CeBIT Global Conference Keynote: Digitalisierung für disruptive Geschäftsmodelle sinnvoll nutzen!
Am Donnerstag, den 17. März 2016, hat Prof. Dr. August-Wilhelm Scheer im Rahmen der Global Conferences eine Keynote gehalten. In seinem Vortrag zeigt Professor Scheer die Potenziale und Facetten der Digitalen Transformation anhand von Beispielen aus dem Jetzt und der Zukunft auf.
Prinzip Selbststeuerung
Das Internet der Dinge bietet neue Möglichkeiten zur Selbststeuerung von Produktionsprozessen. Die intelligenten Maschinen wissen selbst, welche Technologien sie beherrschen und welche freien Kapazitäten sie haben. Die Materialien sind ebenfalls intelligent und wissen, welche Fertigungsoperationen sie benötigen. Deshalb können diese Systeme sich selbst koordinieren und den Materialfluss steuern.
Das Prinzip der Selbststeuerung finden wir auch in weiteren Bereichen. Wir sprechen von fahrerlosen Transportsystemen und fahrerlosen Autos. In der Landwirtschaft sind wir hier schon sehr weit. Weshalb soll es noch auf einem Mähdrescher einen Fahrer geben? Der Mähdrescher kann sich doch über Satellitenverbindung selbst steuern.
Wir reden von „User generated Content“ in Lernumgebungen. Der Lernende erweitert durch seine Lernerfahrung Inhalte und steuert seine Lernform und -geschwindigkeit selbst. Selbststeuerung bedeutet demnach, dass der Steuernde und das gesteuerte Objekt nicht mehr getrennt sind. Besonders anschaulich zeigen dies auch medizinische Entwicklungen. Viele Menschen benutzen bereits ‚wearables‘ und messen ständig Pulsschlag, Körpertemperatur oder Blutdruck selbst. Über Auswertungen mit „analytics“ lassen sie sich über das Internet Hinweise auf vorbeugende Maßnahmen oder Medikamente geben.
Es ist wichtig, Prinzipien der Selbststeuerung als Effekt der Digitalisierung bei dem Geschäftsmodell des eigenen Unternehmens zu erkennen und zu fragen, ob man mehr Funktionen dem Kunden überlassen kann. Kann man mehr Selbstbedienungs- und Kiosksysteme entwickeln? Dies führt dann zu neuen Prozessen und einem neuen Geschäftsmodell.
Prinzipien Flexibilisierung, Personalisierung und Transparenz
Durch Cyber-Physical-Systems kann die Fertigung im Rahmen von Industrie 4.0 stärker flexibilisiert werden und sie kann auf individuelle Anforderungen der Kunden eingehen. Losgröße 1 zu den Kosten der Massenfertigung ist dazu die Forderung. Das macht aber nur Sinn, wenn man in der Produktentwicklung auch flexibel ist und mehr Varianten fertigt. Was in der Fertigungsautomatisierung an flexiblen Voraussetzungen geschaffen wird, muss in der Produktentwicklung zur Personalisierung der Leistungen genutzt werden. Dies beeinflusst dann auch die Logistik. Wenn stärker kundenorientiert gefertigt wird, müssen mehr Zulieferer einbezogen werden, um die zusätzlichen individuellen Produkteigenschaften erfüllen zu können. Man muss mehr Komponenten von verschiedenen Lieferanten kaufen. Kleinere Einheiten müssen transportiert werden und komplexere Lieferantennetzwerke müssen gesteuert werden. Damit alles ineinander spielt, braucht man eine höhere Transparenz der supply chains. Selbststeuerung, Flexibilisierung, Personalisierung und Transparenz sind damit wichtige Treiber der digitalen Transformation.
Quantität ändert Qualität
Man kann eine ganze Reihe weiterer organisatorischer Änderungen beobachten, die durch die Digitalisierung getrieben werden. So ändert Quantität die Qualität: Bei der automatischen Sprachübersetzung hat man früher versucht, die Regeln von Sprachen abzubilden. Jetzt kann man mehr statistisch vorgehen: Durch die große Rechengeschwindigkeit kann man feststellen, wie ein bestimmter Satz in Dokumenten bereits in eine andere Sprache übersetzt worden ist. Das heißt, Datenbanken werden danach durchsucht, wie der Satz A in den Satz B einer anderen Sprache übersetzt worden ist, und man kann diese Übersetzung übernehmen.
Dank Big Data können Datenbestände hypothesenfrei untersucht werden. Auch fachfremde Datenanalysten können z.B. in Patientendaten Muster erkennen und zu neuen medizinischen Erkenntnissen gelangen. All das führt dazu, dass sich Produkte und Prozesse verändern.
Neue Plattformmärkte
Die Digitalisierung führt auch zu neuen Marktstrukturen, insbesondere sogenannten Plattform-Märkten. Bei einem Plattform-Markt handelt es sich um eine zweiseitige Marktbeziehung („two sided markets“). Eine Plattform vermittelt zwischen Kunden und Lieferanten und lässt sich von beiden Seiten dafür bezahlen. Für das Plattformunternehmen sind also beide Seiten Kunden. Basis für Plattformen können materielle Produkte, Dienstleistungen, Technologien oder ein Markenname sein. Die Mehrzahl der teuersten Unternehmen der Welt sind mittlerweile Plattform-Unternehmen. Dazu gehören Google, Amazon, eBay und Apple.
Ein einfaches bekanntes Beispiel ist die Plattform eines Kreditkartenunternehmens. Die Konsumenten müssen für den Besitz einer Kreditkarte einen Betrag an das Kreditkarteninstitut bezahlen. Gleichzeitig verdient dieses bei jedem Einkaufsvorgang noch einmal bei den angeschlossenen Geschäften. Die Macht einer solchen Plattform entsteht durch die Anzahl der Endkunden und die Anzahl der Lieferanten, kurz durch das Ökosystem dieser Plattform. Ein Plattformunternehmen versucht, beide Seiten möglichst groß zu machen, also möglichst viele Kunden auf beiden Seiten zu haben. Es muss nicht immer Geld sein, womit bezahlt wird, es können auch Daten und Kundenbeziehungen sein, aber am Ende bezahlen immer beide Seiten.
Nach diesem Prinzip sehen wir aktuell regelrechte Kämpfe in den Märkten. Unternehmen, die zunächst den Markt durch ein materielles Produkt beherrschten, zu dem Partnerunternehmen komplementäre Produkte anboten, merken plötzlich, dass ein Partner sie abgehängt hat und die Rollen gewechselt haben. Den Kunden ist das Partnerprodukt wichtiger und das ursprünglich dominante Unternehmen ist zum Zulieferer geworden. Das haben wir in der IT-Branche bereits mehrmals erlebt. IBM war einmal mit Abstand der größte Hardwarehersteller der Welt. Dann kam der PC auf und IBM wandte sich der PC-Produktion zu. IBM verfügte jedoch nicht über ein eigenes Betriebssystem und bezog von Bill Gates das MS Dos. IBM war davon ausgegangen, dass es mit dem Hardware-System die Plattform beherrsche und Microsoft ein Zulieferer sei. Dieses Bild hat sich dann gedreht. Microsoft war mit seinem Betriebssystem Windows für alle Hardware verfügbar, und damit stand das Betriebssystem von Microsoft als Plattform im Mittelpunkt und die Hardwarehersteller wurden quasi zu Zulieferern. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie selbst Großunternehmen von einem Start-up Unternehmen abgehängt werden können.
Gegenwärtig kann auf dem Automobilmarkt der Kampf um die Plattform-Vorherrschaft beobachtet werden. Im Augenblick steht das materielle Auto im Vordergrund. Dieses bildet die Plattform. Die Hersteller haben ihre Komponentenzulieferer und dazu gehören auch Lieferanten für Infotainment wie Navigationssysteme, Telefon oder Audio. Mittlerweile verändert sich jedoch der Markt. Das materielle Produkt steht nicht mehr so stark im Vordergrund. Große IT-Unternehmen wie Google und Apple konzentrieren ihr Auto-Businessmodell nicht auf das materielle Produkt, sondern auf die Zeit, die Personen in einem Auto verbringen. Man kann in dieser Zeit neue Dienstleistungen an die Personen verkaufen − sei es, dass es Informationsdienstleistungen sind, sei es aber auch, dass es Geschäftsbeziehungen sind, die mit dem Kontext oder der geografischen Position des Fahrers verbunden sind. Es geht dabei unter anderem um folgende Fragen: Wo sind die nächste Ladestation, die nächste Tankstelle, das nächste Hotel, das nächste Restaurant? Der Markt ändert sich von der Gewichtung des materiellen Produktes hin zu einem eher dienstleistungsorientierten Ansatz. Das haben die Autohersteller, insbesondere die drei Premiummarken in Deutschland, BMW, Daimler und Audi, erkannt. Sie haben im Herbst 2015 den Milliardendeal abgeschlossen, von Nokia das Kartensystem „Here“ zu übernehmen, das auch mit Blick auf fahrerlose Autos eine wichtige Rolle spielt. Aber im Auto der Zukunft ist nicht nur das Kartensystem wichtig, sondern das gesamte Betriebssystem, das alle Funktionen des Infotainments unterstützt. Es ist bekannt, dass sowohl Apple als auch Google an der Entwicklung solcher Betriebssysteme für Autos arbeiten. Dies kann als Versuch gelten, diese Plattform zu beherrschen, sodass am Ende die Plattform nicht mehr das Hardwareprodukt Auto ist, sondern das Betriebssystem für Infotainment und in der Folge Autohersteller zu Zulieferern werden. Der Kunde entscheidet sich dann zunächst für das Betriebssystem und erst danach für ein dazu passendes Auto.
Eine weitere Entwicklung bei Auto-Plattformen geht noch einen Schritt darüber hinaus. Das Plattform-Mobilitätsunternehmen Uber besitzt keine Fabrik und keine Autos, sondern vermittelt nur zwischen Fahrgästen und Autobetreibern. Autobetreiber können dabei auch Privatpersonen sein. Wer eine Entfernung überbrücken möchte, nimmt lediglich noch einen Dienst in Anspruch. Das Eigentum am Fahrzeug spielt für den Fahrgast keine Rolle mehr. Uber besitzt bereits eine Marktkapitalisierung von 40 Milliarden US Dollar. Dies zeigt wiederum die Bedeutung von Plattformunternehmen.
Die digitale Transformation ist immer dann besonders stark, wenn es sich um Produkte handelt, die wenig komplex und mehr informationsnah sind und wenn sie auf den Konsumentenmarkt abzielen. Im B2B-Markt ist diese Entwicklung noch nicht ganz so dramatisch, aber genauso unaufhaltsam.
Ich empfehle gerade mittelständischen Unternehmen den kritischen Blick auf die eigene Positionierung in der sich entwickelnden Welt der Plattformen. Die Entscheidung darüber, ob man selbst eine Plattform darstellen möchte, oder sich mit der Rolle des Zulieferers begnügt, wird nachhaltig das Businessmodell und auch die Wachstumsmöglichkeiten im Markt bestimmen.
Digitalisierungsstrategie der Scheer GmbH
Die Scheer GmbH berät nicht nur ihre Kunden bei der Digitalisierung, sondern arbeitet auch an dem eigenen Digitalisierungskonzept. Folgerichtig haben wir auch bei der Scheer GmbH unsere Positionierung kritisch hinterfragt. Wir wissen, dass wir uns gezielt den neuen Herausforderungen zu stellen haben. Derzeit bieten wir mit Projektteams beim Kunden Beratungsleistungen und Softwarelösungen an. Die „materielle Basis“ für unsere Beratungsleistungen sind unsere Berater, also Menschen mit dem Wissen in ihren Köpfen. Wenn wir dieses Wissen in Form von Referenzmodellen oder Projekterfahrungsdatenbanken (zumindest teilweise) digitalisieren, können wir die Multiplizierung dieses Wissens fast kostenlos vornehmen. Damit nutzen wir die Eigenschaft digitaler Märkte, dass zwar die Erstellung von Information Kosten verursacht, die Verbreitung jedoch nicht. Wir bauen entsprechende Datenbanken auf, um auch die Performance von Kunden besser einschätzen zu können. Wir wollen durch diese Datenbanken über das Erfahrungswissen von Projekten jederzeit verfügen. Darüber hinaus entwickeln wir neue Tools und Methoden. Wir streben eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit unseren Kunden an, sodass nicht mehr unser Kunde feststellen muss, wo er einen Beratungsbedarf hat, sondern wir ihm die passenden Vorschläge unterbreiten können. Dazu müssen wir seine Prozesse elektronisch monitoren. Das heißt, wir müssen hier neue Ansätze verfolgen, um mit unseren Kunden zusammenzuarbeiten und die Kundenbindung zu erhöhen. Dazu gehört auch ad hoc Consulting. Dabei geht es darum, dass wir kleinere Consulting- Einheiten anbieten. Sieht ein Kunde ein Problem und meldet sich bei uns, so wollen wir in der Lage sein, über eine Videokonferenz sein Problem innerhalb weniger Stunden zu lösen. Dafür bauen wir gerade ein entsprechendes Kommunikationsnetzwerk auf.
Bis hierhin sind das interne Prozesse, die wir verändern. Aber wir denken auch darüber nach, wie sich unser Markt verändern wird, welche Markteilnehmer sich in Richtung eines Plattformansatzes entwickeln werden. Heute arbeiten wir mit Kunden durch Projektteams zusammen und beziehen Partner und Freelancer ein. Diesen Ansatz wollen wir zu einem Plattformkonzept weiterentwickeln. Wir behalten weiterhin Berater und entwickeln Methoden und Tools, zudem bauen wir die Kommunikation aus. Wir werden aber die Beziehung sowohl zu den Kunden als auch zu den Zulieferern verstärken. Das Partnermanagement bekommt dann stärkeres Gewicht. Das heißt, dass am Ende das gesamte Ökosystem den Wert des Unternehmens ausmacht, also nicht nur die Kundenbeziehungen, sondern auch das Potenzial, das Partner und Freelancer bieten. Entscheidend wird sein, wie stark dieses Ökosystem ist und in welcher Qualität und Quantität digitalisierte Methoden und digitalisierte Tools zur Verfügung stehen, um dieses Ökosystem zu managen. Unser Ziel ist es, uns als wichtige Beratungsplattform zu etablieren, die auch andere Unternehmen benutzen. Je schneller wir in diese Richtung gehen, umso größer ist unsere Chance, auch in diesem Kontext auf dem Markt eine markante Position einnehmen zu können.
Die Rollen können dabei unterschiedlich sein: Wir können mit unserem Ökosystem Partner bei der SAP sein oder bei einem großen internationalen Consulting-Unternehmen. Wir sind bereits gegenwärtig in Projekte von SAP eingebunden. Es ergibt sich jedoch auch, dass SAP bei uns in einem großen internationalen Projekt die Partnerrolle einnimmt. Die Ökosysteme vernetzen sich somit untereinander und damit entstehen auch im Beratungsbereich neue Marktstrukturen.
Ich messe der Digitalisierung einen hohen Stellenwert zu. Deshalb habe ich vor anderthalb Jahren ein Forschungsinstitut (August-Wilhelm Scheer Institut für digitale Produkte und Prozesse gGmbH) gegründet, um Forschungsprototypen beispielsweise für die künftige Beratung zu entwickeln, die eventuell später von der Praxis zu Produkten ausgebaut werden können.
August-Wilhelm Scheer