Datenpunkte, Wendepunkte:
Die Industrie auf dem Weg zum Klima-Vorsprung
Yajing Chen, Ann-Katrin Müller, Agnetha Flore, AWSi

(Titelbild: © Adobe Stock | 1188575836 | Tin )
Kurz und Bündig
Die Fertigungsindustrie verursacht ein Viertel aller direkten und gemeinsam mit dem Bausektor mehr als 50 Prozent der weltweiten CO₂-Emissionen. Lebenszyklusanalysen decken Emissionsquellen entlang der gesamten Wertschöpfungskette auf, Scope-3-Emissionen machen dabei bis zu 90 Prozent des CO₂-Fußabdrucks aus. Künstliche Intelligenz und Digitale Zwillinge ermöglichen Echtzeitüberwachung, vorausschauende Prozessoptimierung und automatisiertes ESG-Reporting. Investitionen in Energieeffizienz rechnen sich, offene Datenstandards und dynamische Steuerung beschleunigen die Transformation zur klimafreundlichen Produktion.
Im Maschinenraum moderner Fabriken summen Sensoren, Algorithmen überwachen Energieströme und Digitale Zwillinge simulieren ganze Produktionslinien. Immer mehr Prozesse laufen datenbasiert, während ökologische Ziele und gesetzliche Vorgaben den Takt bestimmen. Was passiert, wenn Künstliche Intelligenz und Echtzeitdaten die Industrie dazu bringen, über Klimaschutz und Wirtschaftlichkeit ganz neu nachzudenken?
Angesichts zunehmend verschärfter Klimaziele sowie des doppelten Drucks durch Politik und Markt befindet sich die Fertigungsindustrie im Wandel von einer „kohlenstoffintensiven“ hin zu einer „grünen und intelligenten“ Produktion. Daten und Künstliche Intelligenz (KI) entwickeln sich dabei zunehmend zum zentralen Motor dieses Prozesses und ermöglichen die praktische Umsetzung von Lebenszyklusanalysen (LCA), Scope-3-Management, Echtzeit Emissionsüberwachung und Energiewende. Der Beitrag zeigt anhand von Fallbeispielen, wie Daten und KI zur CO₂-Reduktion und Effizienzsteigerung in der Industrie beitragen – und skizziert konkrete Umsetzungspfade.
Das große Bild: Warum „Daten × Klima“ unvermeidlich ist
Die Industrie verursacht weltweit einen erheblichen Teil der CO₂-Emissionen: Laut Internationaler Energieagentur stammen rund ein Viertel der Emissionen direkt aus der Industrie. Mit indirekten Emissionen aus der Stromerzeugung verantworten Industrie und Bau gemeinsam mehr als die Hälfte aller Emissionen [1][2]. Der IPCC-Bericht zeigt: 2019 verursachte der Industriesektor 14,1 Gigatonnen CO₂-Äquivalente direkt, mit indirekten Emissionen sind es 20 Gigatonnen, etwa ein Drittel der globalen Emissionen [3].
Die Dekarbonisierung der Industrie schreitet voran, bleibt aber anspruchsvoll. Trotz eines Emissionsrekords im Energiesektor 2024 gingen die industriellen Emissionen um 2,3 Prozent zurück, bedingt durch eine schwache Baukonjunktur und geringere Zementproduktion. Dennoch liegen die Emissionen weiterhin über dem Zielpfad für Net Zero [4]. Auch der regulatorische Druck wächst: Die Erweiterung des EU-CO₂-Grenzausgleichsmechanismus und die Pflicht zur Offenlegung von Scope-3-Emissionen erhöhen die Anforderungen an Unternehmen. Eine Analyse zeigt, dass 57 Unternehmen für 80 Prozent der fossilen Emissionen verantwortlich sind [5].
Zugleich steigt die Nachfrage nach klimafreundlichen Produkten. Laut COP28-Bericht verhindert fehlende Transparenz bei der Nachfrage nach klimakompatiblen Projekten Investitionen von bis zu 700 Milliarden US-Dollar [6]. Wer Klimastrategie, Datenbasis und Emissionsziele klar kommuniziert, kann sich als bevorzugte Ansprechperson für Investierende und Kundschaft positionieren.
Produktperspektive: LCA als Basis für transparente Scope 3
Die Lebenszyklusanalyse (LCA) betrachtet die Umweltauswirkungen eines Produkts über alle Phasen – von Rohstoffgewinnung bis Entsorgung. Laut Analysen verursachen die Fertigungs- und Bauindustrie gemeinsam 57 Prozent der weltweiten CO₂-Emissionen [2]. Mit einer LCA lassen sich zentrale Emissionsquellen in der Wertschöpfungskette identifizieren und gezielt optimieren.
Zur Emissionsbilanzierung werden drei Kategorien unterschieden: Scope 1 sind direkte Emissionen aus dem eigenen Betrieb, Scope 2 indirekte Emissionen durch zugekaufte Energie, Scope 3 umfasst alle weiteren Emissionen aus Vorleistungen, Transport und Nutzung. Scope 3 ist besonders relevant, da laut Climatiq bis zu 90 Prozent des CO₂-Fußabdrucks eines Unternehmens darauf entfallen können [7]. Künstliche Intelligenz unterstützt dabei, komplexe Lieferkettendaten effizient zu erfassen und auszuwerten.
Bei umweltfreundlichen Alternativen wie biobasierten Materialien zeigen sich oft höhere Anschaffungskosten, jedoch weist die LCA nach, dass sie langfristig günstiger sein können. Investitionen in Energieeffizienz rechnen sich ebenfalls: Jeder investierte Dollar erzielt laut Studien im industriellen Bereich eine Rendite von zwei- bis vierfacher Höhe [8].
Prozessperspektive: Echtzeitdaten & intelligente Emissionssteuerung
Digitale Systeme ermöglichen der Industrie eine präzisere Steuerung von Emissionen. Vernetzte IoT-Sensoren erfassen kontinuierlich Daten im Produktionsprozess; mit Edge-Computing und Cloud-Plattformen können Energieverbrauch und Emissionen in Echtzeit überwacht und frühzeitig reguliert werden. Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz in Kombination mit IoT kann laut Studien den Energieverbrauch in der Produktion um bis zu 30 Prozent senken [8].
Digitale Zwillinge – virtuelle Abbilder von Anlagen oder Prozessen – prognostizieren Verbrauchsspitzen, analysieren Sensordaten und schlagen Optimierungen vor. So konnte ArcelorMittal durch Digitale Zwillinge die CO₂-Emissionen im Hochofenbetrieb um 4 Prozent senken; Nippon Steel reduzierte Stillstände um 20 Prozent [9]. Besonders in der Stahlindustrie, die für etwa 7 bis 9 Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich ist, bieten diese Technologien großes Potenzial [10].
Für eine umfassende Nachhaltigkeit werden über sogenannte Impact-KPIs nicht nur CO₂, sondern auch Wasserverbrauch, Abfall, Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und Biodiversität bewertet, um betriebliche Entscheidungen zielgerichtet zu steuern.
KI-gestütztes ESG: Von Daten zu Entscheidungen
Künstliche Intelligenz übernimmt im Bereich ESG – das steht für Environmental, Social und Governance, also Umwelt, Soziales und Unternehmensführung – zunehmend eine zentrale Rolle bei der Nutzung und Auswertung von Daten. Ein Beispiel ist die automatisierte Datenbereinigung: KI kann fehlende oder widersprüchliche Sensordaten innerhalb von Sekunden erkennen und korrigieren, während dieser Vorgang manuell oft Stunden dauern würde. Auch für die Emissionsprognose und Prozessoptimierung wird KI genutzt: Informationen wie die aktuelle Auftragslage, Wetterdaten oder der Zustand von Maschinen fließen in die Planung des Energiebedarfs und der Produktion ein und ermöglichen so eine vorausschauende Steuerung. Im Bereich der Berichterstattung unterstützen große Sprachmodelle – eine spezielle Form der KI, die natürliche Sprache verarbeitet – die automatische Erstellung von ESG-Berichten. Sie können Entwürfe für mehrsprachige Reportings generieren und so den redaktionellen Aufwand deutlich reduzieren. Wichtig bleibt jedoch: Diese Systeme sind als Unterstützung gedacht und ersetzen keine vollständige, sorgfältige Prüfung durch Expertinnen und Experten.
Zukunftsbild: Energiewende & dynamisches CO₂-Management
Im Zuge der Energiewende spielen erneuerbare Energien wie Photovoltaik (PV) und Windkraft eine immer größere Rolle. Weltweit wachsen diese Technologien jährlich um etwa sechzehn bis achtundzwanzig Prozent [11]. Dennoch steigt der globale Energiebedarf weiter an, sodass neue Kapazitäten an erneuerbaren Energien meist zusätzlich zum bestehenden fossilen Energiemix aufgebaut werden, anstatt diesen vollständig zu ersetzen. In der Industrie zeigen sich dennoch deutliche Fortschritte: Mikronetze und Photovoltaik-Anlagen verringern den Energieverbrauch von Fabriken durchschnittlich um rund fünfzehn Prozent pro Jahr.
Ein weiterer vielversprechender Ansatz zur Emissionsreduktion ist die CO₂-Abscheidung, Nutzung und Speicherung – kurz CCUS (englisch für Carbon Capture, Utilization and Storage). So konnte das Unternehmen Seabound in Pilotprojekten mit einem speziellen System zur CO₂-Abscheidung von Schiffsemissionen bis zu achtundsiebzig Prozent der Emissionen eliminieren – ein bedeutender Fortschritt für die maritime Branche [12]. Allerdings steckt diese Technologie global noch in den Kinderschuhen: Derzeit gibt es weltweit nur etwa fünfundvierzig Anlagen zur CO₂-Abscheidung, die insgesamt rund fünfzig Millionen Tonnen CO₂ pro Jahr auffangen – das ist lediglich ein kleiner Teil der globalen Gesamtemissionen [13].
Ein wichtiger Schritt für die Zukunft ist der Wandel von einer rein statischen Emissionsbilanzierung hin zu einer dynamischen Steuerung. Weil die CO₂-Intensität des Stromnetzes stark schwanken kann, sind industrielle Verbraucher heute in der Lage, ihre Energieabnahme flexibel zu steuern und gezielt erneuerbare Energiequellen wie grünen Wasserstoff oder Ökostrom zu priorisieren. Das sogenannte dynamische Carbon Accounting – also die Emissionsbilanzierung in Echtzeit – ermöglicht es Unternehmen, ihren Energiebezug und die Emissionsvermeidung fortlaufend zu optimieren. Trotzdem bleibt die Integration von CCUS bislang ein Nischenthema, das noch eine stärkere Verankerung in industriellen Wertschöpfungsketten benötigt.
Ganzheitliche Umsetzung: Roadmap & Erfolgsfaktoren
Für die erfolgreiche Umsetzung von Dekarbonisierungsmaßnahmen empfiehlt sich ein klar strukturierter Fahrplan, der alle Schritte aufeinander aufbaut. Am Anfang steht die Ist-Analyse: Unternehmen prüfen zunächst ihr Emissionsinventar und identifizieren alle verfügbaren Datenquellen. Im nächsten Schritt wird eine digitale Infrastruktur aufgebaut, etwa durch ein CO₂-Dashboard für die Visualisierung von Emissionsdaten und einen Data Lake, der große Datenmengen aus verschiedenen Quellen bündelt.
Zur Optimierung der Prozesse kommen Digitale Zwillinge – also virtuelle Abbilder von Anlagen oder Prozessen – sowie KI-Modelle zum Einsatz, die laufend Verbesserungsvorschläge liefern. Entscheidend ist ein iterativer Ansatz, bei dem Leistungskennzahlen (KPIs) verknüpft und Feedback-Schleifen genutzt werden, um kontinuierlich zu lernen und sich weiterzuentwickeln.
Organisatorisch ist es wichtig, klare Zuständigkeiten zu definieren: Die IT-Abteilung ist für die Systemarchitektur zuständig, der Betrieb für die Datenpflege, der Einkauf für die Zusammenarbeit mit Lieferanten und das ESG-Management (Umwelt, Soziales und Unternehmensführung) für die Ziele und Kennzahlen. Anreizsysteme, bei denen Umweltleistung Boni oder die Lieferantenbewertung beeinflusst, gewinnen an Bedeutung – so werden ESG-Kennzahlen wie CO₂-Intensität, Energieeffizienz oder Recyclingquote zunehmend in Vergütungsmodelle und die Auswahl von Geschäftspartnern eingebunden.
Ein weiterer Erfolgsfaktor ist die Nutzung offener Standards und Schnittstellen (APIs), um Daten mit Beteiligten oder auf Branchenplattformen – wie etwa dem digitalen Produktpass – zu teilen. Zusätzlich empfiehlt sich die Vernetzung über regionale und branchenspezifische Netzwerke, um vom Erfahrungsaustausch zu profitieren und gemeinsame Lösungen zu entwickeln.
Fazit und Ausblick
Daten machen Nachhaltigkeit in der Industrie umsetzbar. Unternehmen werden zu aktiven Umweltgestaltenden: Künstliche Intelligenz und Expert:innenenwissen führen zu flexiblen, nachhaltigen Produktionsprozessen. Echtzeitdaten ermöglichen dynamisches Reagieren auf Stromnetz und Emissionen, offene Standards fördern Zusammenarbeit. Wer heute gezielt Daten nutzt, stärkt Wettbewerbsfähigkeit und schützt das Klima nachhaltig.