Die dunkle Seite einer vermessenen Welt
Von methodischen Problemen, Optimierungszwang und Entfremdung
Kurz & Bündig
Die positiven Effekte und Anwendungsmöglichkeiten der Selbstvermessung lassen sich nicht von der Hand weisen: Selbsterkenntnis und -optimierung, Motivation und Kontrolle. Doch welche Risiken birgt dieser Trend eigentlich und ab wann können die vielen Zahlen und bunten Diagramme unser Leben sogar verschlechtern? Bei aller Begeisterung und allem Fortschrittsdenken findet ein reflektierter, gesunder und funktionaler Umgang mit der Selbstvermessung irgendwo zwischen Verweigerung und Ersatzreligion statt. Denn die Gefahren der Selbstvermessung gehen mit den positiven Seiten einher.
Wenn wir Methoden und Geräte der Selbstvermessung nutzen, gehen wir in der Regel davon aus, dass die erhaltenen Daten korrekt sind; sie scheinen objektiv und valide. Aber was, wenn das gar nicht zutrifft? Bei den Interpretationen verlassen wir uns auf die Schlussfolgerungen der Programme und Apps. Im Extremfall: Essen nach digitalem Kalorienzähler, Bewegung in getrackten Schritten und Schlaf in transparenten Phasen. Aus psychologischer Sicht können Vertrauensverlust und Entfremdung die Folge sein. Dies zeigt sich auch in größerem Maßstab in Zeitgeist-Themen wie etwa dem Optimierungszwang und kritischen Abwägungen zur Eigenverantwortung.
Vorsicht – Messprobleme!
Viele Selbstvermesser werden zum Laien-Wissenschaftler, der mit Hilfe von Statistiken und Grafiken versucht, seinen Körper und sein Verhalten systematisch zu beobachten, nachzuverfolgen und zu verändern. Das Problem: Eine Reihe der auf dem Markt verfügbaren Geräte und Apps zur Selbstvermessung unterliegen keiner Qualitätskontrolle oder wissenschaftlichen Überprüfung ihrer Reliabilität und Validität [1]. So fanden Wissenschaftler der Stanford University beispielsweise in einer Studie zur Messqualität verschiedener Fitnesstracker zwar eine recht hohe Genauigkeit bei der Erfassung direkt messbarer Parameter wie der Herzrate – der Messfehler lag bei unter fünf Prozent –, allerdings teils enorme Abweichungen beim Kalorienverbrauch der Probanden [2]. Bei manchen Geräten lag der gemessene Kalorienverbrauch des Trackers sogar bis zu hundert Prozent neben dem mit dem Goldstandard gemessenen Wert. Grund dafür sind Algorithmen, die auf Grundlage von Mittelwerten verschiedener Faktoren erstellt wurden. Bei Personen außerhalb der statistischen Norm kann es aber genau dadurch zu großen Abweichungen kommen. Für schlanke und gesunde Menschen womöglich nur eine Spielerei, kann der falsche Kalorienverbrauch und damit die falsche Energiebilanz bei Abnehmwilligen nicht nur den Erfolg des Gewichtsverlusts beeinträchtigen, sondern sich auch gesundheitsrelevant auswirken.
Zu den Messproblemen gehören auch psychologische Beobachtereffekte, das heißt, Verzerrungen von Messergebnissen durch das Wissen um die Beobachtung des gemessenen Verhaltens/ der gemessenen Werte. Dieser Effekt kann sich bei der Selbstvermessung sogar noch verstärken, da Beobachter und Beobachteter ein und dieselbe Person sind. Auch die Frage der Operationalisierung, das heißt der Wahl der richtigen Stellvertretervariablen, um schwer Beobachtbares, wie etwa unsere Produktivität oder unseren Kalorienverbrauch, messen zu können, bleibt ein Problem. Allerdings machen sich darüber nur wenige Selbstvermesser Gedanken. Beispielsweise sind Produktivitäts-Apps, die unser Nutzungsverhalten am Computer während der Arbeit aufzeichnen, bewerten und steuern sehr aussagekräftig, wenn sich die Produktivität der beobachteten Person(en) tatsächlich in diesem Maß zeigt. Das ist beispielsweise bei Verwaltungsangestellten häufig der Fall. In kreativen Berufen oder dergleichen können jedoch produktive Denkphasen kaum über derartige Apps erfasst werden.
Qualified Self
Ein weiteres kritisches Betrachtungsfeld betrifft die Interpretation der gemessenen Daten. Denn Zahlen können uns bestenfalls akkurat beschreiben, Verständnis und Erkenntnis entstehen allerdings erst durch eine adäquate Interpretation dieser Daten, also einer qualitativen Auseinandersetzung. Hierfür ist ein Schritt weg von den reinen Daten notwendig, um umfängliche Überlegungen darüber anzustellen, wie die Zahlen zustande gekommen sind und was sie eigentlich bedeuten. Was bedeutet beispielsweise ein Körperfettwert von zwanzig Prozent für mich oder welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen, wenn sich meine Nutzungszeit von WhatsApp während der Corona-Pandemie erhöht hat? Bei der Selbstvermessung geht es leider noch immer vor allem um Zusammenhänge und Muster, sprich Korrelationen. Die Frage nach dem Warum, nach der Kausalität also, stellt sich dabei viel zu selten. Gedanken zur Kausalität und zu Kontextinformationen wären jedoch für eine adäquate Interpretation unerlässlich. Dieselben Rohdaten können ganz unterschiedliche Bedeutungen haben. Bedenkt man, wie unsystematisch, unkritisch und mit Erwartungen und Laienhaftigkeit vorbelastet Selbstvermessung häufig betrieben wird, sind Fehlschlüsse vorprogrammiert. So kann ich heutzutage etwa meine Koordinaten jederzeit genau bestimmen und trotzdem keine Ahnung haben, wo ich bin.
Erst durch Kontextinformationen und eine qualitative Betrachtung wird aus unserem Quantified Self ein Qualified Self – ein sinnvolles Ganzes. Die Bloggerin Jenny Davis brachte den Begriff des Qualified Self erstmals 2013 [3] ins Spiel und beschreibt damit das Selbst, das durch Erzählungen und subjektive Interpretationen aus den Daten der Selbstvermesser entsteht. Demnach nutzen sie die Daten nicht nur, um mehr über sich selbst zu erfahren, sondern brauchen den qualitativen Teil, also die Interpretationen und Erzählungen, das Qualified Self. Dieses wird damit nicht zum Gegenspieler des Quantified Self oder ersetzt dieses. Davis sieht in ihm vielmehr eine notwendige Ergänzung. Denn noch bevor die Selbstvermessung überhaupt stattfinden kann, können uns qualitative Überlegungen dabei helfen, zu entscheiden, warum wir eine bestimmte Variable messen und eine andere nicht. So sind es beispielsweise unsere Ziele, die maßgeblich die Entscheidung beeinflussen, ob wir eher unser Bewegungsverhalten und unser Gewicht tracken oder doch lieber unsere Produktivität und Stimmung.
Vertrauensverlust und Optimierungszwang
Wie zuvor beschrieben, wechseln wir mit der Selbstvermessung vom Beobachter auch zum Beobachtungsobjekt. Wir sind also nicht mehr nur wahrnehmendes und handelndes Subjekt, sondern werden mehr und mehr zum kybernetischen Daten-Objekt. Qualitative Merkmale unseres Körpers werden in Zahlen übersetzt, sprich: gemessen. Dabei könnten wir große Teile unserer echten Erfahrungswelt, des realen Erlebens durch unsere Sinne verlieren. Wir laufen Gefahr, uns von unserer qualitativen Wahrnehmung zu entfernen und Geräten zur Selbstvermessung mehr zu vertrauen als uns selbst. Dies betrifft vor allem unser Körpergefühl, welches uns hilft, zu verstehen, was unser Körper braucht und kann. Sinnvoll, wenn wir etwa an Diabetespatienten denken, die ihren Blutzuckerspiegel regelmäßig messen müssen – umso wichtiger ist daher die Richtigkeit der Daten. Andererseits könnten beispielsweise so autonome Funktionen wie unser Hungergefühl durch Kalorien-Tracking-Apps empfindlich gestört werden. Besonders problematisch wird die Objektivierung unserer selbst, wenn wir, aufgrund von Zahlengläubigkeit und eingeimpfter Abneigung gegenüber Subjektivität, den Wert objektiver Daten über unser vermeintlich fehleranfälliges Körpergefühl stellen. Die Folgen für das Selbst: Vertrauensverlust und Entfremdung; insbesondere wenn Diskrepanzen zwischen dem Körpergefühl und Ergebnissen der Selbstvermessung auftreten. Juli Zeh beschrieb die Selbstvermessung in diesem Zusammenhang sehr treffend als das Gegenteil von Selbstvertrauen [4].
Anhänger der Quantified Self Bewegung weisen die ihnen entgegengebrachte Kritik, Selbstvermesser wären narzisstisch und ausgesprochen individualistisch, oft ab. Nichtsdesto- trotz lässt sich nicht von der Hand weisen, dass eine höhere Vergleichbarkeit durch Maße der Selbstvermessung auch Konkurrenz fördert. Voraussetzung für Konkurrenz ist eben gerade Vergleichbarkeit. Diese kann Leistung nicht nur steigern, sondern auf der Kehrseite auch zu Leistungsdruck führen. Selbstoptimierungszwang als Ausdruck unserer kapitalistischen Leistungsgesellschaft. Für die Industrie, die hinter dem Selbstvermessungshype steht, entsteht ein großzügiger Absatzmarkt.
Der schmale Grat zwischen Kontrolle und Transparenz
Selbstvermessung befriedigt für viele Anwender auch das Bedürfnis nach Kontrolle und Vorhersagbarkeit. Gerade der eigene Körper scheint in einer komplexen und unübersichtlichen Welt für manche das einzige, was sich selbst kontrollieren lässt. Doch der Schein trügt, da es nicht wir selbst sind, die dort messen und/ oder interpretieren, sondern häufig Geräte, Programme und Apps. Überlassen wir ihnen mehr und mehr Kontrolle, indem wir genau diese Daten und Interpretationen nicht kritisch hinterfragen und verstehen, gerät unsere Selbstbestimmung ins Wanken.
Dieser Vertrauensverlust lässt sich auch in der Gesellschaft als Ganzes beobachten. Auch hier schafft Transparenz weniger Vertrauen, als vielmehr Kontrolle; es droht Überwachungsstaat statt Transparenzgesellschaft [5]. Denn problematisch wird die Selbstvermessung vor allem dann, wenn sie nicht mehr nur freiwillig, sondern verpflichtend erfolgt, wie etwa in China mit Einführung des Sozialkreditsystems. Eine Gesellschaft transparenter Bürger schafft sicherlich Vertrauen, allerdings weniger in die anderen Bürger als vielmehr in ein darauf fußendes Rechtssystem. Damit würden auch ganz neue gesellschaftliche Konflikte in den Fokus treten, etwa Verantwortung und Schuld im Gesundheitsbereich oder Diskriminierung aufgrund normabweichenden Verhaltens.
Fazit
Im Kontext der Selbstvermessung und der zunehmenden Digitalisierung verschiedenster Lebensbereiche befinden wir uns auf teils unbekanntem Terrain. Nicht nur Politik und Wirtschaft, auch Teile der Bevölkerung scheinen die Digitalisierung verschlafen zu haben. Wichtige gesellschaftliche Debatten über Themen wie Datenschutz, Datenhandel und digitale Standards werden nur unzureichend geführt. Dabei liegt in alle dem, wie auch in der Selbstvermessung, großes Potential. Im Fokus sollte dabei allerdings der richtige, das heißt ein vor allem bewusster und funktionaler Umgang stehen. Dieser fängt beim Verständnis der Entstehung und Bedeutung von Daten an und verläuft über das Begreifen der Funktionsweise von Algorithmen bis hin zum Wissen über die Fehleranfälligkeit von Messprozessen. An dieser Stelle ist daher die Eigenverantwortung für Daten jedes einzelnen Bürgers gefragt. Wenn wir uns nicht um unsere Daten kümmern, werden es andere definitiv tun.