Als Schlagwort ist es in aller Munde: „Digitale Transformation“. Doch was ist dran? Einfach ein neues Buzzword? Ein Trend, den es zu beobachten gilt? Ein klarer und unmittelbarer Handlungsbedarf? Es wird gar vom „Digitalen Darwinismus“ gesprochen, um plakativ zu verdeutlichen, dass es um einen Überlebenskampf geht, der nur durch Veränderung zu gewinnen ist. Die Umbrüche in der digitalen Welt haben in fast allen Unternehmen Bedarf nach Veränderung ausgelöst, und es gilt, strukturiert, ganzheitlich und entschlossen damit umzugehen. Das St. Galler Business Engineering-Modell kann helfen.
1. Digitale Transformation
Worum geht es eigentlich? Die Innovation digitaler Technologien, zum Beispiel des Internets und digitaler Medien, schafft neue Potenziale für Unternehmen bei der Gestaltung des Geschäftsmodells und der Produkte wie auch in der Interaktion mit Kunden und anderen Marktpartnern. Gleichzeitig bedeutet dies aber auch die Notwendigkeit, sich der neuen Möglichkeiten anzunehmen, um im Wettbewerb weiterhin bestehen zu können. Dies führt vielfach zu Anpassungsbedarf auf strategischer Ebene, in Bezug auf Struktur und Prozesse und nicht zuletzt auch in der Geschäftsinfrastruktur wie der IT. Genauso wichtig ist jedoch ein umfassendes Change Management, um Mitarbeiter, Kunden und andere Interessengruppen adäquat mitzunehmen und gegebenenfalls auch einen Kulturwandel im Unternehmen zu initialisieren. Der Umgang mit Digitaler Transformation ist damit kein IT-Projekt, bei dem es darum geht, einzelne Innovationen aus der Informationstechnologie zu implementieren („Unsere IT hat einen Webshop aufgesetzt.“). Vielmehr ist der Umgang mit Digitaler Transformation eine Gestaltungs- und Führungsaufgabe, die an der Unternehmensspitze beginnt. Es gilt, Geschäftsmodelle, Strategien, Kommunikationskanäle und Produkte zu hinterfragen und innovative Möglichkeiten umfassend zu nutzen. Nur so ist es möglich, sich für den schärfer werdenden Wettbewerb und die steigenden, teilweise sogar disruptiv neuen Anforderungen der Kunden zu rüsten.
2. Auswirkungen
Transformation hat es immer gegeben. Rahmenbedingungen ändern sich, Innovation schafft neue Produkte, Dienstleistungen und Bedürfnisse, Geschäftsmodelle werden angepasst und es bieten sich auch Opportunitäten für ganz neue Geschäftsmodelle. Bereits seit vielen Jahren ist auch IT ein großer und wichtiger Treiber für Veränderung. In letzter Zeit ist aber besonders deutlich zu beobachten, dass sich diese Veränderungen immer schneller vollziehen und sich neue Informationstechnologien rasant entwickeln, Kommunikationskanäle verändern, Wertschöpfungsketten in Frage stellen und neue Produkte und Services auf den Markt kommen.
In einigen Branchen ist der Wandel offensichtlich und sehr gut zu beobachten – in der Medienwelt beispielsweise, wo nur noch wenig an alte Zeiten erinnert und wo dennoch viele der etablierten Player noch immer verzweifelt auf der Suche nach einem tragfähigen Geschäftsmodell in der digitalen Welt sind. In anderen Branchen mag der Veränderungsdruck nicht so offensichtlich sein, aber die Auslöser und Treiber der Digitalen Transformation sind omnipräsent: in strategischen Fragestellungen, in der Kundeninteraktion, im Rahmen der Leistungserstellung und in Bezug auf die digitalen Infrastrukturen, die im Unternehmen (oder dem Wettbewerb) neue Möglichkeiten schaffen. Beispiele sind Banken und Versicherungen.
Zu den strategischen und das Geschäftsmodell betreffenden Fragestellungen gehören Überlegungen, inwieweit die eigenen Produkte durch neue, digitalisierte Produkte unmittelbar oder auf anderen Stufen in der Wertekette ersetzt werden – von der Digitalisierung der Medien beispielsweise sind nicht nur Verlagshäuser betroffen. Werden keine Zeitungen mehr gedruckt, sinkt auch die Nachfrage nach Papier, Druckmaschinen, Papiermaschinen und Zellstoff. Andererseits lassen sich Produktportfolios durch digitale Services ergänzen. Die Allgegenwart der Smartphones und anderer mobiler Geräte, kombiniert mit der wachsenden Akzeptanz der „Share Economy“ ermöglicht beispielsweise neue Car Sharing Angebote, mit denen die Autohersteller neues Markenbewusstsein und neue Absatzkanäle schaffen.
In der Kundeninteraktion schaffen die Vielfalt der Kanäle und der schnelle Wandel große Herausforderungen. Kunden wechseln nach Bedarf und ganz selbstverständlich zwischen den verschiedenen Online- und vielleicht auch Offline-Kanälen hin und her und es gilt, sie jeweils mit konsistenten Botschaften an der passenden Stelle abzuholen. Im Handel ist zu beobachten, dass „Offline“ und „Online“ verschwimmen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass der stationäre Handel auch ein Online-Angebot hat, umgekehrt experimentieren immer mehr Anbieter aus der Online-Welt auch mit „echten“ Ladenlokalen. Es bleibt abzuwarten, wer auf Dauer eher in der Lage sein wird, den Kundenbedürfnissen gerecht zu werden.
Auf der Prozess-Seite bietet die Digitale Transformation viele Potenziale: Die Durchgängigkeit kann weiter verbessert, Medienbrüche können eliminiert und das papierlose Büro vielleicht (endlich) Realität werden. Self Service-Konzepte auch in der Interaktion mit Kunden und Lieferanten, die Verfügbarkeit mobiler Geräte und passender Applikationen sowie die Reifung von BI-Anwendungen sprechen eine deutliche Sprache. Anderseits sind auch hier viele Bedarfe an Veränderung erkennbar. Integraler Teil der Digitalen Transformation ist „Consumerization“, der Einfluss von Consumer-Technologien auf die Erwartungen an professionelle Informationstechnik. Diese schafft die Erwartung, eigene Geräte im Arbeitsumfeld nutzen zu können, verlangt nach mobilen Lösungen und der Möglichkeit, auch außerhalb der Büroumgebung arbeiten zu können, und verändert auch die Entscheidungswege für IT-Entscheidungen. Dem gilt es sich zu stellen und die IT bedürfnisgerecht anzupassen, um auch auf dem Arbeitsmarkt noch bestehen zu können.
Auch auf der Infrastruktur-Ebene im Unternehmen ist Veränderungsbedarf erkennbar. In der Unternehmens-IT sind neue Funktionalitäten und Fähigkeiten und häufig auch ein Kulturwandel gefragt. Multikanal-Kommunikation mit dem Kunden, Bring-Your-Own-Device-Konzepte und andere Themen stellen neue Anforderungen an Agilität und Architektur in der IT. Und wenn Effizienz und Effektivität im Unternehmen durch durchgängigere Prozesse weiter gesteigert werden sollen, bekommen die Anstrengungen zum Alignment von „Business“ und „IT“ neue Bedeutung. Und nicht zuletzt ruft uns das Schlagwort „Big Data“ in Erinnerung, dass unsere BI-Tools auch dazu dienen können, Kundenverhalten transparent zu machen, besonders bedürfnisgerechte und scheinbar individualisierte Angebote zusammenzustellen und natürlich die entsprechenden Erkenntnisse im Wettbewerb zu nutzen.
3. Treiber
Welche Faktoren begünstigen die Digitale Transformation? Wir erleben schnelle Innovation und kurze Produktlebenszyklen in den digitalen Technologien und insbesondere im konsumnahen Umfeld erobern neue Services und Produkte oft in rasantem Tempo Märkte. Das iPhone, welches erst Mitte 2007 als völlig neues Produkt eingeführt wurde und seitdem zusammen mit den Konkurrenzprodukten auf Android-Basis zu einem unverzichtbaren Tool geworden ist, mag als eindrucksvolles Beispiel dienen. Die Smartphones haben seitdem die Landschaft der Mobil-Geräte-Anbieter gründlich durcheinander gewirbelt. Außerdem, wichtiger noch, sind sie in kurzer Zeit zu dem dominanten Internet-Gerät geworden, über das wesentliche Teile unserer digitalen Kommunikation laufen.
Wir sehen die folgenden Phänomene als Treiber der Digitalen Transformation:
- Technische Vernetzung und Pervasive Computing
Vernetzung und vernetzte Geräte sind allgegenwärtig. Spätestens seit dem Aufkommen der Smartphones ist die Differenzierung zwischen „realer Welt“ und „Online“ obsolet. Als Kommunikationskanal mit dem Kunden stehen die verschiedenen Online-Medien immer und fast überall zur Verfügung. So verändern sich Wettbewerbsstrukturen, aber andererseits lassen sich auch wesentlich interessengerechter ortsbasierte Informationen verbreiten.
- Soziale Netzwerke und Communities
Diese lösen als Kommunikationskanal die klassischen Wege ab. Aus der 1:1-Kommunikation und der 1:n-Kommunikation wird die m:n-Kommunikation, wo im mehr oder weniger öffentlichen Raum über Produkte und Dienstleistungen informiert und diskutiert wird und wo auch Reklamationen und ähnliches abgehandelt werden. Auch hier ist einerseits die große Herausforderung erkennbar, die Vielfalt der neuen Medien sinnvoll zu bewirtschaften und konsistente, der Marke zuträgliche Botschaften zu senden, und andererseits die Chance, über neue Wege neue Zielgruppen zu erschließen.
- Bereitschaft der «digitalen» Akteure, Inhalte zu erzeugen und bereitzustellen
Digitale Kommunikation eröffnet viele neue Wege, Inhalte mit anderen Menschen zu „teilen“. Konsumentinnen und Konsumenten sind bereit, sich in verschiedenen Formen einzubringen. Dies führt zu einer neuen Rolle, dem „Prosumer“: Konsumenten beteiligen sich aus zumeist nicht kommerziellen Motiven an Innovationsprozessen oder erbringen sogar Services für andere Kunden. Die Migipedia des Schweizer Einzelhändlers Migros und die „Nachbarschaftshilfe“ Mila der Swisscom sind eindrucksvolle Beispiele. Auch neue Medienformate wie der Fernsehsender „Joiz“, der über zahlreiche Kanäle eine Art Mitmachfernsehen für eine junge Zielgruppe anbietet, scheinen erfolgreich zu sein. Und wenn in den kommenden Jahren die Generation, die selbstverständlich mit diesen Möglichkeiten aufgewachsen ist, in den Arbeitsmarkt eintritt und kaufkräftiger wird, wird die Nutzung solcher Wege weiter wachsen, wie auch die „Digital Natives“ schon bald die größte Gruppe in der arbeitenden Bevölkerung bilden werden.
- Differenzierungsdruck
Viele Märkte sind gesättigt und es herrscht intensiver Wettbewerb. Die Differenzierung über angestammte Produkte und Dienstleistungen wird damit zunehmend schwierig. Neue, digitale Leistungsangebote und Zusatzdienste ermöglichen Zusatznutzen für den Kunden und damit eine bessere Differenzierung. - Erwartungshaltung
Klar zu beobachten ist, dass komfortable Online-Services die Erwartungshaltung der Kunden an ihre Marktpartner erhöhen: Suchen soll vielleicht immer so komfortabel sein wie bei Google, Bestellen so einfach wie bei Amazon und auch bei der Bedienung digitaler Produkte fordert man das gleiche Maß an Selbsterklärbarkeit wie bei den bekannten Vorbildern. Viele Anbieter in der digitalen Welt haben durch Fokussierung auf derartige Serviceelemente exzellente Angebote schaffen können, die wir als Kunden nun überall erwarten. Wer hier nicht mithalten kann, gerät schnell ins Hintertreffen, denn der Wettbewerb ist intensiv und die Loyalität des Kunden deutlich weniger ausgeprägt als in der Vergangenheit.
Aus diesen Überlegungen wird nochmal erkennbar, dass das Fit-Werden für die digitale Transformation eine ganzheitliche Aufgabe ist, die viele Teile des Unternehmens betrifft und die umfassende Unterstützung aus dem Top-Management erfordert.
4. Business Engineering als Strukturierungsmodell
Das an der Universität St. Gallen entwickelte Konzept des „Business Engineering“ kann dabei als Rahmen dienen. Business Engineering als umfassender Ansatz für die Veränderung zeigt den systematischen Weg durch die Transformation für alle Gestaltungsebenen des Unternehmens auf. Ganz wichtig sind dabei die Leadership-Aspekte, die so oft über Erfolg oder Misserfolg eines Veränderungsprozesses entscheiden. So hilft Business Engineering, den Veränderungsprozess für alle Mitarbeiter transparent und nachvollziehbar zu machen. Für verantwortliche „Veränderungsmanager“ stellt Business Engineering daher einen umfangreichen Werkzeugkasten für Veränderungen zur Verfügung.
Es fußt auf einem konsequenten Outside-In-Denken, von den Kundenbedürfnissen ausgehend und nicht vom Produktionsprozess, und es stellt umfassende Methoden und Modelle zum systematischen und gestaltenden Umgang mit dem Wandel zur Verfügung. Als Top-Down-Ansatz integriert es die unterschiedlichen Handlungsfelder eines ganzheitlichen Wandels, visualisiert in der Business Engineering Map.
Im Rahmen der Digitalen Transformation, die als externer Auslöser für ein Veränderungsprojekt dient, mag es beispielsweise bei folgenden Aktivitäten unterstützen:
Auf der Ebene der Geschäftsstrategie:
Erweiterung und Neubewertung des Geschäftsmodells und Ergänzung des Produkteportfolios durch beziehungsrelevante (digitale) Services.
Im Rahmen der Geschäftsprozesse:
Nutzung neuer/zusätzlicher Kommunikationskanäle mit den Kunden und Umgestaltung der Kundenservice- und Kommunikationsprozesse, um mehr Kundennutzen generieren und gleichzeitig umfassendes Wissen über Kunden(bedürfnisse) aufbauen zu können. Innovationsprozesse können um Open-Innovation- und Crowd-Elemente erweitert werden, um kundenzentrierte Produktideen zu gewinnen. Nicht zuletzt muss eventuell auch die Organisationsstruktur angepasst werden.
Zur Ebene der Informations- und Kommunikationssysteme gehören Aktivitäten wie die Anpassung von IT und Architektur an die neuen Bedürfnisse, der Aufbau zusätzlicher Plattformen, zum Beispiel einer Community, sowie das Schaffen von Agilitätspotenzial für zukünftige Anpassungen.
Nicht außer Acht gelassen werden dürfen Aspekte von Führung, Verhalten, Macht und Veränderungs-/Unternehmenskultur, denn in diesen Elementen liegt das größte Potenzial für Misserfolge in der Veränderung. Veränderungsbedarf und Strategieänderung müssen im Unternehmen (und darüber hinaus) kommuniziert werden, mit Widerständen ist umzugehen und nicht zuletzt bedeutet der Umgang mit Social Media oft auch einen großen Kulturwandel in der Serviceorganisation.
So kann das Business Engineering-Framework mit seinem systematischen Vorgehen helfen, Veränderungsprojekte für die Digitale Transformation erfolgreich zu gestalten und umzusetzen. Mit dem Executive MBA in Business Engineering (www.embe.unisg.ch) bietet die Universität St. Gallen darüber hinaus ein Flagship-Weiterbildungsprogramm an, welches diese Elemente in den Focus stellt.
Reinhard Jung, Jochen Müller