Adding the Fifth Wall:
Wenn die Technik Teil des Ensembles ist
Clara Ehrenwerth, machina eX, im Gespräch mit Milena Milivojevic, IM+io
(Titelbild: © machina eX, Dorothea Tuch. Aufnahme aus der Aufführung: „Disaster“ )
Kurz und Bündig
machina eX verbindet Theater und Computerspiel zu interaktiven Erlebnisräumen, in denen das Publikum aktiv mitwirkt. Jede Produktion entsteht aus intensiver Recherche, eigener Game-Engine und engem Austausch zwischen Kunst und Technik. Gespielt wird an ungewöhnlichen Orten, von Museen bis zu öffentlichen Plätzen. Neben Live-Performances entstehen Online-Formate und internationale Kooperationen. Themen wie Nachhaltigkeit, Wissensaustausch und Wissenschaftskommunikation prägen die aktuelle Arbeit.
Wenn Sensoren Geschichten lenken, Tablets zu Requisiten werden und Codes im Hintergrund Emotionen steuern, entsteht ein Theater, das sich nicht mehr an Bühnenränder hält. Statt fester Spielorte werden unterschiedlichste Bauwerke zur Kulisse, in der Realität und Fiktion ineinandergreifen. Wie verändert sich das Schauspiel, wenn Technologie und Raum selbst Teil der Handlung werden?
IM+io: Wer steckt hinter machina eX und worum geht es bei eurem Ansatz, Theater und Spiel zu verbinden?
CE: Ich bin Clara Ehrenwerth, Autorin und Teil des Kernteams von machina eX. Wir verbinden Theater und Computerspiel, genauer gesagt: Performance und interaktive Systeme. Das Kollektiv gibt es seit 2010, gegründet als Uni-Projekt in Hildesheim. Seit 2011 arbeiten wir regelmäßig mit dem HAU zusammen, wo wir kürzlich unser fünfzehnjähriges Jubiläum gefeiert haben. Unsere Arbeiten sind begehbare Spielewelten – man kann es sich vorstellen wie eine Art Escape Room mit politischem Inhalt und Live-Performance. Wir erzählen Geschichten, in denen das Publikum aktiv wird. Meist in kleinen Gruppen, oft an ungewöhnlichen Orten – vom Museum über das Tempelhofer Feld bis zu einem mittelalterlichen Bollwerk in der Schweiz.
IM+io: Wie verbindet ihr Theater und Spiel – wie entsteht daraus ein gemeinsames Erlebnis?
CE: Am Anfang steht meist ein Thema, das uns beschäftigt. Gerade arbeiten wir an einer Produktion über grüne Gentechnik mit einem Team aus Indien. Manchmal aber beginnt es mit einer Spielmechanik, die wir spannend finden – etwa aus Computerspielen, die wir ins Physische übersetzen wollen. Das Publikum spielt in Gruppen von etwa zwölf bis dreißig Personen, in Räumen, die keine klassischen Bühnen sind. Es gibt keine Trennung zwischen Bühne und Publikumsraum, alle teilen denselben Raum. Nach einem kurzen Theatereinstieg müssen die Spielenden aktiv werden, Rätsel lösen, Entscheidungen treffen oder Dinge finden. Kooperation steht im Mittelpunkt, Konkurrenz eher selten – uns interessiert, wie Fremde gemeinsam ins Spiel kommen und über den Abend hinweg zu einer Gruppe werden.
IM+io: Wie läuft die Entwicklung einer neuen Produktion ab – vom ersten Gedanken bis zur Premiere?
CE: Meist beginnt alles mit Brainstorming und einem Förderantrag, oft zwei Jahre vor der Premiere. Wenn die Finanzierung steht, wird das Thema konkretisiert. Wir recherchieren, tauschen Ideen aus und entwickeln daraus eine Storyline – ähnlich wie in einem Writers’ Room. Parallel arbeitet das Technikteam an Lösungen, oft mit unserer eigenen Game-Engine „adaptor:ex“, die Open Source ist. Damit lassen sich digitale und physische Elemente verbinden, etwa Licht, Ton oder Bewegungssensoren. Danach folgt die Produktionsphase von sechs bis acht Wochen am Aufführungsort mit etwa zehn bis fünfzehn Beteiligten. Wir testen früh mit Publikum, schauen, ob Spielmechaniken und Inhalte verständlich sind, und überarbeiten laufend. Nach der Premiere feilen wir weiter und gehen, wenn möglich, auf Tour.

IM+io: Wie groß sind eure Touren, und wie flexibel sind die Produktionen für unterschiedliche Orte?
CE: Das ist sehr unterschiedlich. Manche Stücke hatten zehn bis fünfzehn Tourstationen, in Einzelfällen auch fast zwanzig. Meist spielen wir aber einige ausgewählte Gastspiele, keine durchgehende Tour. Wenn ein Stück für ein Museum entwickelt wurde, bleibt es oft dort, wie etwa im Naturhistorischen Museum Bern – das Spiel läuft dort seit Jahren ohne unsere Anwesenheit. Theaterproduktionen passen wir an neue Orte an, suchen passende Räume mit ähnlicher Atmosphäre. Bei einer Adaption aus Neuseeland etwa haben wir in Düsseldorf urbane Spielorte gesucht, die den Originalschauplätzen ähneln – kleine Läden, Büros, Garagen. Solange es Internet und Platz gibt, sind unsere Formate recht flexibel.
IM+io: Eure Stücke sind technisch komplex. Wie stellt ihr sicher, dass alles zuverlässig funktioniert?
CE: Früher war vieles gebastelt – empfindliche Sensoren, Kabel, handgelötete Elemente. Das war kreativ, aber anfällig, vor allem, wenn Publikum sich bewegt. Heute arbeiten wir modularer: mit stabilen Systemen, oft über Tablets und Computer gesteuert. Unsere eigene Engine hilft, alles zentral zu verbinden. Wichtig war das vor allem, seit wir Stücke auch an andere Theater übergeben. Am Deutschen Nationaltheater Weimar läuft eine Produktion inzwischen eigenständig, betreut vom Haustechnik-Team vor Ort. Das funktioniert gut, auch wenn dort eher klassische Theatertechnik im Vordergrund steht. Natürlich kann trotzdem etwas Unvorhergesehenes passieren – aber dafür sind Performer:innen da. Sie sind unser menschliches Sicherheitsnetz, können improvisieren, wenn Technik an ihre Grenzen stößt.
IM+io: Gibt es Beispiele, wie das Publikum euch schon einmal überrascht hat?
CE: Ja, besonders eindrücklich war ein Stück von 2014, „Right of Passage“. Es ging um Bürokratie im Zusammenhang mit Flucht. Die Spielenden mussten versuchen, eine Grenze zu überqueren – mit absurden Dokumenten, wechselnden Regeln und ständigen Zusatzanforderungen. Meist schafften es nur wenige. Doch einmal haben sich alle zusammengeschlossen, sind gemeinsam über die Grenze gerannt und haben so das Spiel beendet. Dafür hatten wir keinen vorbereiteten Anschluss, es war einfach vorbei. Für uns war das ein starker, emanzipativer Moment, auch wenn er technisch unvorhergesehen war. Solche spontanen Wendungen passieren immer wieder – und zeigen, wie viel Eigeninitiative in den Spieler:innen steckt.
IM+io: Eure Arbeiten sind oft einmalige Live-Erlebnisse. Wie können Menschen, die nicht vor Ort sind, trotzdem etwas davon erleben?
CE: Von jeder Produktion gibt es mindestens einen Trailer, manchmal auch Mitschnitte – wenn sich das Format dafür eignet. Zusätzlich entwickeln wir Online-Versionen unserer Stücke. „Life goes On“ ist ein multimediales Brettspiel, das man sich kostenlos herunterladen und zu Hause spielen kann.
„Intranet“ erzählt die Geschichte einer Lokalredaktion während eines Cyberangriffs und hat eine Homeoffice-Version, in der ein Videocall als Arbeitsumgebung simuliert wird. Solche Varianten öffnen den Zugang für Menschen, die nicht reisen können oder fernab von Kulturzentren leben. Und sie verlängern die Lebensdauer unserer Projekte über den Theaterraum hinaus.
IM+io: Wie gelingt es, solche Projekte dauerhaft zu finanzieren und trotzdem kreativ frei zu bleiben?
CE: Finanzierung in der freien Szene ist immer ein Mix. Wir arbeiten mit Projektförderungen, Aufträgen von Stiftungen oder der Privatwirtschaft – und in den Anfangsjahren auch mit Crowdfunding. Besonders wichtig ist unsere vierjährige Konzeptförderung der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sie deckt nicht nur einzelne Produktionen, sondern auch Infrastruktur ab und gibt Planungssicherheit. Dazu kommen kleinere Aufträge, etwa Installationen zu Themen wie Medienkompetenz. So bleibt Raum für Experimente, auch wenn langfristige Kalkulierbarkeit schwierig ist. Mieten, Technik und Probenzeiten müssen trotzdem zuverlässig gesichert sein, sonst wird es schnell eng.
IM+io: Wie groß ist euer Kernteam, und wie teilt ihr künstlerische und technische Aufgaben?
CE: Im Kern sind wir zu viert, je nach Projekt kommen zehn bis fünfzehn weitere Mitwirkende dazu – aus Dramaturgie, Performance, Ausstattung, Sound und Technik. Die Rollen sind klar, aber flexibel. Expertise zählt mehr als feste Zuständigkeiten. Performer:innen tragen die Live-Situation, Techniker:innen sorgen für Stabilität, Autor:innen für die inhaltliche Struktur. Gleichzeitig schauen alle über ihren Bereich hinaus, weil sich Technik und Erzählung ständig gegenseitig beeinflussen. Viele arbeiten freiberuflich auch außerhalb von machina eX, was immer wieder neue Impulse bringt und unsere Ästhetik weiterentwickelt.

IM+io: Kommt es vor, dass andere Menschen Ideen an euch herantragen oder sogar Konzepte vorschlagen, die ihr dann umsetzt?
CE: Fertige Konzepte oder Skripte erreichen uns bislang gar nicht. Was inzwischen jedoch häufiger passiert – und worüber wir uns sehr freuen – sind Anfragen aus der Wissenschaft. Forschende kommen auf uns zu, wenn sie am Ende eines Projekts stehen und überlegen, wie sie ihre Ergebnisse außerhalb des Fachpublikums zugänglich machen können. Statt einer Publikation oder Ausstellung wollen sie die Inhalte als Brettspiel, Installation oder Browsergame erfahrbar machen. Das passt gut zu unserem Ansatz, komplexe Themen über Spielmechaniken erlebbar zu machen.
IM+io: Wie lässt sich mit Partner:innen auf anderen Kontinenten gemeinsam ein Live-Erlebnis schaffen, ohne ständig reisen zu müssen?
CE: In der aktuellen Koproduktion mit einem Team aus Neu-Delhi arbeiten wir mit einem hybriden Setup. Zwei Performerinnen spielen dort, das Publikum ist in Berlin – verbunden über Screens, Kameras und Sensorik. Beide Räume reagieren in Echtzeit aufeinander. So entsteht ein gemeinsamer Moment, ohne dass alle fliegen müssen. Natürlich ist das technisch herausfordernd, aber es lohnt sich: Wir können international erzählen, Erfahrungen teilen und trotzdem Ressourcen schonen. Gleichzeitig verändert sich auch die Perspektive – andere kulturelle Kontexte bringen neue Fragen und Blickwinkel in unsere Arbeit.

IM+io: Welche Pläne habt ihr für die Zukunft?
CE: Neben internationalen Kooperationen beschäftigen uns zwei Themen besonders: Nachhaltigkeit und Wissensaustausch. Wir wollen Technik und Tools, die wir entwickelt haben, dokumentieren und anderen zugänglich machen – als offenes Workshop-Material für Schulen, Theaterpädagog:innen und Bildungseinrichtungen. So können bestehende Ideen weiterleben und von anderen genutzt werden. Nachhaltigkeit heißt für uns nicht nur ressourcenschonend zu produzieren, sondern auch Wissen zu teilen. Und wir hoffen, dass daraus noch mehr Aufträge in der Wissenschaftskommunikation entstehen – gern melden, wer Forschung interaktiv erfahrbar machen möchte.







