Smart City ist in aller Munde, aber in Deutschland, das gerade einmal vier Städte mit mehr als einer Million Einwohner verzeichnen kann – gleichbedeutend mit nur 9% der Bevölkerung in Deutschland –, sucht der Betrachter die hochtechnisierten Mega-Cities vergeblich. Berlin liegt mit seinen 3,4 Millionen sogar weltweit nur auf Platz 57. Es zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass 56 Millionen Deutsche (75%) in Städten mit weniger als 100.000 Einwohnern leben. In Flächenländern wie Rheinland-Pfalz lebt die Hälfte der Bevölkerung sogar in Gemeinden mit weniger als 7000 Einwohnern. Die wahren Mega-Cities sind also weit entfernt. Was wäre aber Deutschland ohne das Land? Und wie will man eine Zukunft für Deutschland gestalten, wenn man sich dazu verleiten lässt, allzu sehr auf die Diskussion um Smart Cities zu fokussieren?
Vollkommen zu Recht gilt es, die ländlichen Regionen auf die politische Agenda zu setzen, denn abseits von positiven Trends wie Konjunktur- und Exportdaten und konsolidierten Bundeshaushalten droht die ländliche Region, abgehängt zu werden. Der stete Strukturwandel, die Konsequenzen aus der Bevölkerungsentwicklung unter Einschluss des demografischen Wandels, eine wirtschaftliche Anpassung aufgrund der Notwendigkeit der strengen Ausgabendisziplin in den öffentlichen Haushalten –all dies führt in der Konsequenz dazu, dass es zunehmend schwieriger wird, alle Leistungen des Staates in der gewohnt hohen Qualität über das ganze Land verteilt anzubieten. Doch digitale Dienstleistungen und Anwendungen bieten unschätzbare Möglichkeiten, um die Arbeits- und Lebensqualität in den ländlichen Regionen zu fördern und so einen Weg zu beschreiten, der zukünftig neben dem Marketingbegriff der Smart City auch die Smart Rural Areas in den Fokus rücken wird.
Zukunft Land
Der ländliche Raum ist nicht nur Sehnsuchtsort gestresster Stadtromantiker, er ist ebenso wichtiger Markt und Wirtschaftsstandort. Bereits heute findet man 60% aller Betriebe in den ländlichen Regionen Deutschlands, darunter viele kleine und mittelständische Unternehmen. Die digitale Transformation traditioneller und kränkelnder Wertschöpfungsketten bedeutet auch für die Regionen, dass sich Unternehmen, die die digitale Revolution überstehen wollen, mit der disruptiven Kraft innovativer Geschäftsmodelle auseinandersetzen müssen. Sie betrifft alle Branchen und Unternehmen jeder Größe.
Die besondere Herausforderung ländlicher Regionen – sowohl bei der Gewährleistung öffentlicher Dienstleistungen und Infrastrukturen als auch bei der Etablierung innovativer Geschäftsmodelle von Unternehmen – liegt in ihrer dünnen Besiedlung. Im Vergleich zu Städten müssen sehr große Flächen versorgt werden, um vergleichsweise wenige Bürger erreichen zu können. Dies bedeutet insbesondere für die Bereiche Mobilität und Logistik bis hin zur medizinischen Versorgung eine gewaltige Aufgabe. Je tausend Einwohner rechnet man hier häufig mit einer Fläche von mehr als zehn Quadratkilometern. Das Resultat ist, dass schon heute nur noch jeder dritte Bewohner ländlicher Regionen in Deutschland einen Supermarkt in fußläufiger Entfernung bis zu einem Kilometer erreichen kann, wie eine Anfrage der Grünen im Bundestag ergab.
Deshalb ist eine flächendeckende IT-Infrastruktur der zukünftige strategische Wettbewerbs- und Standortvorteil Nummer Eins, der Unternehmen und Familien gleichermaßen anziehen wird. Denn sie schafft Möglichkeiten und Voraussetzungen für neue Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsketten. Bereits jetzt wird Software immer stärker als Enabler neuer innovativer Dienstleistungen in allen Branchen der Wirtschaft sowie in anderen gesellschaftlichen Bereichen genutzt. Entscheidend ist jedoch bei Anwendungen in den Bereichen Mobilität, Energieversorgung, Gesundheitsversorgung, Produktion oder Sicherheit, dass diese Software konsistent hohen Qualitätsstandards entspricht. Hier ist die Forschung in Deutschland gefragt, Lösungen bereitzustellen.
Innovative Wege einer neuen Arbeits- und Lebensqualität
Industrie 4.0, Cloud-Computing, Big Data, Security und Safety greifen immer stärker ineinander und in unsere Lebenswelt hinein; neue Technologien integrieren sich immer mehr in unseren Alltag. Die Massenpersonalisierung der vierten industriellen Revolution sorgt dafür, dass Produkte und Dienstleistungen auf individuelle Bedürfnisse und Nutzungsbedingungen zugeschnitten werden. Hochautomatisierte bis komplett autonome Systeme übernehmen Aufgaben und optimieren die Lebenshaltung in jeder Situation. Die Maximen Autonomie und Flexibilität durchdringen Gesellschaft und Produktion. Anstelle eines statischen Produkts rücken vielmehr die Dienste und Services in den Vordergrund. Wie sieht also die technische Architektur der Welt von morgen aus? Wie wird den besonderen Anforderungen des ländlichen Raumes Rechnung getragen?
Informationstechnologie wird an verschiedenen Stellen eine Schlüsselrolle einnehmen. Zum einen ermöglicht es uns die IT, Distanzen erst gar nicht physikalisch überbrücken zu müssen, denn durch Heimarbeitsplätze, neue Konzepte der Bildung und innovative Einkaufserlebnisse wird man auf viele zeitraubende Fahrten verzichten können. Wenn man reisen muss, bildet Software auch die Grundlage für Zukunftstechnologien wie das autonome Fahren, das uns nicht nur das Reisen komfortabler gestalten wird, sondern auch kranken und älteren Bürgern ihre Mobilität erhalten wird. Die größte Herausforderung wird allerdings dort entstehen, wo Systeme über traditionelle Branchengrenzen hinweg zusammenarbeiten werden müssen. Denn gerade auf dem Land werden sich wirtschaftlich tragfähige Lösungen nur durch die effiziente, gemeinsame Nutzung von Ressourcen über die Grenzen etablierter Silos hinweg erreichen lassen. Wenn Pakete beispielsweise nicht mehr nur über den Paketdienst transportiert werden, sondern eine Mitfahrgelegenheit im Personennahverkehr und sogar in privaten Fahrzeugen erhalten – ähnlich wie digitale Mitfahrdienste das Fahren per Anhalter als sichere und komfortable Transportmöglichkeit in die Zukunft geführt haben. Dazu müssen unterschiedlichste Systeme zusammenarbeiten, vom intelligenten Adressaufkleber und Lesegeräten im Fahrzeug über Smartphone-Apps bis hin zur übergreifenden Koordination und Optimierung im Zusammenspiel von dem Logistiksystemen und Personentransport unterschiedlichster Anbieter. Dadurch werden die Ressourcen Fahrzeug und Fahrer effizient genutzt, sodass sich trotz der geringen Kundendichte in ländlichen Räumen wirtschaftlich interessante Geschäftsmodelle entwickeln lassen: Eine per App koordinierte Sharing-Mobility-Plattform verbindet Bürgerbus, Privatauto und öffentliche Verkehrsmittel, errechnet die beste Verbindung und liefert diese zum gewünschten Zeitpunkt. So entsteht ein Echtzeit-Fahrplan und ein Transportplanungssystem in einem und erlaubt es dem Kunden, seinen Weg zur Arbeit zu planen.
In den Städten besteht meist ein nahtloses öffentliches Verkehrsnetz und Smart-City-Lösungen helfen dem Bürger, dieses Transportökosystem optimal zu nutzen. Software hilft dem Menschen, sich optimal und individuell an eine Infrastruktur anzupassen, die für den Transport von Massen ausgelegt ist. Auf dem Land gibt es eine solche Infrastruktur zumeist gar nicht. Transportmöglichkeiten müssen erst geschaffen werden – durch Bürgerbusse oder zukünftig durch das autonome Fahren. IT-Lösungen in Smart Rural Areas passen also das Transportökosystem optimal und individuell an den Menschen an, um für ihn und seine Waren eine maßgeschneiderte und dennoch wirtschaftlich tragfähige Transportmöglichkeit zu schaffen.
Innovative Smart Ecosystems
Während Smartphones und das Internet nur die Spitze des Eisbergs einer digitalen Gesellschaft und Wirtschaft darstellen, wird Software im Verborgenen das zentrale Nervensystem bilden, das alle Systeme branchen- und technologieübergreifend von den Sensoren und Aktuatoren bis zur Cloud in ein intelligentes Kollektiv verbinden wird.
Die Vernetzung heterogener Systeme ist der entscheidende Faktor. Smart Ecosystems stellen die notwendige nächste Evolutionsstufe dar. Sie schlagen eine Brücke zwischen den Systemklassen. Der Begriff des Ökosystems ist aus der Biologie bekannt und bezeichnet dort ein System, das sich aus interagierenden Organismen und ihrer Umwelt ergibt. Ein Smart Ecosystem besteht aus unterschiedlichen Systemen, die wie biologische Organismen miteinander interagieren, um bestimmte Ziele zu erreichen, und dabei Umgebungseinflüsse berücksichtigen müssen. Smart Ecosystems im technischen Sinne enthalten typischerweise sowohl Informationssysteme als auch technische Systeme, die in vielfältiger Weise beispielsweise über Sensoren und Aktuatoren mit ihrer Umgebung vernetzt sind und mit den Menschen in ihrer Umgebung interagieren. Ein typisches Beispiel für ein Smart Ecosystem können die genannten integrierten Mobilitätslösungen sein, die in der Lage sind, unterschiedliche Verkehrsmittel gemeinsam intelligent zu nutzen.
Diese Systeme sind die Grundlage aller Diskussion über Industrie 4.0 und das Internet der Dinge. Denn es besteht dringender Handlungsbedarf bei der Kombination von Anwendungsbereichen, etwa in den bereichsübergreifenden Wertschöpfungsnetzen der Industrie 4.0, im Zusammenspiel unterschiedlicher Wirtschaftsbereiche (Logistik, Handel, Energieversorgung) oder in der übergreifenden Nutzung von Daten und Diensten im Alltag (Smart Home, eCommerce, eHealth). Was es bedeutet, wenn eingebettete Softwaresysteme untereinander und über Systemgrenzen hinweg aktiv zusammenarbeiten, lässt sich auch im Smart Farming demonstrieren: Landwirte steuern die Maschinen über ihre mobilen Endgeräte, automatisierte Lenksysteme ermöglichen teilautomatisiertes und zentimetergenaues Fahren, die Erntemengen werden elektronisch kartiert. Der Landwirt kann unterwegs auf Auftragspläne, Wetterdaten und die Ertragskarten zugreifen und den Arbeitsprozess und die Maschinen optimal steuern, indem er das Ernten eines bestimmten Feldes auf dem Tablet anlegt und an Mitarbeiter und Maschinen sendet. Dafür müssen die Maschinen Daten empfangen und auswerten können und untereinander kommunizieren. So kann die Erntemaschine befähigt werden, dem Traktor mitzuteilen, dass beispielsweise die Fahrtgeschwindigkeit die Aufnahmefähigkeit beim Ernten überschreitet, und das Tempo wird folgerichtig gedrosselt. Ein anderes Beispiel aus dem Landwirtschaftsbereich ist die Düngung: Die das Feld bearbeitenden Maschinen erfassen automatisch die über Sensoren gemessenen Boden- und Pflanzenparameter, woraus ein optimierter Düngemitteleinsatz für das gesamte Feld entsteht. Die Düngung wird spezifischer eingesetzt, Kosten werden gespart und der Ertrag wird erhöht.
Die wichtigsten Herausforderungen, denen sich Smart Ecosystems stellen müssen, ergeben sich also primär aus der Beherrschung der Komplexität der Dienste und der Heterogenität der Systeme. Weiterhin müssen die siloübergreifenden, modularen Lösungen allen Ansprüchen an Qualität, Security und Safety genügen sowie eine positive User Experience für interaktive Systeme schaffen. Die Kommunikation zwischen unabhängig entwickelten Systemen erfordert zudem die weitere Entwicklung von Standards und Regeln zur Kommunikation. Neben der Realisierung der Funktionalität ist die Gewährleistung einer Ende-zu-Ende-Qualität über alle Systeme und Branchen in der Verarbeitungskette hinweg eine zentrale Herausforderung.
Perspektive Digitale Dörfer
Eines darf allerdings nicht vergessen werden: Eine Zukunft, wie wir sie uns in Deutschland vorstellen, gibt es nicht ohne die Menschen. Und schon gar nicht ohne junge Menschen und ohne Kinder. Wie gelingt es uns also, auch die hochqualifizierten jungen Menschen, die es in die Ballungszentren zieht, für eine Renaissance der Region zu begeistern?
Geschieht das nicht, wird die Vergreisung zunehmen. Aufgrund der Alterspyramide wird es in den nächsten Jahren immer mehr ältere Menschen geben. Doch das hat bei aller langfristigen Problematik nicht nur Nachteile, denn die Menschen werden in der Zukunft viel länger gesund und fit genug sein, um mit ihrer kreativen Kraft, ihrem Engagement und ihrer Erfahrung neues Leben und wertvolle Impulse in ihre Heimat zu bringen. Sie sind ein kostbares Saatkorn, wenn es darum geht, das tägliche Leben in dörflichen Regionen wieder erwachen zu lassen. Sie sind zwar alt, aber noch weit davon entfernt, Greise zu sein. Bald geht nun auch die Generation der Babyboomer in Rente. Ziehen diese dann alle in die Stadt „ins betreute Wohnen“, da sie eine Versorgung auf dem Land nicht gewährleistet sehen?
Auch für ältere Menschen können neue Technologien Perspektiven schaffen, die es ihnen ermöglichen, länger selbstständig zu bleiben und ihre gewohnte Umgebung weiterhin nutzen zu können. Es existieren bereits Projekte, in denen erfolgreich zukunftsfähige Versorgungsstrukturen zur Unterstützung älterer Menschen in ihren eigenen vier Wänden entwickelt wurden. Hier liefert insbesondere die Verbindung verschiedener Ansätze neue Erkenntnisse: zum einen die neuere Sensortechnologie des Ambient Assisted Living (AAL) und zum anderen die begleitende Beratung im Sinne präventiver Hausbesuche. Mit AAL werden unauffällige Sensoren und Bewegungsmelder in Wohnungen von älteren Projektteilnehmern installiert, die diskret und geschützt Informationen über deren Lebensabläufe sammeln. Damit ist es auch möglich, Abweichungen wie Situationen der Hilflosigkeit oder Risiken eines Selbstständigkeitsverlustes zu erkennen. Zugleich werden die älteren Menschen von eigens geschulten Beratern naher Pflegestützpunkte begleitet und beraten. Hier bietet die Technik also die Grundlage für Strukturen, die auch ein Mehr an zwischenmenschlicher Interaktion und individueller Wertschätzung ermöglichen. Die Telemedizin bietet hier noch weiteres Potenzial, denn für ältere Menschen sind zudem Perspektiven zur Mobilität im Alter ausschlaggebend, wozu auch die Erreichbarkeit medizinischer Versorgung gehört.
Welche Voraussetzungen müssen geschaffen werden, damit Jung und Alt in den ländlich geprägten Regionen bleiben? Das „Landleben“ muss attraktiver werden. Attraktivität bedeutet auch, dass Wohnen, Leben, Arbeiten für alle Generationen attraktiv sein muss. Welche Motivation haben junge Familien, qualifizierte Arbeitnehmer oder Unternehmer, aufs Land zu ziehen? Es muss natürlich mehr als ein Mindestmaß der Grundversorgung gewährleistet sein, es müssen neue und flexible Jobs und Arbeitsmodelle entstehen, die Schulbildung der Kinder muss durch innovative Konzepte auf hohem Niveau gewährleistet sein und vieles mehr. Neue Technologien bieten die genannten Chancen! Dazu gehören auch Herausforderungen wie das autonome Fahren, die Möglichkeiten von Sharing-Konzepten oder On-Demand-Bürgerbussen, die gleichzeitig als Lieferdienste für Waren und Medikamente genutzt werden. Sehen junge Familien und qualifizierte Arbeitnehmer diese Chancen und entscheiden sich für ein Leben auf dem Land, werden ländliche Regionen auch (wieder) attraktiv für mittelständische Unternehmen und Fabriken. Die Abwärtsspirale ist unterbrochen und die Renaissance der Region kann erfolgen.
Der digitale Wandel ist ein Prozess, der einerseits bei der Verwaltung ansetzen muss, andererseits aber gemeinsam mit den dort lebenden Menschen partizipativ und in aktiver Partnerschaft mit Wirtschaft und Wissenschaft vorangetrieben werden muss. Im Dialog, in der Erprobung, in der Auseinandersetzung wächst die Akzeptanz für ein „Smart Anything Everywhere“. Aber ohne die Politik und ohne die Öffentlichkeit wird die digitale Transformation nicht gelingen. Nur gemeinsam werden gute Beispiele sichtbar, erzielen Wirkung und Handlungsdruck, um die ländlichen Regionen wieder zu einem Ort der Zukunft werden zu lassen.
Punktuelle Ansätze werden nicht genügen. Ganzheitlich und entschlossen muss das Projekt Zukunft in die Wege geleitet werden. Politisch gewollt und flankiert durch die Unterstützung einer aktiven Bürgerschaft wird die Wissenschaft Chancen aufzeigen und in enger Kooperation mit Partnern aus der Wirtschaft innovative Dienste und Wertschöpfungsketten erarbeiten, die zu einer nachhaltigen Renaissance der ländlichen Regionen beitragen werden.
Smart-Rural-Areas-Initiative
Das Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering steht weltweit für empirisch untermauerte Methoden und Prozesse für die industrielle Software- und Systementwicklung. Die Smart-Rural-Areas-Initiative ist das zentrale Forschungsprogramm des Fraunhofer IESE. Kontaktieren Sie uns und werden Sie mit uns aktiv an der Schnittstelle zwischen Forschung, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft – für die Zukunft der dörflichen Region.
Links:
Forschungs-Initiative „Smart Rural Areas“
Projekt „Digitale Dörfer“ mit dem Land Rheinland-Pfalz
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Mario Trapp, Gerald Swarat