Was wäre, wenn…:
Szenarien der Zelltherapie digital durchgespielt
Ulrike Weirauch, Christoph Kämpf, Kristin Reiche, Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie IZI

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Kurz und Bündig
Virtuelle Zwillinge kombinieren digitale Abbilder verschiedener biologischer Systeme eines Menschen. In der CAR-T-Zelltherapie bieten sie personalisierte Entscheidungsunterstützung, um Therapieeffekte besser vorherzusagen und Nebenwirkungen zu minimieren. Dafür sind umfassende Daten und präzise Modellierungen notwendig, die auch die einzigartigen Eigenschaften von Zelltherapien und ihr komplexes Zusammenspiel mit der Patient:innenphysiologe einbeziehen.
Zelltherapien können heilen – oder versagen. Was wäre, wenn sich dieser Effekt im Vorfeld simulieren ließe? Virtuelle Zwillinge könnten helfen, komplexe Zellinteraktionen im Körper digital abzubilden und daraus konkrete Entscheidungen abzuleiten. Wie realistisch ist das – und was braucht es, damit diese Modelle in der Therapie wirklich ankommen?
Adoptive zelluläre Immuntherapien eröffnen neue Möglichkeiten für die Behandlung von Krebs sowie anderer Erkrankungen [1]. Ein bekanntes Beispiel hierfür sind T-Zellen, die mit sogenannten chimären Antigenrezeptoren (CARs) ausgestattet werden. Adoptiv bedeutet dabei, dass körpereigene oder fremde Immunzellen außerhalb des Körpers modifiziert und dann wieder in den Körper eingebracht werden. CAR-T-Zellen sind aktuell die am häufigsten eingesetzte Form der adoptiven zellulären Immuntherapie in der klinischen Praxis. Bei der CAR-T-Zelltherapie werden spezielle künstliche Antigenrezeptoren (CARs) in T-Zellen eingebracht. Diese T-Zellen stammen entweder von den Patient:innen selbst (autologe T-Zellen) oder von passenden Spender:innen (allogene T-Zellen). CARs erkennen gezielt ein Oberflächenmerkmal auf einer Tumorzelle, werden dadurch aktiviert und zerstören die Tumorzelle. Derzeit sind sechs autologe CAR- T-Zelltherapien in der EU zugelassen.
Die CAR-T-Zelltherapie ermöglicht Patient:innen langanhaltende Remissionen. Allerdings sprechen nicht alle Patient:innen gleich gut auf die Behandlung an [2]. Virtuelle Zwillinge (VTs) könnten helfen, das individuell passende CAR-T-Zellprodukt auszuwählen und so die Wirkung zu verbessern und Nebenwirkungen zu verringern. Dies kann Therapiekosten senken und knappe Herstellungskapazitäten für CAR-T-Zellen optimieren.
Wir definieren Virtuelle Zwillinge im Gesundheitswesen als eine Kombination mehrerer patient:innenindividueller Digitaler Zwillinge (DTs). Ein DT für ein einzelnes Organ ist dessen digitales Abbild, welches kontinuierlich mit patient:innenindividuellen Daten über den Zustand des Organs aktualisiert wird [3]. So können zum Beispiel vor einem chirurgischen Eingriff am Herz patient:innenindividuelle Eigenschaften des Herzens simuliert werden. Es gibt erste Ansätze für DTs für weitere biologische Systeme, wie einzelne Zellen oder Gewebe.
Ein Digitaler Zwilling besteht aus (i) einem digitalen Modell eines biologischen Systems, (ii) Daten zu dessen Veränderung und (iii) Methoden zur laufenden Aktualisierung des digitalen Modells. Werden mindestens zwei Digitale Zwillinge verschiedener biologischer Systeme einer Person zu einem digitalen Modell zusammengefasst, um Wechselwirkungen zwischen diesen zu simulieren, sprechen wir von einem Virtuellen Zwilling (VT).
Virtuelle Zwillinge für adoptive zelluläre Immuntherapien
VTs eignen sich für die Modellierung patient:innenindividueller Verläufe in adoptiven zellulären Immuntherapien. Im Kontrast zu konventionellen Therapien wird bei adoptiven zellulären Immuntherapien ein Zelltherapeutikum, zum Beispiel CAR-T-Zellen, also ein biologisches System, verabreicht. Die Interaktion der CAR-T-Zellen mit Tumorzellen kann nur mittels der Kombination mehrerer DTs simuliert werden.
Im Fall von CAR-T-Zelltherapien können VTs das Zusammenspiel des Zelltherapeutikums, also den modifizierten T-Zellen der Patient:innen, den Tumorzellen, aber auch Zellen in anderen Organen der Behandelten simulieren. VTs, angepasst an die Besonderheiten von adoptiven zellulären Immuntherapien, können bei Krankheitsprävention, Diagnose, Behandlungsentscheidungen oder Nachsorge unterstützen. Zudem haben sie das Potenzial, die präklinische und klinische Forschung zu unterstützen, und so die Entwicklung neuer adoptiver zellulärer Immuntherapien zu beschleunigen.
Dafür ist zum einen ein kontinuierlicher Abgleich des digitalen Modells mit dem Status des realen biologischen Systems mittels Daten nötig und zum anderen braucht es In silico-Methoden, die diese Daten nutzen, um patient:innenindividuelle Vorhersagen herzuleiten. Im Folgenden gehen wir auf beide wichtigen Komponenten eines VTs, Daten und Methoden, hinsichtlich des Einsatzes des VTs bei adoptiven zellulären Immuntherapien ein.
Anforderungen an die Datenerfassung
Bei CAR-T-Zelltherapien müssen Daten verschiedener beteiligter Stellen zugänglich gemacht und im VT zusammengeführt werden. Im Vergleich zu konventionellen Therapien sind ab dem Zeitpunkt der Entscheidung, dass Betroffene für eine CAR-T-Zelltherapie in Frage kommen, mehrere Akteure über mehrere Wochen sowie in der Nachsorge über Monate oder Jahre hinweg involviert, wie in Abbildung 1 schematisch dargestellt. Betroffene werden als für die CAR-T-Zelltherapie geeignet identifiziert, ihnen werden in einer dafür zugelassenen Klinik T-Zellen entnommen sowie eine Überbrückungstherapie verabreicht (Vorbereitung).
Aus den entnommenen T-Zellen werden CAR-T-Zellen in dafür ausgewiesenen Herstellungsstätten erzeugt, der Klinik überstellt und den Betroffenen verabreicht (Herstellung und Verabreichung). Nach der Infusion der CAR-T-Zellen unterliegen die Betroffenen über mehrere Wochen einer engmaschigen Nachsorge, bevor sie in die Langzeitnachsorge überführt werden (Nachsorge).
Jede dieser Phasen erfordert eine strukturierte und zeitnahe Erfassung relevanter Datenpunkte, um Therapieentscheidungen zu unterstützen und mögliche Komplikationen frühzeitig zu erkennen. Eine verzögerte oder fragmentierte Dokumentation kann den Therapieerfolg und die Patientensicherheit erheblich beeinträchtigen.
Ein solch komplexer Ablauf erhöht die technischen sowie regulatorischen Anforderungen an VTs für adoptive zelluläre Immuntherapien im Vergleich zu konventionellen Therapien erheblich. Zudem werden Wirksamkeit und eventuelle Nebenwirkungen von CAR-T-Zellen von (molekular)biologischen Faktoren auf der Ebene von Zellen, ihrem Zusammenspiel im Gewebe, ihrem Einfluss auf Organe sowie den gesamten Körper beeinflusst.
Die Modellierung des Wirkens von CAR-T-Zellen erfordert demnach neben longitudinalen niedrigdimensionalen Laborwerten und klinischen Verlaufsdaten einschließlich sozioökonomischem Hintergrund auch hochdimensionale Daten, sogenannte Multi-Omics-Daten.
Diese können auf Einzelzellniveau erstellt werden, um die Aktivierung, Expansion oder Erschöpfung von T-Zellen zu messen [4]. Elektronische Gesundheitsakten sowie Bildgebungs- und Sensordaten liefern Informationen über CAR-T-Zell-Expansion, das Ansprechen auf die Behandlung und mögliche Nebenwirkungen. Durchflusszytometrie misst die Anzahl von CAR-T-Zellen im Blut; Bildgebung erfasst das Tumorvolumen.

Anforderungen an In silico-Modelle
Damit ein VT vor, während sowie nach erfolgter CAR-T-Zelltherapie relevante Vorhersagen treffen kann, muss er In silico-Modelle über mehrere biologische Betrachtungsebenen hinweg integrieren [5]. Intrazelluläre sowie interzelluläre molekularbiologische Prozesse in CAR-T-Zellen sowie Tumorzellen (den Zielzellen) und deren Interaktionen untereinander sind unter anderem mit mechanistischen Modellen oder Differentialgleichungen simulierbar. Neueste Ansätze nutzen Deep Learning, um Zellzustände zu ermitteln [6] oder deren Änderungen vorherzusagen [7].
Die Generalisierbarkeit der datengetriebenen Modelle, wie Deep-Learning-Modelle für biologische Zellen, hängt von den für das Training zur Verfügung stehenden Daten ab. Innovationen in den biotechnologischen Methoden, um den molekularbiologischen Zustand von einzelnen Zellen in Hochdurchsatzverfahren zu charakterisieren, wirken sich positiv auf die In silico-Zellmodelle sowie deren Anwendung in VTs für CAR-T-Zelltherapien aus. Computergestützte Strukturbiologie ermöglicht es, zudem patient:innenindividuelle genetische Informationen bei der Vorhersage von Proteinstrukturen zu berücksichtigen [8].
CAR-T-Zelltherapien wirken nicht nur auf ihre Zielzellen, sondern auf den gesamten Körper. Der Zytokinsturm ist eine Nebenwirkung, die zu systemischer Entzündung führt. Das Monitoring von Vitalparametern mittels Wearables ermöglicht die Früherkennung eines Zytokinsturms basierend auf multimodalem maschinellem Lernen [9].
Generative KI-Modelle, trainiert an retrospektiven Daten, können für die Erzeugung von synthetischen Daten genutzt werden, die wiederum für eine verbesserte Planung klinischer Studien einsetzbar sind. Bei der Implementierung der In silico-Modelle des VTs muss konsequent auf Interoperabilität auf allen vier Ebenen (technisch, syntaktisch, semantisch, prozessual) geachtet werden, um einen Austausch von Daten und Parametern über den gesamten Patient:innenpfad, inklusive des CAR-T-Zell-Herstellungsprozesses, zu gewährleisten.
Akzeptanz und Glaubwürdigkeit von VTs für CAR-T-Zelltherapien
Ein VT verarbeitet laufend individuelle Gesundheitsdaten, um Modelle zu aktualisieren und fundierte Therapieempfehlungen zu ermöglichen. Dieser bidirektionale Austausch unterliegt Unsicherheiten, die die Glaubwürdigkeit, also das Vertrauen in „die Vorhersagefähigkeit“ eines VTs, beeinflussen. Vertrauen in den VT wird erhöht, wenn europäische Regularien (a) zur Entwicklung von Medizinproduktesoftware [10], (b) für Arzneimittel für neuartige Therapien [11], (c) für KI [12] und (d) für Datenschutz [13] strikt als Grundlage für dessen Entwicklung und Anwendung herangezogen werden.
Darüber hinaus sollte Transparenz über die Herkunft, Qualität und Aktualität der verarbeiteten Daten geschaffen werden, um die Akzeptanz bei klinischen Anwenderinnen und Anwendern zu steigern. Ein kontinuierliches Monitoring und die Validierung der Modellleistung im praktischen Einsatz sind entscheidend, um das Vertrauen langfristig aufrechtzuerhalten.
Der Prozess zur Entwicklung von Medizinprodukte-Software (IEC 62304) sollte demnach genutzt werden [14]. Die Nutzenden des VTs sind zudem in die Analyse der technischen, medizinischen, ethischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Anforderungen einzubeziehen (Co-creation). Dabei muss insbesondere der Umgang mit sensitiven Daten gemäß den gesetzlichen Vorgaben garantiert sein.
Schlussfolgerung und Ausblick
VTs für die CAR-T-Zelltherapie unterstützen das Fachpersonal in Forschung, Herstellung und Behandlung dabei, die Therapie individuell anzupassen und das Verständnis von erkrankten Personen für ihre Situation zu verbessern. Dafür müssen sie multimodale Einzelzell- und klinische Verlaufsdaten über längere Zeiträume sowie über verschiedene Akteure hinweg integrieren, was konsequente Interoperabilität im gesamten Prozess erfordert. VTs könnten künftig die individuelle Pathophysiologie simulieren und mithilfe synthetischer Patient:innendaten In silico-Studien effizienter und präziser gestalten. Obwohl die Entwicklung noch am Anfang steht, bieten VTs großes Potenzial zur Verbesserung der personalisierten Medizin in der adoptiven zellulären Immuntherapie.