Vom Köhlerhandwerk zur KI-Forschung:
Die neue Innovationslandschaft im Schwarzwald
Stefan Bogenrieder, Tobias Riethmüller und Thilo Schlegel, Campus Schwarzwald gGmbH
(Titelbild: © Campus Schwarzwald gGmbH )
Kurz und Bündig
Der Campus Schwarzwald wurde 2016 in Freudenstadt als Forschungs- und Innovationsplattform gegründet. Er vernetzt mittelständische Unternehmen mit Hochschulen wie dem Karlsruher Institut für Technologie, der Universität Stuttgart und der Hochschule Reutlingen. Die Schwerpunkte liegen auf Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Führung, unterteilt in acht Kompetenzfelder – darunter Robotik, Künstliche Intelligenz, Industrial Security und Funktechnologie. Ziel ist, Forschungsergebnisse schneller in industrielle Anwendungen zu überführen und den Mittelstand der Region im globalen Technologiewandel zu stärken.
Zwischen dichten Tannen, Werkhallen und Ideenwerkstätten wächst eine Region, die Tradition nie als Gegenspieler der Zukunft verstanden hat. Aus dem Geist der Köhler und Tüftler entstand im Schwarzwald eine Innovationskultur, die heute mit Robotik, Automatisierung und Künstlicher Intelligenz neue Maßstäbe setzt. Wie gelingt es einem Ort, der einst Holzkohle brannte, nun Wissen, Technologie und Gemeinschaft zu entfachen?
Der Nordschwarzwald ist ein Raum, dessen Geschichte von stetigem Wandel geprägt ist. Über Jahrhunderte hat er es immer wieder geschafft, alte Wirtschaftsmodelle abzulösen und neue zu etablieren – von der Köhlerei über die Textil- und Maschinenindustrie bis hin zur Forschung in Künstlicher Intelligenz (KI).
Lange bevor die industrielle Moderne die Region erreichte, war der Schwarzwald ein Rückzugs- und Wirtschaftsraum, in dem Landwirtschaft, Viehtrieb und Waldnutzung die Lebensgrundlage bildeten. Schon im Mittelalter spielten Holz und Erz eine entscheidende Rolle. Hier setzte die Köhlerei an, ein Handwerk, das im 16. und 17. Jahrhundert zur Grundlage für die Eisenverhüttung und Glaserzeugung wurde. Die dabei entstandene Holzkohle war unverzichtbar, da sie höhere Temperaturen als Holzfeuer lieferte und weniger Rauch und Harz freisetzte. Ganze Landschaften im Nordschwarzwald wurden so zu Holzlieferanten für die Industrie ihrer Zeit. Die Arbeit der Köhler prägte nicht nur die Wirtschaft, sondern auch das soziale Leben, abgeschieden in den Wäldern, mit eigenen Bräuchen und einer gewissen Mystik, die bis heute nachwirkt [1].
Industrielle Kräfte, die neue Möglichkeiten, aber auch den Niedergang alter Traditionen bedeuteten, eröffneten im 19. Jahrhundert die Erste Industrielle Revolution in den Tälern des Nordschwarzwalds.
Während die Köhler zunehmend in den Hintergrund traten, begann die Industrialisierung die Region zu prägen. So existierten Tradition und Moderne, Rückzug und Aufbruch, für eine Zeit nebeneinander. Heute spannt der Campus Schwarzwald diesen historischen Bogen weiter hin zu einem Forschungszentrum für Robotik, Automatisierung und KI. Damit wird die Region weiterhin neue Antworten auf die Herausforderungen der Zeit finden.
Die Innovationsbiografie der Region Nordschwarzwald
Der Nordschwarzwald gilt als Heimat der Tüftler:innen, kleiner Werkstätten, Handwerk, Feinmechanik und später mittelständischer Unternehmen. Dank Präzision, Einfallsreichtum, einem hohen Maß an Eigenständigkeit und Beharrlichkeit wurden immer wieder innovative Produkte hervorgebracht [2]. In der Wirtschaftsgeschichte Baden-Württembergs gilt der Schwarzwald als Keimzelle des deutschen Mittelstands und vieler sogenannter „Hidden Champions“, also international führender Unternehmen, die in Nischenmärkten Weltmarktführer sind [3].
Mit der Ersten Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert setzte ein tiefgreifender Wandel ein. Neue Energieträger wie Steinkohle und die Ausweitung des Eisenbahnnetzes machten die traditionelle Köhlerei ökonomisch zunehmend obsolet. Parallel entwickelten sich Textilindustrie, Maschinenbau und feinmechanische Betriebe, die den Nordschwarzwald in die industriellen Netzwerke Südwestdeutschlands integrierten [4].
Die literarische Verarbeitung dieser Epoche findet sich auch in zeitgenössischen Werken, etwa im jüngsten Roman von Wolfgang Schorlau, der die Welt der Köhler mit dem Einbruch industrieller Modernität kontrastiert und damit ein Schlaglicht auf die sozialen Spannungen dieser Übergangszeit wirft [5].
Räume, Regeln, Rebellen – Innovationskultur im Nordschwarzwald
Vor diesem Hintergrund ist der Campus Schwarzwald die Fortsetzung einer langen Geschichte ökonomischer Transformation. Er steht beispielhaft für die aktuelle Entwicklungsphase der Region, in der Automatisierung und KI wichtige Innovationstreiber sind und die Gesellschaft verändern.
Aus dem Wechselspiel von geschützten Räumen, verlässlichen Regeln und dem unkonventionellen Geist der Rebellen erwuchs eine Innovationskultur, die den Schwarzwald bis heute kennzeichnet und den Campus Schwarzwald antreibt.
Räume: Der Schwarzwald war und ist ein Randraum mit besonderen topographischen Bedingungen wie Abgeschiedenheit, engen Tälern und dichtem Wald. Diese Räume forderten seit jeher Eigenständigkeit, Anpassungsfähigkeit und einen ausgeprägten Nachhaltigkeitsgedanken. Sie boten aber auch Schutzräume für Innovation, da man hier in relativer Ruhe neue Technologien und Verfahren ausprobieren konnte.
Regeln: Die Region war historisch geprägt von Zünften, genossenschaftlichen Strukturen und später mittelständischen Betriebsmodellen. Diese Spielregeln stärkten Gemeinsinn, Qualitätssicherung und Stabilität, ein Fundament, auf dem bis heute viele erfolgreiche Unternehmen ruhen.
Rebellen: Innovation entsteht nicht nur aus Regeln, sondern auch aus ihrem Bruch. Die Schwarzwälder Tüftler:innen waren Vordenker:innen, die bestehende Lösungen infrage stellten. Immer wieder brachen Einzelne mit Traditionen und eröffneten dadurch neue Märkte. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Jahresrhythmus. Während die Wintermonate, in denen die landwirtschaftliche Arbeit ruhte und Schnee die Täler einschloss, für handwerkliche Detailarbeit und die Entwicklung neuer Geräte genutzt wurden, boten die Sommermonate Gelegenheit, als Wanderhändler oder reisende Handwerker in der weiteren Welt Ideen und Anregungen zu sammeln. Diese Kombination aus häuslicher Tüftelei im Winter und praktischer Erfahrung im Sommer trug wesentlich zum Ruf der Region als Erfinderlandschaft bei, eine Haltung, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Heute zeigt sich diese Haltung, die Region als Standort für angewandte KI zu etablieren und den globalen Technologiewandel aktiv zu gestalten. Die gleiche kreative Unabhängigkeit, die einst Werkstätten und Feinmechaniker antrieb, prägt heute die Forscher:innen und Ingenieur:innen im Umgang mit Künstlicher Intelligenz. Hier wird nicht nur programmiert, sondern getüftelt – an Lösungen, die regionale Stärke mit globaler Technologie verbinden.
Herausbildung des Mittelstandsmodells
Die wirtschaftliche Struktur des Nordschwarzwalds wandelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts von einer überwiegend land- und forstwirtschaftlich sowie handwerklich geprägten Region hin zu einem Standort industrieller Fertigung. Ausgangspunkt war die Verbindung traditioneller Waldwirtschaft mit feinmechanischen Handwerken, insbesondere der Uhren- und Werkzeugherstellung. Schon früh bildeten sich Netzwerke kleiner Werkstätten und Betriebe, die ihre Spezialisierung in Nischenmärkten nutzten und damit ein Modell entwickelten, das später als „baden-württembergischer Mittelstand“ charakterisiert wurde [6].
Mit der Ersten Industriellen Revolution gewannen mechanische Werkstätten, Textilfabriken und metallverarbeitende Betriebe an Bedeutung. Die Region profitierte von Wasserkraft, reichlich Holz und einem engen Austausch mit den Universitäten und technischen Hochschulen in Karlsruhe und Stuttgart [7]. Familiengeführte Unternehmen setzten zunehmend auf Export und legten damit den Grundstein für die Tradition der sogenannten Hidden Champions.
Beeindruckende Beispiele für diese Entwicklung sind bis heute sichtbar:
- Nedo GmbH & Co. KG (gegründet 1901) entwickelte sich vom klassischen Messwerkzeugproduzenten zum Anbieter hochpräziser digitaler Messtechnik für das Bauwesen [8].
- ARBURG GmbH + Co KG (1923) ging aus einer feinmechanischen Werkstatt hervor und spezialisierte sich ab den 1950er Jahren auf Kunststoff-Spritzgießmaschinen. Heute gilt das Unternehmen als globaler Technologieführer im Kunststoffmaschinenbau [9].
- fischerwerke GmbH & Co. KG (1948) wurde mit dem innovativen Dübel weltbekannt und baute seine Kompetenzfelder bis in die Systemtechnik aus [10].
- Robert Bürkle GmbH (1920) baute seine Kompetenz in Pressen- und Beschichtungstechnologien aus, die heute weltweit in der Holz- und Photovoltaikindustrie eingesetzt werden [11].
- J. Schmalz GmbH (1910) begann als Hersteller von Rasierklingen und einfachen Haushaltswaren und entwickelte sich ab den 1980er-Jahren zum führenden Anbieter von Vakuumtechnik für Automatisierung und Logistikprozesse [12].
- HOMAG Group AG (1960) entwickelte sich rasch zum Weltmarktführer im Maschinenbau für die holzverarbeitende Industrie [13].
Die Gründung des Campus Schwarzwald 2016
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts standen die Unternehmen des Nordschwarzwalds vor neuen Herausforderungen:
- Digitalisierung und Industrie 4.0 stellten Anforderungen an Automatisierung, Datenanalyse und Vernetzung.
- Der Fachkräftemangel verschärfte den Druck auf die Region, attraktive Ausbildungs- und Forschungsperspektiven zu bieten.
- Unternehmen suchten nach Wegen, Forschung und Praxis enger zu verzahnen, um ihre Innovationskraft langfristig zu sichern.
Vor diesem Hintergrund wurde 2016 der Campus Schwarzwald als Forschungs- und Innovationsplattform in Freudenstadt gegründet, getragen von regionalen Unternehmen und Kommunen [14]. Der Campus ist keine klassische Hochschule mit eigenem Studienbetrieb. Vielmehr fungiert er als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Wirtschaft: Studierende, Forschende und Unternehmen arbeiten hier gemeinsam an praxisnahen Projekten, die Forschungsergebnisse direkt in industrielle Anwendungen überführen.
Er unterscheidet sich von klassischen Hochschulstandorten durch seine konsequente Ausrichtung auf den Mittelstand: Forschung findet hier nicht im Elfenbeinturm statt, sondern in direkter Zusammenarbeit mit Industriepartnern, Handwerksbetrieben und Start-ups. Dadurch wird wissenschaftliche Erkenntnis unmittelbar in marktfähige Anwendungen überführt – ein Modell, das in Deutschland einzigartig ist.
Von Beginn an standen die Schwerpunktthemen Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Führung im Mittelpunkt, genau jene Felder, die Unternehmen fit für die Zukunft machen und die praxisorientierte Ingenieursausbildung mit anwendungsnaher Forschung verbinden.
Unter diesen drei Schwerpunktthemen vereint der Campus Schwarzwald acht Kompetenzfelder, die Forschung, Entwicklung und Transfer verbinden:
- New Energy Technologies: energieeffiziente Produktionsprozesse für neue Technologien, wie Brennstoffzellen und Energiespeicher.
- Machine Learning & Artificial Intelligence in der Produktion: Künstliche Intelligenz, um Prozesse zu optimieren, Fehler frühzeitig zu erkennen und Wartungsprognosen zu ermöglichen.
- Robotik & Automatisierung: intelligente Fertigungssysteme mit Mensch-Roboter-Kollaboration.
- Strategie-, Geschäftsmodell- und Organisationsentwicklung: resiliente und zukunftsfähige Unternehmensstrukturen.
- Industrial Security: Schutz vernetzter Produktionssysteme gegen Cyberbedrohungen.
- Digitales Engineering: Digitale Zwillinge und intelligente Entwicklungsprozesse.
- Wirtschaftlich orientierte Nachhaltigkeit: praxisnahe Ressourceneffizienz.
- Funktechnologie: drahtlose Kommunikation für industrielle Anwendungen und Industrial Internet of Things (IIoT)-Systeme.
Der Campus Schwarzwald verbindet Mittelstand und Hochschulen wie das KIT, die Universität Stuttgart und die Hochschule Reutlingen und vereint Forschungsexzellenz, industrielles Know-how und mittelständische Stärke. So gelangen wissenschaftliche Erkenntnisse direkt in die Anwendung – bis hin zu KI- und Automatisierungslösungen.







