Die Kraft unscharfer Grenzen:
Wie neue Erfindungen wirklich entstehen
Gianluca Carnabuci, ESMT Berlin
(Titelbild: © Adobe Stock | 379276123 | allvision )
Kurz und Bündig
Daten aus 3,1 Millionen US-Patenten zeigen: Patente in unscharfen, „breit gefassten“ Technologiekategorien erzeugen häufiger bahnbrechende Entwicklungen, haben langfristigere Wirkung und führen im Durchschnitt zu wirtschaftlich wertvolleren Nachfolgeerfindungen. Zwei Mechanismen erklären dies: größere Freiheit in der Ideenkombination und breitere Positionierung im Patentprozess. Die Ergebnisse bleiben über alle Robustheitstests stabil und belegen, dass die Art, wie Wissen klassifiziert wird, direkten Einfluss auf die Innovationskraft eines Systems hat.
Wie entstehen eigentlich bahnbrechende Erfindungen? Oft erzählen wir uns, sie seien das Ergebnis klar sortierter Expertise, sauber getrennt nach Disziplinen, Methoden und Zuständigkeiten. In der Praxis allerdings wirken Innovationen oft ganz anders: Eine Biologin löst ein Robotikproblem, weil sie Muster aus der Zellforschung erkennt. Ein Softwareentwickler entdeckt eine neue Anwendung, nachdem er zufällig auf ein Verfahren aus der Materialwissenschaft stößt. Plötzlich entsteht etwas, das in keinem Fachbuch stand und in keine Schublade passt. Liegt der Schlüssel zu echten Durchbrüchen also gerade nicht in klaren Grenzen, sondern darin, sie bewusst unscharf zu halten?
In gemeinsamer Forschungsarbeit mit Balázs Kovács, Professor an der Yale School of Management [1], habe ich untersucht, wie die Struktur technologischen Wissens die Entstehung bahnbrechender Erfindungen beeinflusst. Oft wird angenommen, dass klar getrennte Wissensbereiche Effizienz steigern, Ambiguität reduzieren und Orientierung in komplexen Technologiefeldern erleichtern. Diese Vorstellung hat historische Gründe: Patent- und Wissensklassifikationen sollten Prüfer:innen Struktur geben – nicht Kreativität fördern.
Unsere Ergebnisse zeigen jedoch, dass das Gegenteil der Fall sein kann. Wenn Kategorien weniger streng getrennt sind und ihre Grenzen ineinander übergehen, fließen Ideen leichter zwischen den Bereichen. So können Erfinder:innen Elemente kombinieren, die sonst getrennt geblieben wären. Das erweitert den gedanklichen Spielraum und unterstützt kreative Durchbrüche.
Für die Studie analysierten wir 3,1 Millionen Utility Patents des United States Patent and Trademark Office aus den Jahren 1975 bis 2013. Jedes Patent wurde einer primären Technologiekategorie zugeordnet. Im Mittelpunkt stand eine Eigenschaft dieser Kategorien, die wir als kategorialen Kontrast bezeichnen: Sie beschreibt, wie kohärent eine Klasse ist und wie klar sie sich von benachbarten Bereichen abgrenzt. Hoher Kontrast bedeutet klare Grenzen und Homogenität, niedriger Kontrast dagegen heterogenes Wissen und fließende Übergänge. Anschaulich wird dies, wenn man hohe und niedrige Kontraststufen mit klar getrennten Musikgenres versus hybriden Stilen vergleicht – dort, wo Grenzen verschwimmen, entstehen häufiger neue Kombinationen.
Warum „unscharfe“ Kategorien zu mehr Durchbrüchen führen
Wir stellen fest, dass Kategorien mit geringem Kontrast bahnbrechende Erfindungen über zwei Mechanismen fördern. Der erste wirkt in der Phase der Ideenschöpfung: Befindet sich eine Erfindung in einer unscharfen Kategorie, ist es bei ihren Nachfolgeerfindungen deutlich wahrscheinlicher, dass sie mit Wissensinputs kombiniert wird, die technologisch weit entfernt sind. Solche Fernkombinationen gelten in der Innovationsforschung als typisches Merkmal radikaler Durchbrüche – sie verlassen etablierte Pfade, brechen Routinen auf und eröffnen neue Richtungen. In vielen modernen Feldern wie KI, Robotik oder Biotechnologie ist diese Durchmischung ohnehin zentral für Fortschritt.
Der zweite Mechanismus betrifft die Positionierung von Ideen im Patentprüfungsprozess. Prüfer:innen und Antragsteller:innen verhandeln hier über Formulierungen und Schutzansprüche und bestimmen damit, wie breit oder eng eine Erfindung im Patent gefasst wird. Unsere Analysen zeigen: Nachfolgeerfindungen von Patenten aus Kategorien mit niedrigem Kontrast werden im Durchschnitt mit weiter gefassten und zugleich klarer unterscheidbaren Beschreibungen erteilt. Solche Beschreibungen vergrößern den potenziellen Einflussraum einer Erfindung und erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass daraus neue technologische Entwicklungslinien entstehen.
Was bleibt, wenn man alles prüft: Innovation liebt offene Strukturen
Die empirischen Ergebnisse sind über alle Auswertungen hinweg konsistent und statistisch sehr robust. Patente aus Kategorien mit geringem Kontrast lösten deutlich häufiger technologische Entwicklungspfade aus, die sich später als bahnbrechend erwiesen. Ihr Einfluss hielt zudem länger an: Sie wurden über größere Zeitabstände hinweg zitiert und über mehrere Generationen von Folgeerfindungen weitergetragen, von denen ein höherer Anteil selbst wieder als wegweisend galt. Auch wirtschaftlich schnitten sie besser ab. So war eine Erhöhung des kategorialen Kontrasts um eine Standardabweichung mit einem Rückgang des geschätzten Werts der Nachfolgeerfindungen um rund 1,4 Millionen US-Dollar verbunden – ein Effekt, der über die Untersuchung hinweg stabil blieb.
Diese Muster erwiesen sich als robust gegenüber zahlreichen Tests. Wir nutzten alternative Messgrößen für kategorialen Kontrast und wirtschaftlichen Wert, schlossen technologische Besonderheiten einzelner Felder aus und prüften, ob besonders innovative Unternehmen die Ergebnisse verzerren könnten. Weder feld- noch organisationsbezogene Unterschiede erklärten die Effekte. Damit zeigt sich: Der Einfluss kategorialer Unschärfe ist kein Branchenphänomen, sondern ein strukturelles Muster der Wissensorganisation.
Innovation hängt nicht nur von der Tiefe des Wissens ab
Innovation hängt nicht nur von der Tiefe des Wissens ab. Sie erfordert auch die Fähigkeit, gedankliche und organisatorische Grenzen zu überschreiten und Verbindungen über verschiedene Wissensfelder hinweg zu knüpfen. In diesem Zusammenhang haben wir untersucht, wie lange der Vorteil unscharfer Kategorien im Zeitverlauf wirkt. Patente aus Kategorien mit niedrigem Kontrast entfalten ihren Einfluss oft deutlich länger: Ihre Nachfolgeerfindungen greifen die ursprünglichen Ideen später im technologischen Zyklus wieder auf. Der Effekt ist also kein kurzfristiger Impuls, sondern prägt ganze Entwicklungslinien über mehrere Generationen hinweg.
Um die Robustheit dieser Befunde abzusichern, haben wir unterschiedliche Messkonzepte für kategorialen Kontext und technologischen Einfluss getestet und zusätzlich exogene Veränderungen im Klassifikationssystem des United States Patent and Trademark Office genutzt, um die Richtung der Zusammenhänge weiter zu identifizieren. Alle Analysen zeigten das gleiche Muster: Ein niedrigerer kategorialer Kontrast ist konsistent mit stärker bahnbrechenden technologischen Entwicklungsverläufen verbunden.
Etwas Spielraum für Unschärfe in Kategorien einzuräumen, bedeutet nicht, Chaos zu fördern oder auf klare Strukturen zu verzichten.
Es bedeutet vielmehr, Wissenssysteme so zu gestalten, dass ihre Grenzen flexibel genug bleiben, um neue Interpretationen und Verknüpfungen von Ideen zu ermöglichen. Um zu verstehen, wie sich dieser Effekt in der Breite auswirkt, haben wir untersucht, welche technologische Distanz Nachfolgeerfindungen von Patenten in Kategorien mit niedrigem Kontrast zurücklegen. Die Daten zeigen: Sie entfernen sich häufiger vom ursprünglichen technologischen Stammbaum und schlagen neue Richtungen ein, statt bestehende Pfade einfach fortzuführen. Nachfolgeerfindungen sind dabei jene Patente, die direkt an eine frühere Erfindung anknüpfen – etwa durch Verbesserungen, Erweiterungen oder neue Anwendungsfelder.
Diese Dynamik deutet darauf hin, dass unscharfe Kategorien Ideen über ein größeres technisches Terrain hinweg wandern lassen und so Verbindungen ermöglichen, die sonst vermutlich unentdeckt geblieben wären. Unsere Analyse belegt quantitativ, dass bereits die Organisation und Klassifikation von Wissen Innovationsprozesse formt. Die Klarheit oder Unschärfe kategorialer Grenzen beeinflusst nicht nur den technologischen, sondern auch den wirtschaftlichen Wert von Erfindungen. Das macht deutlich, wie wichtig es ist, zu reflektieren, wie wir Wissen ordnen – denn diese Ordnung bestimmt mit, welche Möglichkeiten Erfinder:innen überhaupt erkennen und verfolgen können.
Die Weise, in der wir die Welt betrachten, sie in Kategorien einteilen und klassifizieren, prägt entscheidend, was wir uns überhaupt als möglich vorstellen.
Unsere Ergebnisse zeigen, wie stark die Organisation von Wissen die langfristige technologische Entwicklung prägt. Klassifikationssysteme sollen üblicherweise Klarheit schaffen und Effizienz erhöhen. Doch unsere Evidenz macht deutlich, dass zu scharf gezogene Grenzen unbeabsichtigt genau jene kreative und interpretative Flexibilität beschneiden können, die für bahnbrechende Erfindungen notwendig ist. Kategorien mit geringem Kontrast eröffnen dagegen kognitive Spielräume: Sie erleichtern neuartige Kombinationen von Ideen und machen es einfacher, neue technologische Entwicklungslinien zu erkennen und zu formulieren.
Ein gewisses Maß an Unschärfe führt daher nicht zu Unordnung, sondern schafft Bedingungen, unter denen wirklich originelle Ideen entstehen, sich verbreiten und langfristig Wirkung entfalten können.







