Die globalisierte Innovation:
Neue Trends und wohin die Reise geht
Rajnish Tiwari, Hochschule Fresenius, Hamburg und Stephan Buse, Technische Universität Hamburg
(Titelbild: © Adobe Stock | 1732459168 | Roman )
Kurz und Bündig
Patente, F&E-Ausgaben und internationale Finanzierungsströme zeigen: Innovation globalisiert sich weiter und verschiebt sich Richtung neuer Zentren wie Indien, China und Israel. Multinationale Unternehmen betreiben mehr Auslands-F&E, ausländische Firmen investieren deutlich stärker in Deutschland, und globale Kompetenzzentren wachsen rasant. Gleichzeitig erfassen klassische Indikatoren softwarebasierte, datengetriebene und offene Innovationsformen kaum, weshalb modernisierte Messmethoden dringend notwendig werden.
Manchmal verändert sich Innovation so leise, dass erst ein Blick in die Daten zeigt, wie weit sie sich schon von früheren Mustern gelöst hat. Forschungsteams arbeiten über Kontinente hinweg, Ideen entstehen gleichzeitig in Start-up-Laboren, Konzernzentren und offenen Entwicklergemeinschaften. Während sich diese Netzwerke stetig verdichten, bleiben viele ihrer Leistungen statistisch unsichtbar. Wie lässt sich Fortschritt messen, wenn seine Formen immer fluider werden?
Trotz Debatten über Standortpolitik, technologische Souveränität oder „De-Risking“ zeigen die Daten ein klares Bild: Die Globalisierung der Innovation schreitet fort – sie verändert dabei ihre Gestalt. Digitale Vernetzung und internationale Wissenskooperationen ermöglichen neue, schwer messbare Formen gemeinsamer Wertschöpfung, bei denen Forschung, Entwicklung und Datenarbeit oft über mehrere Länder verteilt stattfinden und klassische Messgrößen wie Patente oder nationale F&E-Ausgaben nicht mehr ausreichen, um die echte Innovationsaktivität abzubilden.
Früher galten Innovation und F&E (Forschung und Entwicklung) als Kernkompetenzen, die Unternehmen bevorzugt im eigenen Haus und eigenen Land hielten. Heute öffnen sie ihre Prozesse, um Zugang zu Wissen, Talenten und Märkten zu gewinnen. Fachkräftemangel und marktspezifische Anforderungen beschleunigen diese Entwicklung. Etablierte Indikatoren wie Patentdaten, Bruttoinlandsausgaben für F&E (GERD), Unternehmensausgaben (BERD) und ausländische Direktinvestitionen (FDI) belegen die wachsende Rolle globaler Akteure und die Entstehung neuer Zentren, sagen jedoch wenig darüber aus, wo Wertschöpfung, Steuerung oder die eigentliche Entwicklungsarbeit tatsächlich stattfinden – ein zentrales Problem vieler Innovationsstatistiken.
In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich Innovation schneller und tiefgreifender internationalisiert, als es viele politische Debatten und Messsysteme erkennen lassen. Grenzüberschreitende Forschungs- und Entwicklungszentren, globale Kompetenzzentren („Global Capability Centers“, GCCs) und geografisch verteilte Design- und Entwicklungsteams verbinden heute Unternehmen, Standorte und Innovationsnetzwerke auf eine Weise, die die Grenze zwischen „heimischer“ und „ausländischer“ Innovation zunehmend verwischt.
Ausländische Unternehmen haben ihre F&E-Präsenz in Deutschland seit der Jahrtausendwende stark ausgebaut; deutsche Firmen betreiben ihrerseits Entwicklungszentren in nahezu allen wichtigen Zielmärkten. Besonders dynamisch zeigt sich Indien, das zugleich Partner, Markt, Talentpool und Wettbewerber ist. Diese Verschiebung markiert eine neue Phase der globalen Innovationslandschaft.
In diesem Artikel greifen wir zunächst die empirischen Belege für globale Innovationen anhand verfügbarer offizieller Daten wieder auf. Anschließend diskutieren wir Indien als kritischen Testfall, um zu zeigen, wie stark ein Innovationsstandort globalisiert sein kann, obwohl er in herkömmlichen Statistiken unterrepräsentiert ist. Abschließend plädieren wir für eine vorsichtige, aber notwendige Aktualisierung unseres Indikator-Instrumentariums, das die aktuellen Muster der Zusammenarbeit, Kontrolle und Wertschöpfung im Bereich der globalen Innovation besser widerspiegelt.
Empirische Befunde: Patentdaten
Patente sind ein nützlicher, wenn auch keineswegs perfekter Indikator internationaler F&E. Eine Auswertung der OECD-Daten zu 105 Ländern auf Basis von Patentanmeldungen beim US-Patentamt (USPTO) verdeutlicht neue Muster.
Im Jahr 2000 wurden 271.035 Patente erteilt, davon 12,2 Prozent an ausländische Anmelder. Bis 2020 stieg dieser Anteil auf 18,6 Prozent. Die USA blieben dabei der wichtigste F&E-Standort für internationale Unternehmen, auch wenn ihr Anteil an im Ausland entwickelten Erfindungen von knapp 29 Prozent auf gut 23 Prozent zurückging. Während traditionelle Zentren wie Japan, das Vereinigte Königreich (UK), Frankreich oder die Niederlande an Bedeutung verloren, stiegen Indien, China, Israel und Taiwan deutlich auf.
Wie in Abbildung 1 noch deutlicher wird, ist die Rolle einiger traditioneller Akteure – etwa Japans, des Vereinigten Königreichs, der Niederlande oder Frankreichs – als bevorzugte F&E-Standorte globaler Unternehmen im Zeitraum 2000 bis 2020 rückläufig, während Länder wie Indien, China, Israel und Taiwan deutliche Zuwächse verzeichnen. Diese gehören nun zu den zehn führenden Nationen, in denen multinationale Konzerne patentierungsfähige F&E-Aktivitäten durchführen.
Das Gegenbild – inländisches Eigentum an ausländischen Erfindungen – bestätigt diese Dynamik: 2020 entfielen 30.990 Patentanmeldungen von US-Unternehmen auf Erfindungen ihrer Tochtergesellschaften im Ausland. Die USA hielten damit über 54 Prozent aller weltweit erfassten Fälle dieser Art. Es folgten China mit 6 Prozent, und Japan und Deutschland mit jeweils gut 5 Prozent. Der Trend weist klar auf eine zunehmende globale Arbeitsteilung in der Innovationslandschaft hin.

Auslandsfinanzierte F&E
Auch Finanzierungsdaten stützen dieses Bild. Nach OECD-Angaben stieg die auslandsfinanzierte F&E in 30 untersuchten Ländern von rund $36 Mrd. im Jahr 2008 auf $130 Mrd. im Jahr 2023. Wichtigste Empfängerländer waren die USA, Deutschland, Frankreich und Belgien.
In Deutschland vervierfachte sich das Volumen zwischen 2008 und 2023. Heute entfallen fast 9 Prozent aller Patente auf ausländische Anmelder. Gleichzeitig führen deutsche Unternehmen mehr F&E im Ausland durch; rund 5 Prozent ihrer Patente stammen aus Tochtergesellschaften außerhalb Deutschlands.
Auch Länder im baltischen Raum und in Osteuropa zeigen einen hohen Anteil auslandsfinanzierter F&E, zum Beispiel Tschechien (31 Prozent), Lettland (25 Prozent), Slowenien (24 Prozent) und Litauen (23 Prozent).
Deutschland als etablierter Innovations-standort, hat seine Position als globales Innovationszentrum bislang recht gut behauptet. Ausländische Unternehmen gaben im Jahr 2023 über $13 Milliarden für F&E in Deutschland aus, gegenüber $3,3 Mrd. im Jahr 2008 – ein Anstieg um mehr als das Vierfache innerhalb von nur 15 Jahren. Im längeren Zeitvergleich ist das Wachstum noch deutlicher: von $1,2 Mrd. im Jahr 2000 auf das Elffache im Jahr 2023. Nahezu 9 Prozent aller in Deutschland erteilten Patente entfielen auf ausländische Anmelder. Umgekehrt führten auch deutsche Unternehmen internationale F&E-Aktivitäten durch – etwas mehr als 5 Prozent aller Patente deutscher Anmelder gingen auf Erfindungen ihrer ausländischen Tochtergesellschaften zurück.
Zwei für unsere Analyse wichtige Länder, für die keine (vollständigen) Daten in dieser Stichprobe vorlagen, sind das Vereinigte Königreich und Indien. Ein Bericht der US-amerikanischen National Science Foundation zeigt zudem, dass US-Unternehmen 2019 etwa $11,8 Mrd. in F&E in UK und $9,9 Mrd. in Indien investierten – mit über 67.000 bzw. 196.000 Beschäftigten im F&E-Sektor. Deutschland folgte mit $8,9 Mrd. und 55.000 F&E-Beschäftigten. Damit bleibt es ein zentraler Standort im globalen Innovationsnetzwerk.
Indien als Beispiel eines neuen Innovationsstandorts
Indien ist ein Sonderfall globaler Innovation, weil seine enorme Rolle als Entwicklungsstandort, KI-Labor, Datenproduzent und Talentquelle in klassischen F&E-Statistiken so gut wie nicht sichtbar ist. 2020 gehörten rund 88 Prozent der beim USPTO registrierten indischen Erfindungen ausländischen Anmeldern. Von 9.266 Patenten entfielen 6.840 auf US-Unternehmen, weitere 8 Prozent auf Firmen aus Südkorea, Deutschland, Irland und der Schweiz.
Etwa die Hälfte aller globalen Kompetenzzentren (Global Capability Centers, GCCs) befindet sich heute in Indien, obwohl diese Zentren häufig keine Patente anmelden und in vielen Fällen als ‚Dienstleister‘ klassifiziert werden, wodurch ihr tatsächlicher Beitrag zur globalen Innovation statistisch unter dem Radar bleibt.
Laut einer Studie von Zinnov beschäftigen rund 1.800 GCCs etwa 1,9 Mio. Menschen und erwirtschaften eine jährliche Wertschöpfung von $64 Mrd. Im Jahr 2024 entstand dort im Durchschnitt jede Woche ein neues Zentrum; bis 2030 könnte der Markt ein Volumen von $100 Mrd. erreichen.
Zugleich entwickelt sich Indien zu einem zentralen Standort für generative Künstliche Intelligenz (KI), vor allem in der Annotation von Trainingsdaten, im Testing und zunehmend auch in der Entwicklung eigener Modelle – Tätigkeiten, die in klassischen Innovationsindikatoren kaum erfasst werden. In ländlichen Regionen werden Daten annotiert und Modelle trainiert – ein neuer Beschäftigungszweig für bisher ungenutzte Talente.
Tech-Konzerne investieren massiv: Beispielsweise plant Google rund $15 Mrd. für den Aufbau eines großen KI-Datenhubs. Ambitionierte Investitionspläne haben auch weitere globale Unternehmen wie Amazon, Microsoft und OpenAI bekanntgegeben. Auch inländische Konglomerate, zum Beispiel Tata, Adani und Reliance, investieren massiv in den Aufbau von AI-Forschungszentren in Indien. Millionen Inder:innen erhalten kostenlosen Zugang zu Premium-KI-Tools. Mit einer Internetbasis von rund 900 Mio. Nutzer:innen und erschwinglichen mobilen Datentarifen entstehen gewaltige Datenmengen, die als Rohstoff kommender KI-Innovationen gelten.
Diese Aktivitäten werden in herkömmlichen Statistiken jedoch kaum erfasst. Engineering- und Entwicklungsleistungen in solchen Zentren bleiben aufgrund definitorischer und methodischer Grenzen weitgehend unsichtbar – ein Hinweis darauf, dass unsere Messinstrumente den tatsächlichen Innovationsströmen nicht mehr gerecht werden.
Kernerkenntnisse
Unsere Analyse ergibt zwei zentrale Befunde:
Erstens bleibt globale Innovation strukturell verankert und ist keineswegs im Rückzug. Sie organisiert sich in einem verteilten Netzwerk aus internationalen F&E-Einheiten, Partnerschaften und Datenökosystemen, in denen neue Akteure – besonders Indien – Schlüsselrollen übernehmen.
Zweitens reichen klassische Indikatoren wie Patente oder F&E-Ausgaben nicht mehr aus, weil sie softwarebasierte Entwicklung, kollaboratives Codieren, Open-Source-Beiträge, KI-Modelltraining oder digitale Plattforminnovationen kaum abbilden – obwohl genau dort heute ein großer Teil der globalen Innovationsleistung entsteht. Ein wachsender Anteil internationaler Wertschöpfung vollzieht sich in datengetriebenen, softwarezentrierten und offenen Strukturen wie globalen Kompetenzzentren, Standardisierungsgremien oder Open-Source-Communities, die in traditionellen Statistiken weitgehend unsichtbar bleiben.
Erforderlich ist keine Abkehr, sondern eine Weiterentwicklung der Messinstrumente – hin zu Indikatoren, die digitale Innovationsformen, KI-Aktivitäten und global verteilte Entwicklungsarbeit sichtbar machen. Das umfasst neue administrative Register, Indikatoren zu grenzüberschreitenden Projekten, eine breitere Erfassung von Lizenzierungen und nichtpatentierten Vermögenswerten sowie von frugaler Innovation. Erst dann lässt sich beantworten, wo globale Innovationskapazitäten tatsächlich verankert sind und welche Standorte in der politischen Debatte zu Unrecht unterschätzt werden.







