IM+io: thyssenkrupp ist Mitglied der ersten Stunde des Anwendervereins Industrial Data Space e.V. Was ist genau die Zielstellung?
RA: Die digitale Transformation – und damit fassen wir bewusst das Thema Industrie 4.0 etwas breiter und beziehen uns nicht nur auf die Industrie, sondern auf die ganze Gesellschaft, inklusive Industrie – bedeutet einen nachhaltigen Wandel. Dadurch werden wir zukünftig in allem, was wir tun, sehr viel performanter und effizienter sein. Dabei haben Daten einen besonderen Wert. Wir haben uns gefragt, wie man diesen Wert nicht nur grundsätzlich nutzen, sondern aus der Kombination von immer mehr Daten einen noch größeren Wert generieren kann. Ein äußerst wesentlicher Punkt ist es hierbei, diese Daten in einem sicheren Raum austauschen zu können. Aus diesem Grund haben wir das Thema Industrial Data Space aufgegriffen. Die Idee kam von Fraunhofer und wurde von der Bundesregierung über ein Forschungsprojekt gefördert. Wir als thyssenkrupp wurden angefragt, wie wir dazu stehen. Für uns ist dieses Thema eindeutig wichtig und unterstützenswert! Wir wollen mit unseren Partnern Daten so austauschen, dass derjenige, der die Daten generiert hat, auch Eigentümer der Daten bleibt und bestimmen kann, was mit seinen Daten passiert, was die Datennutzung gegebenenfalls kostet und wie lange die Daten gültig sind. Die Grundidee ist eine sehr einfache: Wenn Daten übertragen werden, wird mit jedem Datum sozusagen auch ein Vertrag mitgeschickt und der Adressat dieses Vertrages wird mit den Daten nur das tun können, was in dem Softwarevertrag festgelegt ist. Dafür sorgt die Softwareinfrastruktur, die der Industrial Data Space mitbringt.
Bei thyssenkrupp tauschen wir auch bisher Daten mit wichtigen Partnern aus. Dafür müssen mit jedem neuen Partner eigene Protokolle vereinbart werden. Daher brauchen wir eine Standardisierung dieses Datenaustausches, um dann mit Standardprotokollen und Standardmechanismen unseren Aufwand und die Kosten zu reduzieren. Einerseits wollen wir den Wert der Kombination von Daten nutzen, andererseits die Effizienz erhöhen. Das alles erklärt unser Engagement in diesem Projekt.
IM+io:Wer sind dabei Ihre Mitstreiter?
RA: Die Idee ist, einen globalen Standard zu etablieren. Nationale Standards hat es in der Software eigentlich nie gegeben und heute gibt es sie definitiv nicht mehr! Wir brauchen so viele – auch internationale – Mitglieder wie möglich, um eben genau diesen Standard zu setzen. Bei der Gründung waren vor allem Anwender dabei, also nicht die klassischen Softwarefirmen. Der Standard muss dem Anwender dienen, nur dann kann er sich durchsetzen. Jetzt, in der zweiten Phase, wo wir schon über 50 Mitglieder haben, die vorrangig aus dem Anwenderbereich kommen, gehen wir auch stärker auf Softwarefirmen zu, die nun auch die Möglichkeit haben, im Ökosystem Industrial Data Space selbst Software zu vermarkten.
Jeder starke Partner im Verbund des Industrial Data Space ist natürlich zugleich ein Multiplikator. Ziel unseres ersten Projekts auf Basis des Industrial Data Space ist die Optimierung des Be- und Entladeverkehrs für unseren Standort Duisburg. Dieses Projekt implementieren wir zusammen mit unseren Logistikpartnern. Sie haben verstanden, dass im Standard große Chancen liegen. Wenn sie auf standardisierte Protokolle setzen, sind sie auch interessant für andere große Produzenten wie VW, die schon Mitglied im Industrial Data Space sind. Heute haben wir mehr als 60 Mitglieder aus 8 Ländern.
IM+io:thyssenkrupp hat mit dem gerade erwähnten Informationssystem für die LKW-Logistik den ersten Anwendungsfall im Rahmen des Industrial Data Space umgesetzt. Wie sieht die konkrete Umsetzung aus?
RA: thyssenkrupp produziert in Duisburg Stahl, der als Coils, das sind Stahlbänder, die zu Rollen aufgerollt werden, zum Kunden transportiert werden. Diese Coils wiegen bis zu 20 Tonnen. Dazu nutzen wir schwere LKW. Heute müssen die LKW einen festen Zeitpunkt einhalten, zu dem sie an der Be- und Entladestation sein müssen. Das Be- und Entladen von schweren Gütern muss genau geplant werden. Da unser Standort mitten im Ruhrgebiet liegt, sind aber die Ankunftszeiten wegen der Verkehrssituation für die Fahrer nur schwer vorhersehbar. Entweder kommt der LKW zu früh und muss auf seinen Zeitslot warten oder er steht im Stau und kommt später an als erwartet. Er hat dann seinen Slot verpasst und muss neu eingetaktet werden. So entstehen vor den Fabriktoren oft Staus. Das ist extrem ineffizient und kostentreibend. Wenn wir aber wissen, wann der LKW genau ankommt, dann können wir die Be- und Entladeslots dynamisch vergeben. Das ist genau das, was wir jetzt machen. Wir kommunizieren mit unseren Lieferanten oder Logistikpartnern mit einem LKW Management System oder mit dem einzelnen Unternehmer bzw. LKW-Fahrer über eine Smartphone App. Diese Kommunikation läuft über Industrial Data Space. Dabei enthalten die Daten immer den aktuellen Standort des LKW. Über die Routenplanung und über Einbeziehung von Wetter- und Staudaten kann dann die Ankunftszeit des LKWs errechnet werden. Der LKW-Fahrer hat auch die Möglichkeit, Zusatzinformationen einzugeben, also z. B., dass er noch eine Pause machen möchte. Mit diesen Informationen können wir die Ankunftszeit dynamisch vorplanen.
IM+io:Liegt dahinter eine besondere Technologie?
RA: Im Endeffekt sind es ganz normale Kommunikationstechnologien, auf die die Industrial Data Space Protokolle aufgesetzt werden. Das sind z.B. Datenbeschreibungen und Berechtigungen. Die Kommunikation erfolgt durch sogenannte Konnektoren: sowohl der Sender als auch der Empfänger bindet einen Konnektor ein. Dieser Konnektor kennt die Protokolle und arbeitet diese ab. Man kann selbst Verträge schreiben, aber man kann sich auch vorgefertigte Verträge aus einem App Store herunterladen, was für Standardvorgänge absolut Sinn macht.
IM+io:Industrial Data Space e.V. sieht in ihren Initiativen künftig Wettbewerbsvorteile durch neue Geschäftsmodelle, smarte Produkte und Dienstleistungen. Was genau muss man sich darunter vorstellen?
RA: Als thyssenkrupp kommen wir, wie andere Industriepartner auch, aus der Welt der anfassbaren Produkte oder auch von Anlagen, die anfassbare Produkte herstellen. Grundsätzlich wurde in der klassischen Industrie keine Software verkauft. Nachdem thyssenkrupp derzeit durch eine digitale Transformation geht, wollen wir nicht nur anfassbare Güter vermarkten, sondern auch die Kombination aus diesen Gütern und aus Services, die sich auf diese Güter und Anlagen beziehen. Diese Services generieren für die Kunden einen Mehrwert und dieser Mehrwert entsteht zunehmend durch Software. Dazu ein Beispiel aus unserem Unternehmen: thyssenkrupp produziert schon lange Gestänge für Lenkungen in KFZ. Die Lenkung war früher mechanisch und ist dann im Laufe der Entwicklung wegen der höheren Geschwindigkeiten und Belastungen durch die hydraulische Lenkung abgelöst geworden. Heute wird die Lenkung zunehmend elektrisch und in der Konsequenz erfolgt die Steuerung über Software. Wir generieren heute mehr Wert für den Kunden dadurch, dass wir eine hochflexible Lenkung bauen, deren Eigenschaft im Wesentlichen über Software definiert wird. Das Grundprinzip der Kombination von Hardware und Services lässt sich auch für andere Themen anwenden, zum Beispiel dadurch, dass wir zusätzlich zu unseren Produkten auch deren Eigenschaften und Historie abbilden oder auch zustandsorientierte Vorhersagen zu deren Wartungsintervallen – etwa von Aufzügen – machen. Ziel ist es, durch das Wissen über Produkte und durch das Wissen aus unserer Umgebung Mehrwert zu generieren und den Kunden und Partnern anzubieten. So entstehen dann neue Geschäftsmodelle. Aber genau für diesen Datenaustausch brauchen wir standardisierte Protokolle und Verträge, die wir mit unserem Ökosystem etablieren wollen.
IM+io:Blicken Sie mit uns in die Zukunft… wo sehen Sie die Entwicklung der deutschen und vielleicht auch der europäischen Industrie?
RA: Mit dem Industrial Data Space können Partner, die sich noch nicht kennen, kurzfristig über Software einen Datenaustausch aushandeln und vollziehen, ohne dass programmiert werden muss. Dazu beinhaltet die Architektur ein Wörterbuch, in dem nicht nur die Syntax, sondern auch die Semantik beschrieben wird, denn beides wird für den automatischen Datenaustausch benötigt.
Noch bewegen wir uns im Rahmen eines Forschungsprojektes des BMBF, aber je mehr Firmen dazukommen, umso mehr kommerzielle Lösung werden entstehen. Das stärkt auch die deutsche IT-Industrie. Dies gilt natürlich auch für kleine, branchenspezifische IT Anbieter.
Wir werden durch die Standardisierung der Protokolle auch und gerade KMU die Angst vor der digitalen Transformation nehmen, denn hier spielt das Thema Sicherheit im Sinne der Datensouveränität eine ganz besondere Rolle!
Es wird sich erweisen: Ein internationaler Standard für sicheren Datenaustausch ist ein Vorteil, der allen hilft. In der Softwarewelt gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Die eine ist, ich möchte mich differenzieren, dann darf ich die Inhalte möglichst nicht teilen, oder aber ich will standardisieren, dann muss ich das Wissen und die Standardschnittstellen mit möglichst vielen teilen. Im Rahmen des Industrial Data Space ist das Teilen ein Vorteil, der einen ganz klaren Mehrwert erzeugt!