexe Systeme zu verstehen. Insofern stellt ein Unternehmensmodell, das die Datenobjekte eines Unternehmens mit ihren Beziehungen umfasst, die beste Quelle dar, um ein Unternehmen in seiner Gesamtheit verstehen zu können. Ein Unternehmensdatenmodell des Industrieunternehmens ist deshalb auch die Zusammenfassung aller Datenmodelle dieses Buches und steht dem Leser unter www.aws-institut.de/udm zur Verfügung. Alle Datenmodelle sind mit dem Tool Scheer Modeler entwickelt, sie stehen im Internet zur Verfügung, verbunden mit einem einfachen Tool zur Manipulation, also Adaption, zum Zoomen und Ergänzen.
IM+io: Sie haben bereits früher Bücher veröffentlicht, in denen Modelle eine große Rolle spielten…
AWS: In dem aktuellen Buch greife ich bei Modellen in Teilen auf frühere Versionen zurück, die ich unter dem Titel „Wirtschaftsinformatik- Referenzmodelle für industrielle Geschäftsprozesse“ veröffentlicht habe. Diese Bücher habe ich auch intensiv für die studentische Ausbildung genutzt. Häufig kommen ehemalige Studenten zu mir und berichten, dass gerade die Kenntnisse aus diesen Modellen zu den wichtigsten gehören, die sie im Studium gelernt haben. Sie ermöglichen es ihnen, die Komplexität von Unternehmen zu verstehen – eine Komplexität, die aus der Vielfalt von Prozessen und Daten sowie deren logischem Zusammenhang entsteht. Insofern wünsche ich mir, dass auch mein neues Buch weiterhin in der studentischen Ausbildung und zur praktischen Weiterbildung eingesetzt wird. Aber im Vordergrund sehe ich es als Quelle und Anregung für Prozessinnovationen in Industrieunternehmen. Da sich das Buch komplett von den Vorläufern unterscheidet, habe ich mit „Digitale Industrie – Daten, Prozess, Metaverse“ einen neuen Titel für das Buch gewählt.

IM+io: Daten können also wichtige Innovationstreiber sein?
AWS: Wenn Daten richtig genutzt werden, ganz sicher. Ein Beispiel dafür sind die bereits erwähnten Digitalen Zwillinge bis hin zum industriellen Metaverse. Sie benötigen zwingend Real Time Daten und 3D-Darstellungen. Large Language Models (LLMs) beruhen auf dem Weltwissen, also den Daten des Internets. Ohne diese Daten wären diese Anwendungen nicht entstanden. Innovationskraft liegt auch in dem unternehmensübergreifenden Datenaustausch mit Lieferanten, Partnern und Kunden. Diese gilt für Logistik, Produktentwicklung und Fabrikgestaltung. Es entstehen neue Prozesse, indem Hersteller eng mit ihren Kunden und Lieferanten zusammenarbeiten, um Entwicklungszeiten zu verkürzen und besser auf Kundenbedürfnisse einzugehen.
Daten sind auch eine wichtige Quelle für die Entscheidungsfindung. Hier liegen noch viele Potenziale. Man spricht nicht ohne Grund von Datenfriedhöfen, weil vorhandene Daten nicht ausreichend ausgenutzt werden. Gerade hier ergeben sich neue Möglichkeiten für die Industrie, mit Innovationen voranzugehen. Auch dafür dienen die Daten- und Prozessmodelle des Buches.

IM+io: Entstehen hier auch neue Chancen für den Standort D zur Digitalisierung der Industrie?
AWS: Diese Fragestellung kann einmal aus der Anwendungssicht und andererseits aus der Anbietersicht von IT-Unternehmen gesehen werden. Es ist unbestritten, dass viele IT-Entwicklungen, insbesondere auch auf dem Gebiet der KI, eher aus den USA stammen als aus Europa. Sie zu nutzen, indem wir die Datenbestände aus der Industrie mit ihnen analysieren und daraus neue Geschäftsmodelle und -prozesse entwickeln, ist für Industrieunternehmen bereits ein Gewinn. Noch interessanter ist es aber, wenn aus Deutschland und Europa auch neue IT-Produkte in Form von Standardsoftware entwickelt werden. Hier haben wir in Europa in den Bereichen ERP, CAD und Fabriksteuerung eine gute Ausgangssituation und mit der SAP, Dassaud und Siemens auch international starke IT-Unternehmen in diesen Einzelgebieten.
Im intelligenten Industrial Metaverse, in dem reale Industrieprozesse mit ihren Digitalen Zwillingen zusammenwachsen, müssen auch diese Einzelgebiete stärker integriert werden. Das heißt, dass die Softwareindustrie hierfür neue Anwendungen entwickeln und durch unser starkes Industrie-Know-how weltweit zum Erfolg führen kann. Dieses gilt einmal für Basissysteme mit einer hohen Skalierung, aber auch für spezielle Anwendungen, die darauf aufbauen. Dies wären Anwendungen für Automobil-, Chemie-, Pharma- und Konsumgüterindustrie, aber auch für Dienstleistungen, Handel und öffentliche Verwaltung. Datengetriebene Prozesse bieten hier überall hohes Innovationspotenzial.
Die im Rahmen von staatlich unterstützten Forschungs- und Entwicklungsprojekten entwickelten offenen Plattformarchitekturen wie Catena-X, Manufacturing-X und Factory-X bieten dafür gute Grundlagen, auch für kollaborative Ansätze. Die Zusammenschlüsse aus Start-Up-Unternehmen und etablierten Unternehmen sind allerdings derzeit noch vorsichtig zu beurteilen. Da hoffe ich noch auf weitere positive Entwicklungen.
Unstreitig ist, dass die deutsche Wirtschaft in ihrer Gesamtheit große Digitalisierungssprünge machen muss, wenn sie wieder den Anschluss finden und sich aus der Rezessionsspirale befreien will. Politisch sind – nicht zuletzt mit dem neuen Digitalisierungsministerium – die ersten wichtigen Schritte getan, jetzt gilt es aber mutig zu handeln, um Chancen zu nutzen.