Welchen Beitrag leisten Assistenz- und Wissenssysteme zur Industrie 4.0?
Der Begriff „Industrie 4.0“ beschreibt im Wesentlichen die technische Integration von Cyber-Physischen-Systemen (CPS) in Produktion und Logistik sowie die damit verbundene Anwendung des Internets der Dinge auf industrielle Prozesse, sodass Cyber-Physische-Produktionssysteme (CPPS) entstehen[1]. CPPS werden beschrieben durch den „Zusammenschluss mehrerer, zunächst unabhängiger CPS zu einem größeren Produktionssystem, welches durch einen hohen Vernetzungsgrad der Systeme untereinander gekennzeichnet ist“[2]. Erst ein CPPS ermöglicht die durchgängige Betrachtung von Produkt, Produktionsmittel und Produktionssystem[1]. Anders als noch beim CIM-Ansatz (Computer-Integrated Manufacturing) aus den 1980er Jahren wird jedoch im Kontext der Industrie 4.0 nicht die menschenleere Fabrik angestrebt. Ganz im Gegenteil, arbeiten trotz der fortschreitenden Automatisierung Mensch und Maschine in CPPS eng verzahnt zusammen und bilden somit ein sozio-technisches System.Durch die Anwendung von CPPS ergeben sich enorme Potenziale für produzierende Unternehmen, den Herausforderungen von Ressourcen- und Energieeffizienz sowie dem demographischen Wandel zu begegnen. Gleichzeitig steigt aber auch die Komplexität von Produktionssystemen um ein Vielfaches an.
Wird ein Produktionssystem ganzheitlich als soziotechnisches System betrachtet, so ergibt sich hier nicht nur der durch Industrie 4.0 getriebene technologische Fortschritt (Technik), sondern auch die damit einhergehende Veränderung in den Dimensionen Personal und Organisation. Mitarbeiter und Organisationen können den immer schneller und häufiger erfolgenden Innovations- und Technologiesprüngen nicht mehr adäquat folgen. Der Anstieg der Komplexität von Produktionssystemen führt somit schließlich zu einem Befähigungsdefizit bei den Mitarbeitern auf dem Shopfloor[3].
Um das Befähigungsdefizit auszugleichen, sind Assistenzsysteme essenziell. Diese unterstützen Mitarbeiter bei Nicht-Routine-Tätigkeiten und ermöglichen das Lernen direkt in der Arbeitsumgebung. Im Rahmen von Industrie 4.0 müssen Assistenzsysteme verschiedene Kernelemente erfüllen[4]:
► kontext- sowie anwenderspezifische Bereitstellung von Inhalten (Assistenz und Wissen),
► technische Integration in die bestehende IT-Infrastruktur,
► Anbindung an Maschinen- und Anlagenpark,
► Mitarbeiterakzeptanz,
► Datensicherheit und Datenschutz.
Mithilfe dieser Kernelemente werden Mitarbeiter befähigt, ihnen bekannte aber speziell auch ihnen unbekannte Prozesse durchzuführen. Assistenzsysteme sollen Mitarbeiter dabei unterstützen Wartungs-, Service- und Instandsetzungsarbeiten an den Produktionsanlagen effizienter durchzuführen[5]. Ebenso wird es möglich, die Prozesssicherheit und die Qualität von Prozessen zu erhöhen. Beispielsweise haben sich durch die Aufnahme der Pilotprozesse im Forschungsprojekt APPsist Optimierungspotenziale hinsichtlich der bereits standardisierten Arbeitsabläufe ergeben. Hirsch-Kreinsen und Windelband sehenfür Industrie 4.0 zwei Perspektiven für die Arbeit des Menschen in der Industrie 4.0. Zum einen sehen sie das Automatisierungsszenario, in dem zwei getrennte Ebenen entstehen, die dispositive Ebene mit ho chqualifizierten Mitarbeitern und die ausführende Ebene mit angelernten Kräften. Auf der ausführenden Ebene werden Mitarbeiter von IT-Systemen gesteuert und führen einfache Tätigkeiten aus. Zum anderen sehen Hirsch-Kreinsen und Windelband das Humanzentrierte-/Werkzeug-Szenario, in dem Mitarbeiter selbständig arbeiten und mittels Assistenzsystemen unterstützt werden. Qualifizierte Mitarbeiter, die auf einer übergreifenden Handlungsebene operieren, nutzen IT-Systeme und werden nicht von ihnen gesteuert[6, 7]. Demzufolge fördern wissensvermittelnde Assistenzsysteme das Humanzentrierte Szenario, indem sie die Kompetenzen von Mitarbeitern erweitern und ein selbständiges Arbeiten unterstützen. Assistenzsysteme sollten daher im Rahmen von Industrie 4.0 in Ergänzung zur Tätigkeitsunterstützung Mitarbeiter kontinuierlich über Wissensdienste weiterbilden[8]. Diese Philosophie wird auch beim Assistenzsystem APPsist umgesetzt.
Wissenserweiternde Assistenzsysteme bedingen aber auch neue Modelle der Organisation. Sollen Mitarbeiter in Industrie 4.0 weniger klassisch in Seminarräumen geschult werden, sondern möglichst selbstbestimmend und teilweise autonom? Dann müssen im Arbeitsalltag Freiräume in Form von Lernzeiten und angemessenen Lernumgebungen geschaffen werden. Dies stellt Unternehmen vor eine große
Herausforderung, denn in klassischen Organisationen sind selbstbestimmende Lernzeiten bisher selten vorgesehen. Bislang wird zwischen planmäßigen Tätigkeiten (z.B. Haupt-und Nebentätigkeiten, ablaufbedingtes Unterbrechen, Erholung) und unplanmäßigen Tätigkeiten (z.B. zusätzliche Aufgaben, störungsbedingtes Unterbrechen, persönlich bedingtes Unterbrechen) unterschieden.
Was kann APPsist in diesem Zusammenhang liefern?
Im Rahmen des BMWi-Forschungsprojekts „APPsist“ (Intelligente Wissensdienste für die Smart Production) wurde ein System entwickelt, das dem Mitarbeiter am Shopf loor sowohl Assistenzfunktionen als auch Lerninhalte anbietet. Das System erfüllt durch Maschinen-Anbindung und Integration in die IT-Infrastruktur sowie ein separates Daten- und Arbeitssicherheitskonzept die Anforderungen des BMWi für Assistenzsysteme[5].
Im Forschungsprojekt werden verschiedene Anwendungsszenarien mithilfe des APPsist-Systems realisiert und evaluiert. Zu diesen Anwendungsszenarien zählen beispielsweise:
► Wechsel von Betriebsmitteln durch angelernte Kräfte,
► Montage von aufwändigen Werkzeugen (mechanische, pneumatische sowie elektrische Komponenten) durch eine Fachkraft,
► Analyse von Fehlerursachen und deren Behebung in vollautomatisierten, verketteten Anlagen in der Automotive Supply Chain durch Fach- und angelernte Kräfte.
Auf dem Shopf loor haben diese Aufgaben bis jetzt, ohne APPsist, Fachexperten durchgeführt, die jedoch nicht immer direkt zu Verfügung stehen. Maschinen und Anlagen bleiben ohne den Einsatz intelligenter Assistenzsysteme so lange stehen, bis ein Experte sich dem Problem annehmen kann. Mit Hilfe der Schritt-für-Schritt-Anleitungen soll APPsist die Stillstandszeiten der Maschine reduzieren und somit einen wesentlichen Beitrag zur Instandhaltung leisten. APPsist ermöglicht es dadurch auch auf häufig wechselndes Personal durch Schichtbetrieb, Urlaubs- und Krankheitsausfälle zu reagieren. Es ist nicht mehr erforderlich, eine Mindestanzahl an Mitarbeitern für Fehlerbehebungen oder Wechsel von Betriebsmitteln zu schulen, um pro Schicht immer einen Experten bereitzustellen.
Die zweite Komponente des APPsist-Systems begegnet der Herausforderung der Zukunft, Mitarbeiter situationsgetreu und produktbezogen zu schulen. Umgesetzte Szenarien im Forschungsprojekt umfassen hier beispielsweise Themen zu dem eigenen Produkt oder zu vor- und nachgelagerten Prozessen. Die Mitarbeiter können sich individuell und aufgabenbezogen weiterbilden und müssen sich dazu nicht aus der Arbeitsplatzumgebung entfernen und im Frontalunterricht geschult werden.
Ist die Notwendigkeit für Assistenzsysteme auch bei den Unternehmen gegeben?
Die Herausforderungen der Zukunft sind offensichtlich, doch im Rahmen des BMWi-Forschungsprojekts kamen folgende Fragen auf:
► Sind die Unternehmen am Einsatz eines Assistenzsystems interessiert?
►Wer benutzt bereits ein Assistenzsystem am Shopfloor?
► Welches Potenzial haben diese Systeme in der Zukunft?
Zur Analyse wurde eine Marktstudie in der Maschinen- und Anlagenbranche durchgeführt, in der 17 Vertreter aus Produktion und IT befragt wurden. Die Interviewpartner sehen in APPsist das Potenzial, dass Mitarbeiter befähigt werden, komplexe Prozesse besser zu bewältigen und damit ihre Produktivität zu steigern sowie Kosten zu sparen. Einen großen Beitrag könnte APPsist laut Einschätzung der Befragten durch reduzierte Stillstandszeiten leisten. In Bezug auf die Lernfunktionen von APPsist sahen die Befragten die Möglichkeit, das Wissen ihrer Mitarbeiter auf breite Beine zu stellen und sie aufgabenbezogen zu schulen. In Bezug auf die Wissensvermittlung sehen die Befragten das Potenzial, ihre Mitarbeiter über den
Verlauf des hergestellten Produkts in der Supply Chain zu informieren und somit die Motivation zu erhöhen. Die sieben am häufigsten genannten Antworten zum potenziellen Mehrwert eines APPsist-Systems sind nachfolgend aufgelistet:
► Komplexität von Prozessen besser bewältigen
► Produktivitätssteigerung
► Kostenersparnis
► Stillstandszeiten reduzieren
► Wissen der Mitarbeiter auf breite Beine stellen
► Unabhängigkeiten von Spezialisten
► Flexiblere Einsatzmöglichkeiten
Die Komplexität von Aufgabenfeldern sowie der Grad von Fertigungsautonomie in der Produktion werden weiterhin anwachsen und zu Arbeitsplatzveränderungen führen[9]. Intelligente Assistenzsysteme bieten den Mitarbeitern maßgeblich Unterstützung und können somit zur Kompetenz- und Wissenserweiterung beitragen. Die befragten Experten und APPsist-Pilotanwendungspartner teilen diese Einschätzung, wie Abbildung 1 zu entnehmen ist. Das Bewusstsein ob der steigenden Komplexität von Aufgabenfeldern ist allgemein vorhanden. Dennoch ergab die Expertenbefragung, dass Mitarbeiterqualifikation aktuell noch zu 94% in Form klassischer Schulungen erfolgt. Zu 82% finden bei den angefragten Unternehmen aber auch Trainings on the job statt, wie Abbildung 2 zeigt. Intelligente Wissensdienste ermöglichen eine auf den Mitarbeiter und dessen Aufgabengebiet zugeschnittene Kompetenzsteigerung on the job und tragen letztlich mit dazu bei, dass durch den Wissensaufbau die Identifikation mit dem eigenen Job und die Motivation am Arbeitsplatz steigen.
Der demographische Wandel zieht in bestimmten Produktionsbereichen bereits heute einen erheblichen Mangel an Fachpersonal mit sich.
Wie Abbildung 3 zeigt, sah ein Großteil der befragten Experten die Chance, dieser Herausforderung mit einem System wie APPsist Rechnung zu tragen: Wissenserhalt und -transfer, der insbesondere dann notwendig wird, wenn ältere Arbeitnehmer aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Viele der Interviewten sahen auch einen Mehrwert, intelligente Assistenz- und Wissensdienste bereits in die betriebliche Erstausbildung einzubetten.