IM+io: Herr Dr. Green, welche Ziele verfolgen Sie mit der Gründung von Affective Signals?
NG: Affective Signals wurde im März 2016 gegründet, die Entstehungsgeschichte begann aber deutlich früher: Ich war in der Forschung im Bereich Computational Neuroscience und Psychiatry involviert. Dahinter steckt die Vision, komputationale Modelle zu haben, die den Zustand psychischer Krankheiten verlässlich auf individueller Ebene beschreiben und den Effekt von Interventionen vorhersagen können. Dabei habe ich auch meinen Kollegen Prof. Timothy Brick kennengelernt. Der ist heute Assistant Professor an der Penn State University (PSU) und zugleich Minderheitsgesellschafter in unserem Unternehmen. Ich war schon damals fasziniert von den Affective Computing Methoden, die er angewendet hat, um Kommunikations- und Interaktionsverhalten zwischen Menschen objektiv zu beschreiben. Darin sehe ich ein großes Potential bei der Digitalisierung von Diagnostik und Therapie, vor allem im Bereich psychischer Gesundheit. Ich habe dann mit einer Kollegin einen Exist-Antrag geschrieben, bei dem es darum ging, für Autisten computerbasierte Therapieunterstützungsprogramme zum Training im Umgang mit Emotionen zu entwickeln. Dieses Projekt hatte zwar kein Affective Computing Methoden, aber es war ein erster Schritt in den Bereich digital mental health. Ein Exist Stipendium läuft ein Jahr lang, aber nach einem halben Jahr haben wir festgestellt, dass unser Geschäftsmodell nicht funktionieren wird, weil es darauf basierte, dass die Krankenkassen die Therapieunterstützung erstatten. Die waren jedoch zurückhaltend. Wir haben während dieser Zeit Konzepte mit Affective Computing Methoden auch auf Start-up Messen vorgestellt und wurden dort aus ganz anderen Bereichen angesprochen, z.B. aus dem Bereich Education Technology oder Security. Da das Geschäftsmodell rund um die Autismus-Therapie nicht funktioniert hat und wir erkennen mussten, dass unsere damaligen Pläne, Methoden und Software im Gesundheitsbereich einzusetzen, nicht unmittelbar realisierbar sein würden, mussten wir umdisponieren, um unseren Weg weiter zu verfolgen.
Also entschieden wir uns, den Proof-of-Concept unseres Technologiekonzeptes in einem anderen, besser zugänglichen (Markt-)Bereich vorzulegen – im Bereich Education Technology. Dort gibt es aktuell eine hohe Bereitschaft, sich auf technologiegestützte, interaktive Analyse- und Trainingsmethoden einzulassen, da das deutlich besser funktioniert als bisherige digitale Lernansätze. Die bürokratischen und regulatorischen Hürden sind in diesem Bereich ebenfalls deutlich niedriger als im Gesundheitsmarkt. Wir haben dann eine erste Demoversion gebaut und begonnen Ende 2015, diese vom Großkonzern bis zum kleinen Anbieter vorzustellen. Parallel dazu hat sich herausgestellt, dass das ursprüngliche Exist Team nicht weiter zusammenbleiben wird. Ich habe ein neues Team aufgebaut, aus dem 2016 die jetzige Firma gegründet wurde. Heute entwickeln wir eigene Verfahren auf der Basis von Affective Computing Methoden. Basierend auf unseren Algorithmen können wir in einem ersten Schritt aus Audio- und Videodaten nonverbalen Signale wie Gesichtsausdruck, Körpersprache oder auch Tonlage automatisch auslesen und quantifizieren. In der zweiten Stufe evaluiert die Software je nach Kontext die Bedeutung dieser Signale, z.B. die Qualität einer Interaktion oder den Einfluss bestimmten Verhaltens auf das Ergebnis einer Verhandlung. Als erstes Minimum Viable Product (MVP) haben wir ein Trainingstool entwickelt, welches im Bereich HR Talent Development Anwendung findet.
IM+io: Stehen Sie mit diesem Angebot nicht in einem harten Wettbewerb mit erfahrenen HR Trainern?
NG: Natürlich müssen wir ganz deutlich unsere Alleinstellungsmerkmale herausarbeiten. Es gibt bereits Anbieter, die z. B. automatische Sprachanalysen durchführen. Die lassen den Klienten dann aber meist alleine mit den Analyseergebnissen, das bedeutet, dass man also einen weiteren Experten braucht, der diese Analyseebene zu interpretieren vermag und in nutzbare Handlungsanweisungen übersetzt. Daneben stellen Anbieter meist nur eine einzelne Person in die Analysesituation, man beobachtet, wie diese auf bestimmte Stimuli wie z.B. Werbefilme reagiert, das ist kein naturalistisches Setting, wenn man an Interaktionen denkt. Wir betrachten immer mindestens zwei Personen in einer Interaktion, es geht bei uns vor allem um die Dynamik in diesen Situationen. Nur weil etwa jemand in einer Verhandlungssituation ärgerlich guckt, muss das ja noch lange keine Reaktion bei seinem Gegenüber auslösen, dann ist dieses Verhalten irrelevant. Für HR haben wir ein Verhandlungstraining entwickelt, bei dem wir zu jedem Zeitpunkt der Verhandlung sagen können, wie das Verhalten des einen Verhandlungspartners das Verhalten des Gegenübers beeinflusst und anders herum. Auf dieser Basis geben wir konkrete Verhaltenshinweise für Verhandlungen, die bislang nur vom menschlichen Trainer gegeben werden konnten, wir machen Implizites explizit. Da wir das Ganze auch online und dabei interaktiv machen, verfestigen wir das Gelernte. Das ist besser als passives Vermitteln – bei uns wird praktisch geübt. Einige unserer Pilotkunden verwenden das Tool bereits, um sich auf konkrete Verhandlungssituationen vorzubereiten. Mit unseren Tools kann man den Lernprozess zum guten Verhandeln deutlich abkürzen, denn es geht hier um Kompetenzentwicklung, und dafür muss immer wieder praktisch geübt werden auf Basis einer fundierten Einsicht in das eigene Verhalten.
IM+io: Wieviel ist dabei Software gestützt?
NG: Beim Verhandlungstraining kann die Software automatisch Situationen herausstellen und aus einem Video ausschneiden, die der menschliche Trainer als weitere Diskussionsgrundlage nutzen kann. Der Trainer muss also vorab keine eigene Analyse durchführen. Auf der anderen Seite kann die Software den Trainer auch ein Stück weit ersetzen, indem sie gleichzeitig die Situation umsetzt in „was ist da passiert und was sollte man wie üben“. Da sind wir noch am Anfang, aber wir haben unsere Analyse bspw. an das Harvard Verhandlungsmodell angepasst. Um unseren Ansatz zu testen, haben wir verschiedene Pilotprojekte durchgeführt, mit und ohne Trainer, dort haben Mitarbeiter von Unternehmen z.B. untereinander in verschiedenen Rollen trainiert. Sie haben dann aus der Software Erkenntnisse gesammelt, was sie als nächstes trainieren sollten. Auf der anderen Seite haben Trainer Erkenntnisse mitgenommen, um ein Training weiterzuentwickeln. Bei Seminaren mit 10 Teilnehmern kann ein Trainer z.B. nur maximal 2 Teilnehmer gleichzeitig miteinander verhandeln lassen und dabei beobachten. Mit unserer Software könnte man alle Teilnehmer parallel üben lassen und hat anschließend eine Auswertung für alle. Alternativ kann man einen solchen Kurs auch rein online anbieten.
IM+io: Wie sehen Ihre weiteren Planungen im Bereich Gesundheit aus, in dem Sie ja künftig wirtschaftlich tätig sein wollen?
NG: Wir verbinden unsere Markttätigkeit im HR Bereich mit parallellaufenden Forschungs- und Entwicklungsarbeiten zum Thema Digital Healthcare. Wir haben mit dem Flying Health Incubator einen Antrag geschrieben, um in ein staatliches Förderprogramm aufgenommen zu werden, über das wir Produkte für den Gesundheitsmarkt mit Schwerpunkt auf Digitalen Biomarkern weiterentwickeln wollen.
In diesem Bereich kommen dann auch KI Methoden im Sinne von Machine Learning zu Einsatz, weil wir unsere Methoden basierend auf klinisch erhobenen Daten entwickeln. Mit unserer Software wollen wir im Ergebnis Digitale Biomarker für bestimmte psychische Erkrankungen wie z.B. Depressionen entwickeln – auf Basis der computergestützten Analyse von Video- und Audiodaten. Im späteren Verlauf wollen wir diese Ergebnisse mit weiteren (medizinischen) Daten eines Patienten verknüpfen um Erkenntnisse zu generieren, die die Behandlung und Versorgung im Bereich mentaler Erkrankungen verbessern werden.
Wir gehen in ein paar Wochen eine klinische Studie an, in der wir unsere Verfahren gegen klassische klinische Verfahren testen und damit vergleichen. Das ist notwendig, da es bisher noch keine umfangreichen und guten Datensätze zur Entwicklung von digitalen Diagnosemethoden gibt. HR ist für uns dabei der Proof-of-Concept, mit dem wir Partnern zeigen können, dass wir die Technologie beherrschen. Wir können eigene Prozesse aufbauen und gleichzeitig für den langwierigen Prozess im Gesundheitsmarkt wichtige Vorarbeit leisten. So stehen wir dank unserer Aktivitäten im HR Bereich nicht im luftleeren Raum und können so unser unternehmerisches Risiko minimieren.
Wir arbeiten eng mit Experten aus beiden Bereichen, wie zum Beispiel Business Angels aus dem Gesundheitsbereich, zusammen. Sie helfen uns, die Partner zu finden, mit denen wir unsere Produkte marktnah entwickeln können.
IM+io: Gibt es ungeachtet der Herausforderungen im Digital Health Bereich bereits einen Zeithorizont für die schwarze Null in Ihrem Unternehmen?
NG: Für den Edutech Bereich, also HR, planen wir den Markteintritt im Herbst dieses Jahres mit dem ersten Produkt, da soll in zwei Jahren die schwarze Null stehen. In diesem Umfeld haben wir belastbare Planungsdaten. Für den Bereich Digital Health haben wir ebenfalls eine Planung, aber das ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht belastbar.
IM+io: Wie ist Ihr Gründerteam zusammengesetzt, um all diese Herausforderungen zu meistern?
NG: Anfang 2016 haben wir zu viert angefangen: Mike Fayer ist IT-Entwickler, er kommt aus der Industrie und hat viele Backend und Frontend Entwicklungen für unterschiedliche Unternehmen gemacht. Er hat zudem Apps zum Lernen von Faktenwissen entwickelt, die auf Algorithmen basieren, mit denen man Faktenwissen optimiert lernen kann. Ihn konnte ich durch viel Einsatz für unsere Idee begeistern und gewinnen. Dazu kommt meine Kollegin Dr. Marieke Rohde, sie hat einen Forschungshintergrund in KI und experimenteller Psychologie. Sie ist sehr methodenstark und hatte durchaus Angebote anderer, sehr bekannter Technologiefirmen. Da sie aber unser Thema spannend findet, ist sie bei uns eingestiegen. Sie reizt es zum einen, bei uns forschungsnah zu arbeiten und sich zum anderen in der Unternehmenswelt zu bewegen. Dann gehört noch Prof. Timothy Brick dazu. Er ist 2015 in die USA gegangen, weil er eine Professur an der PSU bekommen hat. Er ist Minderheitsanteilseigner und ein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet des Affective Computing. Er unterstützt uns beratend bei unseren Forschungs- und Entwicklungsprojekten. Ich bin Kognitions- und Neurowissenschaftler. Vor Affective Signals bin ich direkt aus der akademischen Forschung gemeinsam mit einer damaligen Kollegin in ein Spin-off Projekt gestartet, da ich es faszinierend finde, wissenschaftliche Projekte aus dem Labor in die Anwendung zu bringen. Da ich am Ende meiner Promotion und zu Beginn meines Post Doc klinisch gearbeitet habe, habe ich gesehen, dass unsere Ansätze das Potenzial haben, in die klinische Anwendung zu kommen und dort auch zu signifikanten Verbesserungen zu führen. Ich sehe zurzeit im Start-up Bereich mehr Potenzial für meine Vision. Die damit einhergehende Flexibilität erlaubt es uns einerseits sehr schnell Dinge z.B. in der Produktentwicklung zu ändern, sobald wir Erkenntnisse gewinnen, die eine Änderung sinnvoll erscheinen lassen. Es verlangt aber vor allem Geduld, eine gute Portion Optimismus und einen festen Glauben an die eigene Idee, um ein Unternehmen aufzubauen. Da lerne ich stetig dazu, was ich sehr angenehm finde.
UNTERNEHMENSPROFIL:
Affective Signals entwickelt Software, die Videos und Tonaufzeichnungen menschlicher Interaktionen analysiert. Nonverbale Signale, wie zum Beispiel Körperbewegungen, Haltung, Gesichtsausdruck, Stimmlage oder Sprechgeschwindigkeit werden automatisch und objektiv erhoben und analysiert. So können kommunikative Stärken und Schwächen aufgezeigt und Empfehlungen zur Verbesserung der kommunikativen Kompetenz gegeben werden. Diese Technologie ist vielseitig einsetzbar, zum Beispiel in der Personalentwicklung und in den Bereichen Digitale Gesundheit und Künstliche Intelligenz.
Affective Signals GmbH
c/o Freie Universität Berlin, bei „Profund“
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