Die neue Spezies Wirtschaft:
„Communicorns“ im Wandel der Systeme
Steffen Farny, Leuphana Universität Lüneburg
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Kurz und Bündig
Die Leuphana Social Innovation Community erforscht und begleitet, wie gemeinschaftliches Unternehmertum gesellschaftlichen Wandel vorantreibt. Unter dem Begriff „Communicorn“ – einer Kombination aus Community und Unicorn – rückt sie Projekte in den Fokus, die Wirkung statt Gewinn anstreben. Ziel ist es, soziale Innovationen zu fördern, bei denen Menschen in lokalen Netzwerken Lösungen für gemeinsame Herausforderungen entwickeln. Studien zeigen: Entscheidend sind Haltung, Arbeitskultur und Struktur – Faktoren, die bestimmen, ob Transformation in Wirtschaft, Bildung oder Kultur gelingt.
Von der Bohne bis zur Kaffeetasse mitentscheiden, einen Fußballverein genossenschaftlich führen, Forschungsprojekte gemeinschaftlich angehen. Wenn Menschen anfangen, Wirtschaft anders zu denken, entsteht etwas, das Wirkung zeigt, nicht nur Gewinn. Wie gelingt es, solche Initiativen dauerhaft tragfähig zu machen und aus gemeinsamer Haltung echte Veränderung zu schaffen?
Der Begriff „Communicorn“ wurde von der Leuphana Social Innovation Community geprägt und steht für Community Unicorn – eine bewusste Umdeutung des Start-up-Begriffs in Richtung gesellschaftlicher Wirkung. Statt wirtschaftlicher Gewinnmaximierung rückt gemeinschaftliches Handeln in den Vordergrund: Menschen schließen sich zusammen, um Herausforderungen kreativ und kooperativ zu lösen. Dieser communitygetriebene Ansatz kann – wenn die Voraussetzungen stimmen – nicht nur Neugründungen, sondern auch bestehende Unternehmen verändern.
Das Ziel von Communicorns ist daher meist die Umsetzung von „sozialen Innovationen“. Darunter versteht die Forschung neue Verhaltensweisen und Organisationsformen, die zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen. Und in der Tat werden soziale Innovationen wie Bürger:innenenergiegenossenschaften und Crowdfunding zunehmend als Treiber für kollektive Veränderungen gesehen [1]. Denn es ist klar, dass sich große Herausforderungen wie der Klimawandel oder demografische Veränderungen nicht durch technologische Innovationen allein bewältigen lassen.
Der Mensch im Vordergrund
Unternehmen mit einem sozialen oder regenerativen Geschäftsmodell stellen den Menschen in den Vordergrund. Davon können auch größere Unternehmen lernen und sich häufiger die Frage stellen, welche Bedingungen es einer Person mit einer bestimmten Biografie ermöglichen könnten, bei ihnen zu arbeiten. Das lässt sich kultivieren, indem zum Beispiel die psychologische Sicherheit der Mitarbeitenden gestärkt wird.
Eine entscheidende Rolle für das Gelingen von sozialen Innovationen und im Besonderen für Communicorns spielt der lokale Bezug. Denn Unternehmen entspringen immer einem lokalen sozio-ökologischen System. Dafür ist es zentral, dass die Akteur:innen sich kennen und dieselben Orte besuchen. Aus der Forschung wissen wir, dass dabei mehrere Faktoren zusammenspielen müssen: Das Humankapital, also die Ressourcen in der Gemeinschaft, physische Orte als Begegnungsräume sowie gute Vorbilder in der Umgebung [2]. Kommen diese Faktoren zusammen, gelingt die Zusammenarbeit viel wahrscheinlicher, als wenn der Profit im Zentrum steht. Gute Beispiele lassen sich fast überall finden, wie der Communicorn Podcast der Social Innovation Community zeigt.
Communicorn Podcast: Best Practice aus Lüneburg, Hamburg und Berlin
Eines der bekanntesten Beispiele aus dem Podcast ist der Fußballbundesligist FC St. Pauli. Der Verein hat es geschafft, mit einer genossenschaftlichen Logik erfolgreich zu sein. Vizepräsidentin Esin Rager zeigt im Gespräch auf, wie soziale Innovationen auch in tradierten Systemen etabliert werden können und warum Community nicht nur Mittel zum Zweck, sondern ein entscheidender Faktor für eine zukunftsorientierte Organisationsform ist.
Ein weiteres Beispiel – aus Lüneburg – liefert das Avenir Café. Ruth Jeckel, Mitgründerin der Avenir Rösterei, spricht im Podcast über gemeinsame Entscheidungen und welche Rolle die Community für die langfristige Wirkung von sozialen Unternehmen spielt. Mit einem vergleichbaren partizipativen Ansatz hat auch Johanna Kühner Berlins ersten demokratisch organisierten Supermarkt gegründet. Bei SuperCoop gestalten rund 1.800 Mitglieder nicht nur das Sortiment mit, sondern übernehmen Verantwortung, treffen Entscheidungen und bringen sich aktiv ein. Auch sie stellt das Konzept im Podcast vor.
Drei wichtige Faktoren: Haltung, Arbeitskultur, Struktur
Diese Beispiele zeigen eine neue Denkweise: Gemeinsames Handeln steht über Gewinnmaximierung. Das kann aber nur nachhaltig wirken, wenn auch die Wirtschaftlichkeit stimmt. In unseren Studien haben wir für den Erfolg sozialer Unternehmen drei entscheidende Pfeiler ermittelt [3,4]: Wichtig ist die Haltung, also der Wille, wirklich inklusiv zu denken und partizipativ zu handeln. Außerdem müssen sich die Beteiligten auf eine gemeinsame Arbeitskultur verständigen: Wie arbeiten wir zusammen? Wie treffen wir Entscheidungen – eher gemeinschaftlich oder hierarchisch? Drittens sind Strukturen entscheidend. Das heißt, es braucht Räume für Feedback, klare Regeln, um Konflikte zu lösen, und Möglichkeiten, sich zu beteiligen.
Dieses Mindset in bestehende Unternehmen zu integrieren, ist natürlich schwieriger, als es bei einer Neugründung zu etablieren. Durch unsere Forschungsprojekte (TrICo und SINTRA) wissen wir, dass es in Zeiten multipler Krisen nicht nur eine ethische Frage, sondern schlichtweg ökonomische Notwendigkeit in vielen Unternehmen ist, die Arbeitswelt zu transformieren. Bei der Rekrutierung für eine Lernreise im SINTRA Projekt waren viele Unternehmen anfangs skeptisch. Sie hatten Angst, unser Ansatz sei ineffizient und funktioniere im Alltag nicht. Aber unsere ersten Studien zeigen bereits: Ängste und Hemmnisse werden systematisch überschätzt. Sobald es echten Kontakt mit diesen Modellen gibt, lassen sich diese abbauen. Unternehmen berichten dann von einem besseren Arbeitsklima und einer stärkeren Identifikation mit dem Unternehmen, sogar von positiven Effekten bei Konsument:innen. Wichtig ist: Man darf nicht nur an einer kleinen Stellschraube drehen. Es braucht bei der Entwicklung des Unternehmens immer die drei großen Punkte: Haltung, Kultur und Struktur. Nur dann funktioniert die Transformation.
Konferenz bringt Gestalter*innen zusammen
Dass es viele motivierte Menschen gibt, die den Wandel gestalten möchten, haben rund 150 Innovator:innen auf der Communicorn Konferenz Mitte September 2025 an der Leuphana bewiesen. Die von der Leuphana Social Innovation Community ausgerichtete Konferenz beschäftigte sich mit Bereichen wie Jugend und Bildung, Ernährung und Landwirtschaft, Städtische Verwaltung oder Handwerk und Technik – immer unter der Fragestellung: Wie können wir gemeinsam den Wandel gestalten?
Die oben genannten Faktoren wie physische Orte und Vorbilder in der Umgebung haben wir anhand von sechs Lüneburger Orten des Wandels integriert. Dort erlebten die Teilnehmenden hautnah, wie soziale Innovationen erfolgreich umgesetzt werden. In Workshops vermittelten Wissenschaftler:innen und Praktiker:innen schließlich zukunftsorientierte Methoden, damit aus den Visionen des Anfangs wirkungsvolle Handlungen entstehen. Erste Gruppen haben uns bereits rückgemeldet, dass sie sich zusammenschließen und weiter gemeinschaftlich vorangehen möchten. Diese Ergebnisse bestärken uns in unserer Arbeit – die Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis wirkt somit direkt in die Region.
Dazu braucht es die Wissenschaft
Und es zeigt, wie wichtig die Rolle der Wissenschaft an dieser Stelle ist. Viele Unternehmen wollen etwas verändern, aber sie wissen nicht genau, warum etwas klappt – oder warum nicht. Und da ist die Forschung gefragt. Wir prüfen wissenschaftlich: Welche Faktoren tragen zum Erfolg bei? Was lässt sich übertragen? Außerdem entwickelt die Wissenschaft Konzepte und Lösungen, die eine Transformation positiv beeinflussen oder inspirieren können.
Wissenstransfer für Wirtschaft, Schule und Kultur
Erwachsen ist die Leuphana Social Innovation Community aus dem Projekt „TrICo – Transformation durch Innovation und Kooperation in Communities“. Die Leuphana Universität Lüneburg strebt darin an, vier Communities in der Region und darüber hinaus aufzubauen, in denen Wissenschaft und Praxis gemeinsam Lösungen für den gesellschaftlichen Wandel entwickeln.
Die Innovation Community Nachhaltige Produktion bringt etwa Industrieunternehmen und Forschende zusammen, um Produktionsprozesse und Geschäftsmodelle nachhaltiger aufzusetzen. In der Schulentwicklung treiben Forschende gemeinsam mit Lehrkräften, Schulleitungen, Politik und Verwaltung Fragen von Demokratiebildung über Künstliche Intelligenz hin zu zukunftsfähiger Schulleitung an. In der Leuphana Innovation Community Kunst und Kultur tauschen sich auf lokaler Ebene Kultureinrichtungen über aktuelle Fragestellungen aus. Auf internationaler Ebene bringt die Community renommierte Kunstmuseen zusammen, die – wissenschaftlich begleitet – über Fragen der Nachhaltigkeit, der Digitalisierung oder Diversität sprechen.
Ziel ist es, langfristige Formate zu entwickeln, die wissenschaftliche Erkenntnisse und praktische Fragestellungen näher zusammenbringen, um so den Wissenstransfer lokal, regional und international zu stärken. Gefördert wird das Projekt im Rahmen der Bund-Länder-Initiative „Innovative Hochschule“ vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt zusammen mit der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK).







