„Technologie darf nie Selbstzweck sein“
Im Gespräch mit Benjamin Wulf, Publicis Sapient
Kurz und bündig
Die digitale Transformation unserer Gesellschaft verstärkt den Druck auf Industrieunternehmen. Im Wettbewerb entscheidet nicht mehr der Preis, sondern das Kundenerlebnis. Professionelle Service-Design- Prozesse sind ein wichtiger Schlüsselfaktor für die Bereitstellung neuer Geschäftsmodelle, die die analoge Welt mit der digitalen verbinden und sowohl bestehende als auch neue Kunden begeistern.
Neue Technologien beschleunigen die Entwicklung und Bereitstellung von Produkten und entwerten so den Differenzierungsfaktor Preis. Heute entscheidet das Produkterlebnis über die Produktwahrnehmung des Kunden – und lässt so die digitale und die analoge Welt miteinander verschmelzen. Professionelle Service-Design-Prozesse unterstützen Unternehmen bei der Gestaltung von ganzheitlichen Produkterlebnissen sowie neuen Geschäftsmodellen und werden so zu einem wichtigen Erfolgsfaktor des digitalen und ökologischen Wandels.
IM+io: Welche Herausforderungen sehen Sie derzeit für Industrieunternehmen?
BW: Bisher haben die meisten Unternehmen versucht durch die Optimierung von Produktionsprozessen und die damit verbundenen Kosteneinsparungen gegen den Wettbewerb zu bestehen. Diese Strategie ist überholt. Dank moderner Informationstechnologie können Produkte heute modular und damit viel schneller in den Markt getrieben werden. Nun ist es nicht mehr der Preis, der über die Akzeptanz entscheidet, sondern das gesamte Produkterlebnis. Dieses kommt allerdings nicht ohne attraktive Serviceleistungen und neue Geschäftsmodelle aus. Die Herausforderung für Unternehmen besteht darin, diese Erkenntnis umzusetzen und den bestehenden Produktkern sinnvoll zu erweitern.
IM+io: Was genau ist ein „Service-Design-Prozess“ und wie kann er hierbei unterstützen?
BW: „Service-Design“ ist ein strukturiertes Vorgehen zur Gestaltung von so genannten „Intangible Products“ – Güter, die man nicht anfassen kann. Entwickelt wird nicht – wie bei klassischen Produkten üblich – aus der Ingenieursperspektive heraus, sondern mit Blick auf den Kunden und dessen Nutzen. Mithilfe von professionellen Service-Design-Prozessen können Unternehmen neue Sichtweisen einnehmen und sich viel besser in den Endkunden hineinversetzten. Marken, die mithilfe dieser Vorgehensweise neue Geschäftsmodelle etablieren, werden sich langfristig behaupten können – auch in einer zunehmend digitalen Welt.
IM+io: Und was ist “Digital-Service-Design“?
BW: Beim Digital-Service-Design geht es um den gleichen Prozess – jedoch reduziert auf die digitale Welt. Dieser Begriff ist mit Vorsicht zu genießen: Rein digitale Services gibt es in der Praxis fast nie. Schauen wir uns zum Beispiel den Online Lieferdienst Lieferando an: Auf den ersten Blick scheinen die Prozesse komplett digital abzulaufen. Der Kunde bestellt online, bezahlt online und verfolgt seine Bestellung online. Eine mindestens genauso wichtige Rolle aber spielen die analogen Bestandteile: der Fahrer, sein speziell für Lieferando hergestellter Rucksack und natürlich das Essen, das von einem Partnerunternehmen zubereitet wird. Es entsteht eine einmalige Service-Erfahrung – und die ist nicht nur digital, sondern eben auch analog.
IM+io: Was macht ein erfolgreiches Intangible Product aus Ihrer Sicht aus?
BW: Viele Unternehmen glauben, dass ein einfaches digitales Add-on oder ein neuer After-Sales- Service ausreichen, um zusätzliches Geschäft zu generieren. Das ist jedoch nur in den seltensten Fällen so. Auch die reine Technologie überzeugt den Kunden nicht. Sie darf nie Selbstzweck sein. Der Kunde bezahlt in der Regel nur für durchdachte End-to-End-Services, in denen er über so genannte „Touchpoints“ immer wieder mit dem Produkt in Berührung kommt, sich aber niemals „weitergereicht“ fühlen darf. Dazu muss er stets die Kontrolle über den Prozess behalten. Vermeintliche „Spielereien“, wie die Echtzeitverfolgung des Fahrers bei Lieferando, steigern durch das Gefühl der Kontrolle die Service- Attraktivität und werden so zu einem echten Wettbewerbsvorteil.
Gleichzeitig müssen die Abläufe im Hintergrund funktionieren und die dort beteiligten Personen begeistern. Wie beim Theater: Die Vorstellung auf der Bühne, der sogenannten Frontstage, wird nur dann ein echter Erfolg, wenn auch Backstage alle an einem Strang ziehen. Gutes Service-Design verbindet die Kundensicht mit der des Anbieters und stiftet einen Mehrwert für alle. Um beim Beispiel Lieferando zu bleiben: Der Kunde findet die Live-Verfolgung des Fahrers nur dann interessant, wenn der Dienstleister seine Hausaufgaben gemacht hat, das Essen schmeckt und rechtzeitig ankommt.
IM+io: Welche Methoden werden beim Service-Design eingesetzt?
BW: Design ist ein Prozess. Er ist nur dann gut, wenn er kundenzentriert und diszipliniert abläuft. Wie bei anderen Design-Prozessen auch, geht es darum, das Problem eines Menschen zu lösen. Hier kann man sich bewährter Methoden aus dem Designresearch bedienen – etwa Tiefeninterviews oder Beobachtungsstudien. Zur Betrachtung des gesamten End-to-End-Services können „Customer Journeys“ oder „Experience Maps“ eingesetzt werden, die die einzelnen Touchpoints und Nutzenpotenziale aufzeigen.
Um auch die Anbieterseite mit ins Boot zu holen, bietet es sich zudem an, den Service, der in der Entstehungsphase noch nicht greifbar ist, mit Storyboards zu skizzieren, sowie mit einem Service- Blueprint die Prozesse auf der Front- und Backstage in Verbindung zu setzen. Wichtig ist, die Sequenz und Sorgfalt für die Details einzuhalten und iterativ zu arbeiten. Sollte ein bestimmter Aspekt der Service-Erfahrung, z.B. ein Online-Formular im Nutzer-Test, nicht funktionieren, darf man keine Angst davor haben, noch einmal einen Schritt zurückzugehen. Auch Co-Design-Workshops eignen sich, in denen alle Stakeholder-Perspektiven zusammengebracht werden.
IM+io: Kennen Sie Beispiele, bei denen ein durchdachtes Service-Design einen entscheidenden Erfolgsfaktor darstellt?
BW: Als ich mein Design-Studium im Jahr 2009 abschloss, hatte im Markt noch kaum jemand etwas von Service-Design gehört. Alle waren überrascht, dass „Design etwas anderes macht als Plakate und Stühle“. Seitdem hat sich sehr viel getan: Es gibt heute einige Anbieter, die es schaffen, Kunden mit ihren Services zu begeistern. Ein Beispiel für gelungenes Service-Design ist der Carsharing-Service Car2go: Die diversen Touchpoints wie Mobile App, Website, Fahrzeug, Tankkarte oder Kommunikation, sind so aufeinander abgestimmt, dass es sich für den Kunden wie eine nahtlose Service-Erfahrung anfühlt. Man kann sich über die Website anmelden, über die App unkompliziert ein Fahrzeug finden, öffnen und einfach losfahren. Die Abrechnung erfolgt automatisch.
IM+io: Was raten Sie Unternehmen aus dem klassischen Produktgeschäft, die digitale Services anbieten wollen?
BW: Service-Design ist kein in sich geschlossenes Projekt, sondern ein kontinuierlicher Prozess. Mit jeder Kundeninteraktion lernt man mehr über den Kunden und mit der Zeit verändern sich die Nutzerbedürfnisse – und damit auch die Services. Betrachtet man die Entwicklung der vergangenen Jahre, wird deutlich, dass viele Unternehmen eine Art „Überkompetenz“ für die Kosten- und Prozessoptimierung entwickelt haben. Nun stehen sie vor der Herausforderung, sich umzuorganisieren und die Fähigkeit aufzubauen, neue Services systematisch aus dem Boden zu stampfen. Agenturen und Unternehmensberatungen können hierbei helfen. Damit die notwendige Dynamik entstehen kann, ist jedoch eine enge Zusammenarbeit und ein langer Atem gefragt.
Besonders für umfangreiche Services bietet es sich an, einzelne Prozessstränge in die Hände kleinerer „Journey Teams“ zu legen. Bei der Gestaltung eines Online-Services für Bankkunden, würde man diesen zum Beispiel in die Prozesse „Bankkonto eröffnen“ und „Kredit beantragen“ unterteilen. Besteht noch gar keine Service-Design-Erfahrung, hat sich aus meiner Sicht das so genannte „Tandem-Modell“ bewährt. Hierbei wird dem beteiligten Mitarbeiter ein externer Experte an die Seite gestellt, der den Prozess gemeinsam mit dem zuständigen Mitarbeiter durchläuft – „learning by doing“. Grundsätzlich würde ich zudem jedem empfehlen, die Augen aufzuhalten und zu analysieren, welche Services man selbst nutzt, was einem gut gefällt, was nicht, und warum. Das kann oft sehr aufschlussreich sein.
IM+io: Wie wird sich die Welt der digitalen Services in der Zukunft entwickeln und welche Rolle spielt dabei das Thema Digital-Service Design?
BW: Es wird künftig noch einfacher werden, digitale Services mit „out-of-the-box“ Technologien bereitzustellen. Deshalb wird die Anzahl an attraktiven Angeboten weiter steigen. Intangible Products werden eine tragende Rolle in der Wertschöpfung einnehmen, mit bestehenden Kunden neues Geschäft generieren oder ganz neue Kundengruppen erschließen. Und das gilt nicht nur für Online-Unternehmen wie Amazon, Apple und Co. Auch Industrieunternehmen werden sich künftig neu aufstellen. Denn der Druck zur aktiven Umgestaltung steigt – nicht nur in technologischer Hinsicht. Auch der Klimawandel wird Unternehmen früher oder später stärker in die Verantwortung ziehen. Digitale Services werden hier eine Schlüsselrolle einnehmen.
Firmen wie Rolls-Royce sind bereits heute auf einem guten Weg: Der Hersteller für Flugzeugturbinen hat sein Geschäftsmodell geändert. Statt eines Triebwerks, kaufen Kunden jetzt Betriebszeit und Schub. Der physische Besitz bleibt beim Hersteller, der daran interessiert ist, dass die Turbine länger hält. Ein weiteres Beispiel, welches an dieser Stelle zu nennen ist, ist sicher auch der bereits erwähnte Carsharing-Anbieter Car2go. Ganz nach dem Motto: „Weniger Besitz, mehr Spaß am Konsum.“