„Der Standort Deutschland muss dauerhaft in der Top-Liga spielen!“
Im Gespräch mit Dieter Kempf, Präsident des BDI e.V.
Kurz und bündig
Das Internet der Dinge ändert den Alltag und verändert Produktionsprozesse in der Industrie. Die Vernetzung über Grenzen und Entfernungen hinweg kann das Leben einfacher und bequemer machen – wenn es Wirtschaft und Politik gelingt, die damit verbundenen Herausforderungen zu meistern. Was hier nötig ist, erklärt Dieter Kempf im Interview.
Intelligente Steuerung nimmt uns nach einem anstrengenden Arbeitstag das Fahren ab. Die Informationen über Ampelschaltungen und den Verkehrsfluss sorgen dafür, so wenig Sprit wie möglich zu verbrauchen. Per App teilen wir der Heizung daheim mit, wann wir es gerne wie warm hätten. Unsere Kaffeemaschine erhält die Anweisung, kurz vor der Ankunft einen frischen Cappuccino aufzubrühen. So könnte die Zukunft im Internet der Dinge laut dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) aussehen – wären da nicht noch viele Hürden zu nehmen.
IM+io: Herr Kempf, unterstellen wir, dass die Prognose des BDI zutrifft, dass bis zum Jahr 2020 etwa 50 Milliarden Objekte digital miteinander vernetzt sein werden und dass spätestens in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts vollautomatisiertes Fahren zur Regel wird. Was bedeutet das konkret für die Perspektiven der deutschen Industrie?
DK: Die zunehmende Vernetzung von Objekten zu einem Internet der Dinge bietet erstklassige Perspektiven für die deutsche Industrie. In der Produktion etwa ermöglichen vernetzte Maschinen und Anlagen hocheffiziente Fertigungsprozesse und auf die individuellen Wünsche und Bedürfnisse der Kunden zugeschnittene Angebote. Das stärkt die Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandorts Deutschland nachhaltig.
Auch jenseits der vollvernetzten Produktion der Industrie 4.0 bietet die Digitalisierung vielversprechende Chancen für unsere Wirtschaft. Der vermeintliche Vorsprung US-amerikanischer Technologiekonzerne im Endkundenbereich darf nicht darüber hinwegtäuschen. Anders als bei der IT für Endkunden zählen deutsche Firmen bei Unternehmenssoftware und den eingebetteten Systemen zu den Weltmarktführern. Diese eingebetteten Systeme bilden die Basis für das Internet der Dinge. Zusammen mit einer hohen Technologie- und Fertigungskompetenz verfügt die deutsche Industrie über beste Voraussetzungen, um bei der Entwicklung vernetzter Produkte für das Internet der Dinge eine führende Rolle zu spielen.
IM+io: Sind Prognosen mit Blick auf die breite Umsetzung von Industrie 4.0 nicht angesichts des immer noch schleppenden Breitbandausbaus ziemlich gewagt?
DK: Der schleppende Breitbandausbau bereitet mir ebenfalls Sorge. Vor allem deshalb, weil sich rund 70 Prozent aller Industriearbeitsplätze auf dem Land befinden und nur 37 Prozent der Unternehmen im ländlichen Raum derzeit über 50 Mbit/s verfügen. Ohne Glasfaser basierte Netze bis in die Unternehmen und ohne leistungsfähige Mobilfunknetze der fünften Generation droht der Traum von Industrie 4.0 schnell zu platzen. Deshalb hat die Politik angekündigt, den Ausbau Glasfaser basierter Netze mit zwölf Milliarden Euro zu fördern. Geld in die Hand zu nehmen allein reicht aber nicht. Es dauert Jahre, bis die Leitungen tatsächlich unter der Erde liegen. Kommunen müssen Anträge für die Breitbandförderung stellen und Genehmigungen für Wegerechte und Baustellen einholen. Das ist zeit- und ressourcenaufwendig. Hier ist mehr Effizienz gefragt. Zudem sollten alle Möglichkeiten alternativer Kabelverlegung genutzt werden, zum Beispiel im Kanalnetz oder auch über Masten. Dies verringert Bauzeit und -kosten enorm.
Außerdem halte ich viel von einem zusätzlichen nachfrageseitigen Ansatz, etwa in Form von Gigabit-Vouchern für kleine und mittelständische Unternehmen, Schulen oder Krankenhäuser. Über diese Gutscheine lassen sich zeitlich befristete Zuschüsse für Gigabitanschlüsse gewähren. Ein ähnliches System wurde bereits in Großbritannien erfolgreich eingeführt. Damit würde die Bundesregierung positive Investitionsanreize setzen, ohne den Wettbewerb zu verzerren.
IM+io: Wo Gegenstände vernetzt werden und miteinander kommunizieren, fließen Datenströme. Sensible Informationen müssen insbesondere während der Kommunikationsprozesse vor Diebstahl und Manipulation geschützt werden. Kann die Industrie auch langfristig die Datensicherheit gewährleisten?
DK: Eins vorweg: 100-prozentiger Schutz vor Datendiebstahl und -manipulation ist nicht möglich. Und fast 70 Prozent aller Unternehmen in Deutschland wurden in den vergangenen zwei Jahren Opfer von Cyberangriffen. Dies hat Auswirkungen auf Produktionsprozesse und das Image jedes einzelnen Unternehmens, aber auch auf „Made in Germany“. Deshalb sind die allermeisten deutschen Unternehmen stark bestrebt, die Daten von Kunden, Geschäftspartnern und Unternehmensprozessen vor dem unerlaubten Zugriff Dritter zu schützen. Cybersicherheit muss künftig jedoch noch stärker als bisher zum Marken-Charakteristikum deutschen Unternehmertums werden. Hierfür müssen die Unternehmen folgendes tun: Zum ersten muss IT-Sicherheit Chefsache sein. Die Führungsetage eines Unternehmens muss Cybersicherheit als notwendige Voraussetzung für jede erfolgreiche Geschäftsbeziehung sehen. Das bedeutet auch, finanzielle Ressourcen in die Cybersicherheits-Infrastruktur eines Unternehmens zu investieren. Zweitens ist es notwendig eine IT-Sicherheitskultur in Unternehmen aufzubauen. Es bedarf kontinuierlicher Mitarbeiterschulungen. Mitarbeiter sind an fast der Hälfte aller Cybersicherheitsvorfälle in Unternehmen beteiligt – bewusst oder unbewusst. Und drittens sollten Unternehmen Security-by-design, also das Mitdenken von Cybersicherheitsanforderungen im Konstruktionsprozess, in ihren betrieblichen Prozessen etablieren. Durch eine Mitgliedschaft in der Allianz für Cybersicherheit beim Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) können die Unternehmen zusätzlich durch Erfahrungsaustausch untereinander und mit Behörden profitieren. Darüber hinaus haben der BDI und das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat kürzlich das Bündnis für Cybersicherheit gegründet. Damit wollen wir die Cyberresilienz des Standorts Deutschland nachhaltig steigern. Angesichts der Exportstärke deutscher Unternehmen werden wir ein Forum zwischen Bundesbehörden und Vertretern der Wirtschaft zum Austausch über internationale Cybersicherheitsfragen einrichten. Ziel ist es, gegenüber Drittstaaten und in internationalen Institutionen besser abgestimmte Positionen zu Cybersicherheits-Themen zu vertreten und deutsche Unternehmen vor einseitigen Benachteiligungen zu schützen.
IM+io: Viele heute noch erfolgreicher Industriebetriebe gehören zum Mittelstandssegment, wo man sich tendenziell eher von der Digitalisierung bedroht fühlt. Was muss sich hier ändern?
DK: Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass die meisten mittelständischen Unternehmen die Digitalisierung als Chance begreifen. Der Anteil an Mittelständlern, der die Digitalisierung als eine Bedrohung für das eigene Unternehmen sieht, ist verschwindend gering – das belegt die jüngste Studie der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft Ernst & Young zur Digitalisierung im deutschen Mittelstand.
Trotzdem dürfen kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) bei der digitalen Transformation nicht alleine gelassen werden. Die Anpassungsprozesse für den Mittelstand stellen eine besonders große Herausforderung dar. Passgenaue und bedarfsgerechte Unterstützungsangebote für KMU sind für eine erfolgreiche Digitalisierung der deutschen Wirtschaft entscheidend. Die Mittelstand-4.0-Kompetenzzentren, die im Rahmen der Mittelstands-Digital-Initiative des Bundeswirtschaftsministeriums ins Leben gerufen wurden, sind ein hervorragendes Beispiel für maßgeschneiderte Unterstützungsangebote an den Mittelstand. Die mittlerweile mehr als 20 Zentren decken ein breites Spektrum an Digitalisierungsthemen ab. Sie sind aufgrund ihrer Präsenz in der Fläche für KMU in ganz Deutschland gut zu erreichen. Unternehmer sollten dieses Angebot unbedingt nutzen und vom umfangreichen und praxisnahen Know-how profitieren.
IM+io: Muss die Politik eine stärkere Rolle übernehmen, um die Chancen von Industrie 4.0 so ergreifen zu können, dass der Standort Deutschland in der Top-Liga „spielen“ kann?
DK: Die Politik sollte keine stärkere Rolle übernehmen, sondern ihre jetzige besser ausfüllen. Schließlich wollen wir Marktwirtschaft und keine staatlich gelenkte Wirtschaft wie in China. Aufgabe der Politik ist es, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sich Industrie-4.0-Lösungen und digitale Innovationen frei entfalten. Leider sind einige politische Initiativen schlecht durchdacht, etwa die geplante Digitalsteuer. Weil einzelne prominente US-Konzerne zu wenig Steuern in Europa zahlen, will der Fiskus alle Internetunternehmen stärker zur Kasse bitten. Gerade für Deutschland dürfte die Digitalsteuer zum gefährlichen Bumerang werden. Sie führt zu einer Doppelbesteuerung und würde der deutschen Industrie, die gerade mitten im Prozess der digitalen Transformation ihrer Geschäftsmodelle steht, eher schaden als nutzen. Die zusätzliche Steuer bedroht alle Branchen. Statt die Unternehmen jetzt in ihrer Innovationskraft auszubremsen, brauchen Deutschland und Europa einen anderen Ansatz, der auf Wettbewerb und die Anwendbarkeit von neuen Geschäftsmodellen setzt. Statt schädliche neue Steuermodelle in die Welt zu setzen, muss die Politik den schleppenden Breitbandausbau vorantreiben und echte Anreize für private Investitionen in die digitale Transformation der Industrie geben. Nur so spielt unser Standort beim Thema Digitalisierung dauerhaft in der Top-Liga.
IM+io: Viele der wertvollsten Welt-Unternehmen sind als B2C-Plattformunternehmen erfolgreich, meist ohne eigene Assets, sondern als Vermittler von Leistungen. Inzwischen ist aber auch die deutsche Industrie auf dem Weg in die Plattformökonomie, allerdings im B2B-Bereich. Wie verändern solche Plattformen künftig unsere Wirtschaft?
DK: Die Vorteile von digitalen Plattformen für Unternehmen liegen auf der Hand. Sie schaffen Synergien zwischen Marktteilnehmern, senken Transaktionskosten in Unternehmen und ermöglichen neue Dienstleistungen und Geschäftsmodelle. Dabei sind ihre Einsatzfelder so vielfältig wie die deutsche Industrie selbst. Firmen im Maschinen- und Anlagenbau nutzen digitale Industrieplattformen, um Maschinendaten zu sammeln und auszuwerten, zum Beispiel für die vorausschauende Wartung. Die Logistikbranche verwendet sie, um die Transparenz in der Lieferkette zu erhöhen und Anbieter von Logistikdienstleistungen mit Nachfragern zusammenzuführen. Mittelständische Unternehmen – egal welcher Branche – können digitale Plattformen auch nutzen, um Einkaufsprozesse zu optimieren.
IM+io: Besteht nicht gerade in der Plattformökonomie die große Gefahr von Monopolbildungen? Bereits heute wird schließlich auf nationaler und europäischer Ebene über die Notwendigkeit einer stärkeren Regulierung von Plattformen heftig diskutiert…
DK: Wenn es um den B2C-Bereich geht, teile ich Ihre Einschätzung. Viele große Konzerne, gerade aus den USA und China, verfügen über eine teils marktbeherrschende Stellung. Doch Unternehmen dafür zu kritisieren, dass sie dank attraktiver Angebote so erfolgreich sind, widerspricht marktwirtschaftlichen Grundsätzen. Trotzdem sollten erfolgreiche Unternehmen sich kritischen Fragen nach ihrem Selbstverständnis stellen. Schließlich hängt der langfristige wirtschaftliche Erfolg dieser Unternehmen von der gesellschaftlichen Akzeptanz ab.
Die Europäische Kommission hat im Frühjahr auf diese Entwicklung mit der Veröffentlichung eines Verordnungsvorschlages zur Stärkung von Fairness und Transparenz für gewerbliche Nutzer von Online-Plattformen reagiert. Dabei hat die Kommission digitale Plattformen, die im reinen Geschäftskundengeschäft aktiv sind, explizit ausgeklammert. Ich halte dieses Vorgehen für richtig. Erstens ist das Informationsungleichgewicht zwischen Plattformbetreibern und Plattformnutzern im B2B-Kontext deutlich geringer. Beispielsweise handeln sie ihre Vertragsbeziehungen individuell aus. Zweitens sind reine B2B-Plattformen hochgradig sektoral spezifisch. Drittens gibt es eine sehr große Anzahl an Plattformen im Industriekontext, die ein ähnliches Leistungsspektrum anbietet. Hier erwarten Experten in den kommenden Jahren eine Konsolidierungsphase. Ob es dann wirklich einer stärkeren Regulierung von Plattformen bedarf, bleibt abzuwarten.
IM+io: Welche Rolle nimmt der BDI selbst bei dem Weg der deutschen Industrie in eine vernetzte Welt ein?
DK: Der BDI versteht sich als Mittler zwischen Wirtschaft und Politik. Unsere Aufgabe ist es, die Interessen der deutschen Industrie an die Politik zu transportieren. Zusammen mit unseren Mitgliedsverbänden entwickeln wir Ideen, wie wir in Deutschland den geeigneten Nährboden für die digitale Transformation schaffen. Das umfasst sämtliche Themenfelder der Digitalisierung, vom Ausbau der Gigabitnetze über die Ausgestaltung des Wettbewerbsrechts bis hin zur Förderung von innovativen Start-ups. Wir wollen die Stärke unserer deutschen Industrie sichern und so Wohlstand für alle bewahren und neue Chancen schaffen.