Demokratie im Datenstrom:
Wie viel Regulierung braucht das Netz?
Felix Sühlmann-Faul, Weizenbaum-Institut e.V.

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Kurz und Bündig
Digitale Plattformen prägen immer stärker Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie. Ihre Macht basiert auf komplexen Datenstrukturen und neuen Formen der Governance. Regulierungen wie DSA und DMA zielen darauf ab, Verantwortung und Kontrolle zu stärken. Plattformräte und Open Data gelten als Ansätze für mehr demokratische Mitbestimmung. Europas digitale Souveränität ist eine entscheidende Zukunftsfrage zwischen technischer Innovation und politischer Kontrolle.
Über Nacht können einzelne Plattformen die Spielregeln im Netz verändern – mit weitreichenden Folgen für Debatten, Wirtschaft und politische Teilhabe. Welche Machtverhältnisse bestimmen das digitale Zusammenleben wirklich, und wie lässt sich Kontrolle zwischen Gemeinwohl und Innovation neu aushandeln?
Die rasante Entwicklung digitaler Plattformen hat fundamentale Fragen zur gesellschaftlichen Einbettung und Regulierung datengetriebener Geschäftsmodelle aufgeworfen. Während diese Technologien neue Möglichkeiten für Innovation und gesellschaftliche Teilhabe eröffnen, entstehen gleichzeitig Machtstrukturen, die demokratische Grundprinzipien herausfordern und neue Formen der Governance erfordern. Unter Governance versteht man dabei die Art und Weise, wie Regeln und Entscheidungen in Organisationen oder Gesellschaften festgelegt, umgesetzt und überwacht werden.
Hybride Ordnungsstrukturen und Legitimationsprobleme
Ein zentraler Aspekt der Macht digitaler Plattformen besteht in ihrer Funktion als hybride Ordnungsakteure, die sowohl private als auch öffentliche Funktionen übernehmen. Diese Plattformen fungieren simultan als Regelsetzende, Regelanwendende und Richtende – eine Machtkonzentration, die konträr zu demokratischen Prinzipien der Gewaltenteilung steht. Sie legen damit den Grundstein für eine privatwirtschaftlich verfasste Gesellschaft im Internet und etablieren sich als wesentliche Infrastruktur für zivilgesellschaftliches Engagement und soziale Teilhabe.
Das fundamentale Problem liegt in der Entstehung hybrider Governance-Strukturen, die sich traditionellen demokratischen Kategorien entziehen. Diese selbstinstutionalisierten Ordnungen regulieren heute wesentliche Teile der öffentlichen Kommunikation, ohne dass ihre Nutzer:innen oder die Gesellschaft als Ganzes demokratische Kontrolle über diese Entscheidungen ausüben könnte. Als unausweichliche Brücke zwischen Nutzer:innen und Inhalten bestimmen sie durch algorithmische Kuratierung, welche Informationen sichtbar werden und wie sich öffentliche Debatten entwickeln.
Die Analyse der digitalen Plattformen offenbart, dass ihre Macht nicht allein auf der Marktbeherrschung, sondern auf einer Vielzahl struktureller Faktoren beruht, die über den klassischen Markt hinausgehen. Die Kontrolle über Dateninfrastrukturen manifestiert sich als ein weiteres zentrales Machtinstrument, das die Art und Weise bestimmt, wie öffentliche Informationen abgerufen, interpretiert und weiterverwendet werden können. Diese Entwicklung resultiert in einer Verfestigung sozialer Milieus und einer Verstärkung gesellschaftlicher Spaltungen.
Die Konzentration der Marktmacht bei einer geringen Anzahl von Akteuren führt zur Entstehung neuer Formen der Abhängigkeit. Die Möglichkeit der Teilnahme am Austausch wird durch die Handlungen von Konzernen und deren CEOs bestimmt, deren Interessen zum Teil von rechtsradikalen oder autoritären Kräften beeinflusst oder bestimmt werden. Diese Entwicklung zeigt sich exemplarisch in der signifikanten Unterstützung, die Elon Musk mit seiner Plattform X (ehemals Twitter) für Donald Trump und rechtsradikale Parteien in Europa leistet.
Geopolitische Dimensionen digitaler Machtstrukturen
Die Kontrolle über digitale Infrastrukturen ist zu einem zentralen Faktor geopolitischer Macht geworden. Europas Abhängigkeit von außereuropäischen Technologieanbietern bedroht nicht nur die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch die politische Handlungsfähigkeit. Die strukturelle Abhängigkeit wird deutlich angesichts der Tatsache, dass europäische Unternehmen beinah gänzlich digitale Technologien importieren und nur zu einem Bruchteil exportieren. Diese Abhängigkeit von US-amerikanischen und chinesischen Technologieanbietern ist eine Gefahr für die Souveränität und Demokratie Europas. Das Problem zeigt sich noch deutlicher angesichts der zunehmend engen Verflechtung zwischen Tech-Konzernen und politischen Akteuren – was sich unter anderem in der Drohung der neuen US-Administration, entsprechende Regulierung in der EU durch vergeltende Maßnahmen in anderen Politikfeldern zu beantworten, zeigt.
Regulierungsparadigmen: DSA und DMA als Wendepunkt
Apropos Regulierung: Die Europäische Union hat mit dem Digital Services Act (DSA) und dem Digital Markets Act (DMA) ein neues Regulierungsparadigma geschaffen, das die Macht der Plattformen systematisch begrenzen soll. Der DSA etabliert Sorgfaltspflichten für Plattformen, die je nach Größe und Einfluss gestaffelt sind. Von sehr großen Online-Plattformen werden systematische Risikobewertungen für die Verbreitung rechtswidriger Inhalte, die Auswirkungen auf Grundrechte, demokratische Prozesse und die öffentliche Sicherheit gefordert.
Der DMA adressiert „Gatekeeper“-Unternehmen, die einen erheblichen Einfluss auf den Binnenmarkt ausüben, und unterwirft sie spezifischen Verpflichtungen in Bezug auf Datenportabilität, Interoperabilität und das Verbot der Selbstbevorzugung. Diese Regulierungsansätze markieren einen paradigmatischen Wandel und etablieren eine Rechtslogik des analogen Raums im digitalen Raum.
Vereinfacht gesagt, kann man sich den DSA als eine Art Sicherheitsnetz für Nutzer:innen vorstellen, das digitale Plattformen dazu verpflichtet, Verantwortung für Inhalte und Abläufe zu übernehmen. Der DMA hingegen ist wie eine Schiedsrichterin auf dem digitalen Spielfeld, die sicherstellt, dass große Anbietende ihre Marktmacht nicht unfair ausnutzen und andere Marktteilnehmer:innen nicht benachteiligt werden.
Demokratische Governance-Innovationen
Plattformräte gelten als vielversprechender Ansatz, um private Plattform-Governance demokratisch zu legitimieren. Sie sollen als Schnittstelle zwischen Staat, Plattformen und Zivilgesellschaft dienen und demokratische Werte in unternehmensinterne Entscheidungen einbringen. Plattformräte können Wissen bündeln, zivilgesellschaftliche Debatten fördern oder verschiedenste gesellschaftliche Gruppen – auch bislang marginalisierte – an der Gestaltung des digitalen Kommunikationsraums beteiligen, ohne ihre Handlungsfähigkeit zu verlieren.
Plattformräte sind ein Beispiel partizipativer Governance-Ansätze, die darauf abzielen, einzelne Bürger:innen, aber ebenfalls Interessen von Organisationen bei Fragen der Gestaltung und Entscheidungsfindung einzubeziehen. Während die praktische Umsetzung partizipativer Governance-Ansätze für digitale Plattformen noch am Anfang steht, zeigen erste erfolgreiche Beispiele, dass eine gemeinschaftliche Verwaltung ein wichtiger Stützpfeiler gemeinwohlorientierter Digitalpolitik darstellt.
Die Wikipedia als „Projekt des freien und offenen Internets“ nutzt zur Entscheidungsfindung eine hierarchisch und demokratisch strukturierte Community. Die Mozilla Foundation (Firefox, Thunderbird) besitzt ein „Community Participation Guidelines Committee“, das als internes Plattformrat-ähnliches Organ über Moderation, Konfliktlösung und Richtlinienentwicklung im offenen Entwicklungsprozess wacht. Die OpenStreetMap Foundation, Trägerin des globalen Open-Source-Kartendienstes, hat eine auf Konsensbildung, offene Wahl und partizipative Gremien gestützte Governance-Struktur und demonstriert, wie Community-basierte Governance funktionieren kann.
Kurz gesagt: Plattformräte bringen verschiedene Perspektiven zusammen und sorgen dafür, dass bei wichtigen Entscheidungen auf digitalen Plattformen nicht nur Unternehmen, sondern auch Nutzer:innen und die Gesellschaft mitreden können. So werden mehr Fairness und Mitbestimmung im digitalen Raum ermöglicht.
Gesellschaftliche Einbettung und demokratische Kontrolle
Die gesellschaftliche Einbettung von Algorithmen wirft ebenfalls neue Fragen demokratischer Kontrolle auf. Sie sind inzwischen unbestreitbar zu einem wichtigen Teil der gesellschaftlichen Sozialstruktur geworden, indem sie die Struktur aller sozialen Prozesse, Interaktionen und Erfahrungen beeinflussen. Daher muss die Gestaltung von Algorithmen als gesellschaftliche Aufgabe verstanden werden, die demokratische Partizipation und gesellschaftliche Verantwortung erfordert. Eine differenzierte und vielfältige Debatte über Algorithmen erfordert folglich auch mehr zivilgesellschaftliches Engagement. Politik und Verwaltung müssen durch eine proaktive, inklusive und differenzierte Kommunikation für mehr Vielfalt im Algorithmen-Diskurs sorgen. Die Entwicklung demokratischer Datenpraktiken ist zentral für die gesellschaftliche Einbettung digitaler Plattformen. Open Data steht für die Idee, Daten öffentlich, frei und nutzbar zu machen. Es geht um eine Demokratisierung des Wissens. Und da die Kontrolle über Daten ein Machtinstrument ist, muss sich eine innovative Datenpolitik daran messen lassen, wie sehr sie den Nutzen von Daten und Innovation für das Gemeinwohl fördert.
Die wachsende Mobilisierung der Zivilgesellschaft für eine demokratische Kontrolle digitaler Infrastrukturen zeigt, dass das Bewusstsein für die Problematik zunimmt. Das Bündnis „Plattformregulierung jetzt“, das aus über 75 Organisationen wie dem Chaos Computer Club, AlgorithmWatch, HateAid oder dem Deutschen Gewerkschaftsbund besteht, fordert die Politik auf, die Kontrolle von Online-Plattformen und eine gemeinwohlorientierte Digitalisierung zu priorisieren.
Diese Organisationen betonen, dass „die problematische Verquickung von politischer, medialer und ökonomischer Macht im Bereich von digitalen Plattformen“ eine Bedrohung für die Demokratie darstellt. Sie fordern eine „konsequente Durchsetzung bestehender Digitalregeln“, das „Schließen regulatorischer Lücken“ und die „gezielte Stärkung von gemeinwohlorientierten Plattform-Alternativen“.
Algorithmen und Daten bestimmen immer stärker, wie wir online leben und kommunizieren. Damit das fair und im Sinne aller abläuft, braucht es klare Regeln, mehr Mitbestimmung und eine Politik, die digitale Macht kontrolliert und für das Gemeinwohl einsetzt.
Ausblick: Digitale Souveränität als letzter Ausweg zwischen Regulation und Partizipation
Die gesellschaftliche Einbettung und Regulierung datengetriebener Plattformen befinden sich an einem kritischen Wendepunkt. Digitale Souveränität – die Fähigkeit von Individuen und Institutionen, ihre Rolle in der digitalen Welt selbstständig und selbstbestimmt auszuüben – ist spätestens seit der zweiten Trump-Administration keine vage Zukunftsvision von Idealist:innen mehr, sondern eine dringende strategische Notwendigkeit. Die Nutzung von Hard- und Software ist zu einer politischen Frage geworden.
Während rechtliche Regulierungsansätze wie DSA und DMA wichtige Schritte darstellen, zeigen partizipative Governance-Ansätze wie Plattformräte neue Wege für demokratische Kontrolle auf. Die Herausforderung besteht darin, effektive Mechanismen zu entwickeln, die sowohl die Macht der Plattformen begrenzen als auch demokratische Teilhabe ermöglichen. Dies erfordert eine Kombination aus rechtlicher Regulierung, technischen Standards und partizipativen Governance-Strukturen.
Europas letzte Chance eines dritten Wegs zwischen den USA und China liegt darin, digitale Souveränität auszubauen und eigene Standards zu setzen, statt sich anderen zu unterwerfen. Die gesellschaftliche Einbettung digitaler Plattformen ist dabei nicht nur eine technische, sondern vor allem eine politische Aufgabe, die demokratische Partizipation und gesellschaftliche Verantwortung erfordert.
Nur wenn wir digitale Souveränität als Voraussetzung für politische Handlungsfähigkeit begreifen und entsprechend handeln, können wir die ubiquitäre Vernetzung demokratisch gestalten. Die Entscheidung über diese Weichenstellung ist eine Entscheidung über die Zukunft von uns allen. Jetzt.