Das kollektive (Ver-)Lernen –
Wenn Veränderung zur Übungssache wird
Georg Kraus, Kraus & Partner

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Kurz und Bündig
Veränderungen im Markt und in der Organisation verlangen von Beschäftigten neue Denk- und Verhaltensweisen. Kompetenzen entstehen und gehen verloren, wenn Aufgaben sich verändern oder wegfallen. Lernen und Verlernen sind zentrale Prozesse, die gezielt begleitet werden müssen. Kontinuierliche Entwicklung, Coaching und reflektierende Führung fördern eine Kultur, in der neue Routinen nachhaltig verankert und Veränderung eigenverantwortlich gestaltet wird.
Routine schenkt Sicherheit – bis Veränderungen alte Muster herausfordern. Neue Strukturen, andere Abläufe, unerwartete Wege fordern nicht nur Wissen, sondern auch das aktive Verlernen und die Bereitschaft, neu zu handeln. Wie gelingt es Beschäftigten und Führungskräften, ihre Gewohnheiten bewusst weiterzuentwickeln und dabei den eigenen Kompass für die Zukunft immer wieder neu zu justieren?
Wenn sich Unternehmen im Markt neu aufstellen und die Organisation verändern, stehen Mitarbeitende vor der Aufgabe, neue Denk- und Verhaltensmuster zu entwickeln. Unterstützung ist dabei entscheidend, damit sie wieder Sicherheit im Handeln gewinnen – beispielsweise durch das sogenannte Kata Coaching (eine strukturierte Methode zur Entwicklung neuer Routinen).
Unternehmen benötigen viele Kompetenzen, um auf Dauer erfolgreich zu sein. Mit ihrem Auf- und Ausbau sind zahlreiche Lernprozesse verbunden – auf der individuellen und organisationalen Ebene. Und damit einher gehen stets auch Prozesse des individuellen und organisationalen Verlernens – sei es, weil gewisse Aufgaben nicht mehr, seltener oder anders als bisher erledigt werden. Zum Beispiel,
- weil das Unternehmen sich neu im Markt positionierte und deshalb auch neu strukturierte oder
- weil aufgrund des technischen Fortschritts neue Formen der Leistungserbringung möglich sind und die Erwartungen der Kundschaft sich geändert haben.
Kompetenzen entstehen... und verschwinden
Beim Verlernen unterscheidet man zwischen erwünschten und unerwünschten Prozessen. Wie rasch ein Verlernen erfolgt, wissen alle, die schon mal bei einer PC-Schulung teilnahmen. Versucht man dann wenige Tage später nochmals dieselben Aufgaben zu lösen, die man gegen Ende der Schulung scheinbar im Schlaf beherrschte, stellt man oft erschreckt fest: „Ups, ich weiß ja gar nicht mehr, wie das geht.“
Ähnlich verhält es sich bei Aufgaben, die man tatsächlich beherrschte, für eine lange Zeit aber nicht mehr ausübte. Möchte oder muss man sie dann mal wieder erledigen, stellt man ebenfalls oft fest: „Ich kann das nicht mehr.“ Oder zumindest: „Ich benötige hierfür mehr Zeit als früher und muss stärker nachdenken.“
Ähnliche Prozesse finden auf der organisationalen Ebene von Unternehmen statt. Auch in ihnen verschwinden ungewollt immer wieder Kompetenzen, in denen sie ehemals „exzellent“ und deshalb zum Beispiel für Kund:innen attraktive Ansprechstellen waren – sei es im Bereich Projekt- oder Innovationsmanagement, Führung oder Vertrieb, Fokus auf die Kundschaft oder Service oder allgemein Problemlösung und Strategieumsetzung.
Eine zentrale Ursache hierfür ist: Viele Führungskräfte betrachten die Ausgaben in den Bereichen Aus- und Weiterbildung sowie Personal- und Kompetenzentwicklung als Investitionen. Das sind sie betriebswirtschaftlich gesehen auch. Sie haben jedoch einen anderen Charakter als Sachinvestitionen.
Kompetenz ist kein Haben-Posten in der Bilanz
Kauft ein Unternehmen zum Beispiel benötigte Maschinen oder Gebäude, dann kann es diese auf der Haben-Seite verbuchen. Zudem kann es in der To-do-Liste sozusagen einen Haken hinter dem Job „Maschinen anschaffen“ oder „Bürogebäude kaufen“ setzen, weil der Bedarf zumindest vorläufig gedeckt ist.
Anders ist es, wenn ein Unternehmen Mitarbeitende zum Beispiel im Bereich IT-Nutzung, Führung, Projektmanagement oder Marktbearbeitung schult. Dann ist die Sache damit nicht erledigt. Mit der Weiterbildung wird ein Feuer entfacht – es braucht jedoch stetige Impulse, damit es nicht schnell erlischt, sondern dauerhaft Wirkung zeigt
Dieses Nachlegen im Bereich Personal- und Kompetenzentwicklung ist auch nötig, weil in jedem größeren Unternehmen stets auch ein gewisser Personalwechsel erfolgt: Mitarbeitende kommen und gehen. Deshalb ist es, selbst wenn ein Unternehmen seine Angestellten intensiv zum Beispiel im Bereich Führung und Projektmanagement schulte, nicht garantiert, dass zwei, drei Jahre später noch alle Beschäftigten dasselbe Führungs- und Projektmanagement-Verständnis (und -Know-how) haben.
Ein solches Alignment, also allgemeines Commitment, bleibt nur bestehen, wenn das Unternehmen konsequent alle, die in der Organisation eine entsprechende Position oder Funktion neu übernehmen, schult.
Nicht das Wissen, das Können und Tun entscheiden
Weit entscheidender dafür, dass dieses Alignment in Betrieben oft nicht be- und entsteht, ist jedoch: Die Verantwortlichen berücksichtigen bei der Personalentwicklung nicht ausreichend, dass Wissen noch lange nicht Können und Können noch lange nicht Tun bedeutet. Damit das Wissen in Können und dieses wiederum in ein Tun umschlägt, sind ein regelmäßiges Erinnern und systematisches Einüben im Betriebs- und Arbeitsalltag nötig.
Das Unternehmen Toyota hat dies erkannt. Deshalb spielt in seiner Personalentwicklung das Kata Coaching eine zentrale Rolle. Dieses zielt darauf ab, im Bedarfsfall vorhandene Denk- und Verhaltensroutinen zu verlernen und neue zu erlernen. Dahinter steckt die Erkenntnis: Viele Abläufe und Prozesse in Unternehmen sind eine Konsequenz der Gewohnheiten, die sich deren Mitarbeitende im Verlauf vieler Jahre, teils sogar Jahrzehnte angeeignet haben. Sie wurden so oft wiederholt, dass sie sozusagen in der DNA der Beschäftigten verankert sind.
Entsprechend selbstverständlich werden sie ausgeführt, wenn Angestellte oder Teile der Organisation vor bestimmten Aufgaben stehen.
Solche Routinen genannten Denk- und Verhaltensgewohnheiten sind nichts Schlechtes. Im Gegenteil! Personen und Organisationen benötigen sie, um ihren Alltag zu meistern. Denn sonst würden sie endlos viel Zeit und Energie auf solche Alltagstätigkeiten wie das Zähneputzen verwenden. Oder im betrieblichen Kontext auf solche Alltagsaufgaben wie die Arbeitsplanung und Materialbeschaffung. Zudem sind sie im Betriebsalltag ein Garant dafür, dass gewisse Leistungen zuverlässig so erbracht werden, dass sie stets den definierten Qualitätsstandards entsprechen.
Zum Problem werden Gewohnheiten erst, wenn die damit verbundene Art, Aufgaben anzugehen und zu lösen, auch beibehalten wird, wenn aufgrund veränderter Rahmenbedingungen oder einer neuen strategischen Ausrichtung ein anderes Vorgehen nötig oder zielführender wäre. Dann werden die Abläufe zu einem Hemmschuh für die Entwicklung. Das heißt, die alten Routinen müssen verlernt und durch neue ersetzt werden.
Ziel: Routinen auch im Lösen von
„Problemen“ entwickeln
Routinen sind das Ergebnis eines längeren Prozesses des fortlaufenden Wiederholens und (Ein-)Übens. In der musikalischen Erziehung, also beispielsweise beim Erlernen des Klavier-spielens, ist dieses permanente Üben gang und gäbe. Ebenso im Sport. Turner trainieren gewisse Bewegungsabläufe so lange, bis sie diese verinnerlicht haben. Und danach wenden sie sich schwierigeren Übungen zu, sodass ihr Können sukzessiv steigt. Doch nicht nur dieses! Durch das regelmäßige Üben und Reflektieren, was wie noch besser gemacht werden kann, erwerben (angehende) Profisportschaffende und Berufsmusizierende zunehmend die Kompetenz, eigenständig ihre Leistung zu steigern. Sie werden sozusagen zum Coach ihrer eigenen Person.
Genau dieses bewusste Einüben von Gewohnheiten ist das Ziel des Kata Coaching. Und eine Kernaufgabe der Toyota-Führungskräfte ist es, ihre Mitarbeitenden als Coach in diesem Prozess zu unterstützen und zu begleiten. Das heißt: Sie geben keine Lösungen vor, sondern begleiten die Weiterentwicklung, sodass das gesamte Team die erforderlichen Kompetenzen selbstständig aufbauen kann. Durch diesen kontinuierlichen Prozess wächst das Selbstvertrauen, um auch größere oder komplexere Herausforderungen eigeninitiativ anzugehen.
Sich dem Idealbild Schritt für Schritt nähern
Um diese Kompetenz bei Menschen systematisch zu entwickeln, sind drei Dinge nötig:
- Die betreffende Person muss wissen, welches übergeordnete Ziel sie erreichen möchte. Sie benötigt eine Vision, wohin sie sich zu entwickeln wünscht.
- Sie muss wissen, was sie lernen sollte, um das angestrebte Ziel zu erreichen – also was ihre Lernfelder sind. Und:
- Sie muss einen Weg oder eine Methode kennen, um sich die noch fehlende Kompetenz anzueignen.
Genau diese drei Elemente findet man auch in der Toyota-Kata. Über allem schwebt die Nordstern genannte Vision von Toyota – das angestrebte Idealbild. Hieraus leitet sich die sogenannte Verbesserungs-Kata ab, mit deren Hilfe Toyota erreichen möchte, dass sich die Prozesse dem Idealzustand annähern. Und ihr zur Seite steht die Coaching-Kata, mit deren Hilfe Toyota die (Problemlöse-) Kompetenz seiner Mitarbeitenden systematisch ausbaut – in vielen kleinen Schritten und Projekten, die alle in Richtung Idealbild gehen.
Toyota praktiziert das beschriebene Coaching-Verfahren und das Verfahren zur Kompetenzentwicklung seit Jahrzehnten – unter anderem mit dem Ziel, die bereits vorhandene Kultur der kontinuierlichen Verbesserung noch stärker in die DNA der Mitarbeitenden und der Organisation zu verankern. Dahinter steckt die Erkenntnis:
Der Change- und somit Lernbedarf in den Unternehmen ist heute oft so groß und vielschichtig, dass er immer schwieriger top-down erfasst und gemanagt werden kann. Deshalb ist es wichtig, dass die Beschäftigten zu eigenverantwortlichen Gestaltenden ihrer Entwicklung werden. Sie sollen erkennen können,
- was angesichts des angestrebten Idealbilds erforderlich ist,
- wo bei ihnen noch Lern- oder Entwicklungsbedarf besteht – und wie sie diesen eigenständig decken können.
Führungskräfte sind Vorbilder auch beim (Ver-)Lernen
Der Aufbau einer Kultur gezielten individuellen und gemeinsamen Lernens sowie Verlernens braucht Zeit, Geduld und Aufmerksamkeit für Details. Zudem sind Führungskräfte gefragt, die
- sich als Coach und Lernbegleitung für das Team verstehen und
- sich aktiv mit den Beschäftigten sowie den Lern- und Entwicklungsprozessen in der Organisation auseinandersetzen.
Führungskräfte sollten ihr Verhalten regelmäßig reflektieren. Sonst wird Lern- und Veränderungsbereitschaft zwar eingefordert, aber nicht glaubwürdig vorgelebt. In solchen Fällen bleibt Coaching wirkungslos. Nach wie vor gilt: Führungskräfte haben eine Vorbildfunktion – insbesondere, wenn es darum geht, Einstellungen und Verhalten bei Bedarf selbst zu verändern.